Stimmt nicht es
war nicht bloss ein Waggon, es war ein
ganzer Sonderzug, und versiegelt war auch
nichts!
Was
will uns denn dieser Junge erzählen? Und
wie kommt er in den Zug?
Nun, ich habe mich eingeschlichen
wie seinerzeit im
Eisenbahnbetriebswerk zu Rastatt,
während der Osterferien im Frühjahr
1917.
Und
Sie sind
?
Mein Name ist: Emil Belzner.
...
29
Wir Gymnasiasten waren Cäsars und der
Geschichte überdrüssig. Und darum froh,
daß die Ferien verlängert wurden und
wir noch eine weitere Woche Hilfsdienst
auf dem Perron, in der
Verpflegungsbaracke des Roten Kreuzes, im
Verwundeten-Wartesaal oder bei der
Eisenbahn selber machen durften. Alle
guten Lehramtspraktikanten und jüngeren
Professoren waren eingezogen. Wir wurden
von Greisen unterrichtet, die voll
patriotischer Lust aus dem Pensions- und
Ruhestand auf das Katheder zurückgekehrt
waren, oder von begeisterten
Militärdienst-Untauglichen ...
Auf dem Feld der Ehre waren seit
Kriegsbeginn schon zahlreiche Primaner
gefallen, die sich freiwillig gemeldet
hatten. Keiner durfte beim Abitur
durchfallen, der rechtzeitig vorher sich
verpflichtet hatte, er würde sofort nach
bestandener Reifeprüfung sich freiwillig
melden.
Um zu fallen ...
Nun,
junger Mann, Sie haben überlebt, um der
Nachwelt eine Fussnote der Geschichte
aufzuschreiben, ein Buch über Liebe,
Macht und Revolution, in dem sich Bericht
und Beschwörung, Phantasie und Reflexion
auf verblüffende Weise verbinden. So
urteilte die Baseler National-Zeitung,
und Sie schrieben im Vorwort
29
... Der Weltseele zu begegnen, die
vielleicht ein Wunschbild der vielen
mechanischen Gottheiten ist, die das
Universum unsicher machen und unser
Schicksal in Abhängigkeit von Zufällen
halten, mag vermessen und lächerlich
erscheinen. Aber es kann einem passieren;
selbst einem gleichgültigen Passanten
der Zeit.
Man kann der Weltseele an heroischen oder
gemütlichen Plätzen begegnen, auf dem
Schlachtfeld oder vor dem Schwarzen
Bären zu Jena. Ich bin ihr
unvorbereitet in einem ramponierten
Salonwagen begegnet ...
Ja, das schrieb ich über das
Frühjahr 1917 oder wie es im
Hundertjährigen Bauernkalender heisst:
April, April, der macht, was er will
...
29
Ich war dem Eisenbahnbetriebswerk Rastatt
als Hilfsfreiwilliger zugeteilt, wo ich
schon mehrfach Feriendienst an
Kohlenbunkern und Wasserkranen für die
Lokomotiven gemacht hatte. Aber auch das
Klopfen mit dem langstieligen Hämmerchen
an den Achslagern der Waggons (am Ton
hörte man es, ob sie sich heißgelaufen
hatten) war mir vertraut, ebenso konnte
ich Ziehharmonikabälge koppeln und die
Plattformteller zwischen den
Wagendurchgängen richtig werfen, daß
sie im Drehpunkt exakt aufeinanderlagen.
Und selbstverständlich kunstgerecht von
dem anfahrenden Zug abspringen. Das
Wichtigste: wir hatten Vierkantschlüssel
für alle Wagen und Abteile, eine
schirmlose Eisenbahnermütze und einen
Bremser- oder Rangiererkittel. Sperren
und Barrieren gab es für uns nicht. Bei
Nacht hatten wir windgesicherte ehemalige
Ölfunzeln umhängen, in denen in diesen
Kriegstagen schon sogenannte
Hindenburg-Lichter aufs
dürftigste brannten. Klassenbuch und
Turnhalle des Großherzoglichen
Gymnasiums waren versunken und vergessen.
Jetzt waren wir wieder bei der
Großherzoglichen Eisenbahn. Komme, was
da wolle. Und es kam.
Gegen Mittag, hieß es, träfe aus der
Schweiz via Konstanz, Singen,
Offenburg ein Zug mit entflohenen
sibirischen Sträflingen ein, die nach
Rußland zurückwollten. Auch die weitere
Reisestrecke wurde genannt: Frankfurt,
Berlin, Saßnitzer Fähre, Trelleborg,
Stockholm, Petrograd. Der russische Zar
war gestürzt, der bürgerliche
Revolutionär Kerenski an der Macht. So
stand es in den Zeitungen. Extrablätter
berichteten, daß Kerenski den Krieg
weiterführen wolle. Was die ehemaligen
sibirischen Sträflinge sollten, war
unbekannt. Der Zug kam mit Verspätung.
Ein Lazarettzug mußte durchgelassen
werden. Der Sonderzug irgendeines
Kronprinzen oder Erbprinzen war bereits
auf dem Ötigheimer Gleis abgestellt. Auf
dieses Gleis, das eine wenig befahrene
Strecke versorgte, wurde auch der
Schweizer Sonderzug geschoben. Adjutanten
aus dem Prinzenzug sprangen
gestikulierend und schreiend zwischen den
Schottern umher. Es half nichts. Auch
eilige Truppentransporter hatten Vorrang.
Und für die Schweizer Kombination galt:
besondere Dringlichkeit, über allen
anderen Dringlichkeitsstufen.
Allerhöchster Befehl, gezeichnet von
Ludendorff, vom Feldeisenbahnchef, vom
Reichskanzler und vom Kaiser. Nun, die
mußten ja wissen, was es auf sich hatte.
Ein Sträflingszug und ein Hofzug in
Richtung der gleichen Nebenstrecke
abgestellt, wie sonderbar. Bei den
Schweizern mußte ein Schaden behoben
werden. Sie verloren am Küchen- und
Heizungswagen Wasser. Schlimm für
Teetrinker. Außerdem schwelte eine
Achse. Spezialarbeiter reparierten von
außen und rückten wieder ab.
Das war nun unsere, das heißt meine
Stunde, mein Augenblick. Ich gab einem
Karlsruher Gewerbeschüler, der
gleichfalls Hilfsdienst machte, jetzt
aber zur Kantine mußte, meine leere
Schmierkanne mit und ging mit meinem
langstieligen Achs-Hämmerchen zu den
sibirischen Sträflingen hinüber. Die
mußte ich sehen. Entflohene sibirische
Sträflinge, das war etwas
Ungeheuerliches für einen
Sechzehnjährigen, die Phantasie
Erregendes wie Neger, Indianer oder
australische Eingeborene. An dem einen
Wagen waren die Vorhänge zugezogen.
Hinter den Vorhängen ging es offenbar
lebhaft zu. Stimmen, Gelächter, Krach,
Befehle, so schien es. Ich klopfte mit
dem langen Holzstiel des Hämmerchens an
ein Fenster in der Mitte des Wagens.
Sofort wurde der Vorhang halb
auseinandergezogen. Ein ganz fernes
Dämonengesicht, nicht ohne Güte und
Sorge, ein mächtiger fremdartiger
Schädel blickte auf mich nieder, erst
ärgerlich, dann ungeduldig, lächelte
kurz und riß den Vorhang wieder zu.
Alles dieses ganz energisch, sowohl der
Ärger wie das Lächeln. Nebelschauer
sprühten. Es war wie eine verregnete
Szene aus der Stummfilmzeit ...
Aber unser Eisenbahner-Stummfilm blieb
nicht stumm. Ich sprang kurzerhand auf
das Trittbrett des Waggons mit den
geschlossenen Vorhängen, der übrigens
nicht plombiert, sondern nur
abgeschlossen war. Ich öffnete die Tür
mit dem Vierkantschlüssel und schlug
sie, sobald ich drinnen war, hinter mir
zu. Da hatte mich auch schon ein
baumstarker Koch, der mich aus dem
anhängenden Heiz-, Küchen- und
Wasserwagen beobachtet hatte, am Wickel.
Er nahm mir das Hämmerchen ab, polterte
einen alemannischen Fluch heraus, schloß
die Tür mit seinem Vierkantschlüssel
ab, holte ein Bleisiegel und eine
Plombierzange aus der Joppe und
plombierte die Wagentür von innen ...
Und
jetzt wollen Sie uns erzählen, wie der
mächtige fremdartige
Schädel sich als der des
historischen Anführers der vorgeblich
sibirischen Ex-Sträflingsgruppe
entpuppt, nicht wahr
brütend
über revolutionären Strategien am Ziele
des geheimnisvollen Zuges?
Nun, wir blättern ein wenig weiter in
Ihren Erinnerungen und stellen vergnügt
fest, der alte Emil Belzner war als
junger Emil Belzner noch von einer ganz
anderen Person in diesem Zug fasziniert.
Im April 1917 reiste Lenin in Begleitung
seiner Freundin Inès Armand, und schon
auf Seite 12 erhalten Sie von dieser
einen Apfel und einen Kuss
tiefere
Einblicke gewährt die schöne Frau dem
pubertierenden Schüler auf Seite 17 ...
aber bitte fahren Sie doch mit Ihren
eigenen Worten fort.
29
Sie glich einer wirklichen Muse, einer
unverheirateten Muse, an deren Brust man
liegt, in deren Schoss man liegt, die
einen austrägt und beherbergt und die
dann unversehens sagt: Nun spring
mal, Kleiner! Und ohne sich an
einem Griff oder sonstwo festhalten zu
können, ist man dann mitten im Leben,
viel weiter als die Jahre besagen. Nicht
einmal ganz 16 waren es in jenem April.
Und doch hätte ich sagen können, ich
sei auf den Zug als mutwilliger Knabe
gesprungen und während der Fahrt um ein
Jahrhundert in mir selber weitergekommen.
Es gibt Riesengeschwindigkeiten in
wenigen Augenblicken. Hätte ich ihre
bloße Brust gesehen, ich hätte in jenen
inspirativen Momenten wahrscheinlich die
ganze Sachlage der Welt und den
Schöpfungsprozeß der Menschen
überblickt nicht nur wie er
gemacht wird, sondern auch: was er machen
wird ...
Was
hören wir? Revolutionäre Verzückung?
29
... Ungeheuer war die Lust, die sie
erweckte, ich wußte damals nicht gleich,
zu wem sie gehörte. Sie war für einen
Gymnasiasten eine richtige Muse, ganz
irdisch und ganz himmlisch, Tochter des
Zeus und der Erde, voller Erinnerungen an
Gewesenes und Zukünftiges für jeden.
Auch die Zukünftigkeiten sind
Erinnerungen an Wünsche, die wir hatten.
Ich wußte damals viel mehr, als ich
heute weiß. Und als sie sich jetzt an
mir vorüberbeugte und ich eine
schneeweißbläuliche Spur von Halbkugeln
sah, hätte ich ihr am liebsten die
Kleider vom Leib gerissen, so erregt war
ich und so wenig bedacht auf die
Umgebung. Das Rattern des Zuges klang wie
Beschwörungsformeln. Siehst du
nicht, wo es ist? fragte sie.
Ja, ich sehe es bis in die
Mitte. Ai! Ich
habe diesen märchenhaften Tierlaut nie
wieder gehört. Dann behalte
es, sagte sie. Was
macht ihr denn da? fragte die
Duma-Haushälterin. Ich
hatte ein Kämmchen aus dem Haar
verloren, Verehrteste. Sie streifte
an mir vorbei und setzte sich wieder
neben mich: Und der Emiljewitsch
hats gefunden. Dann band sie
die Bluse, nachsichtig mit sich selber,
leichthin zu.
Die
Duma-Haushälterin! Duma, das
war der Rat der Volksvertreter im
revolutionären Umbruch Russlands. Wir
erfahren von Ihnen, Emil Belzner, nur
indirekt, daß es sich bei der
hausbackenen, aber politisch gewieften
Dame im Zug um die Krupskaja, die Ehefrau
Lenins handelte
29
Er neigte sich zu der Älteren über dem
Duma-Haushaltsbuch: Ich glaube, die
Schweiz war die letzte gute Lehre, der
letzte revolutionäre Pfiff, den wir
bekommen haben diese
profitierenden Nichtkriegführenden,
diese Auserwählten des Kapitals!
Sie wischte ihm mit einem Tüchlein den
wunderbar geformten Schädel ab, mit
einem Tüchlein Zärtlichkeit, nicht mit
der Hand. Und er tat einen Blick auf ihre
Haushaltsliste und sagte zufrieden:
Je mehr Provokateure, desto besser;
je mehr Abgemeldete, desto sicherer: Wir
können es nur mit den Wenigen schaffen,
bei denen Wort und Tat zusammenfallen.
Diese Wenigen sind für uns die
siegreiche Mehrheit. Dabei nicht an
Worten kleben, dabei nicht an Taten
kleben; die Macht ist eine bewegliche
Wahrheit. Gut, daß du auch noch die
Zurückgebliebenen, die erst später
Einreisenden durchkontrolliert hast. Ja,
Malinowski lese ich da,
Roman Malinowski. Bei
Malinowski bin ich unsicher. Malinowski
könnte ein Schurke und Spitzel der
Dritten Abteilung des Zaren gewesen sein.
Ein Ochrana-Einschiebsel in unsere
Partei. Wenn ihn das Heimweh treibt, wenn
er zurückkehrt, und wenn er erschossen
wird, erschießt man auch ein Stück von
mir, denn ich habe ihm vertraut. Er ist
ein glänzender Schachspieler. Er hat
mich in Maxim Gorkis Garten auf Capri an
einem steinernen Tisch an einem
Nachmittag zweimal geschlagen. Aber wenn
er weg muß, muß er weg, sobald wir
Gericht halten können.
Gericht halten können,
sprach jetzt ein Mann, der sich durch die
Kurven und Stöße des Zuges
heranarbeitete, ein Mann mit dicken,
schweren Brillengläsern und einem
Backenbart, der um das Kinn herumlief,
ein Mann, der aussah wie die sogenannten
Existentialisten ein halbes Jahrhundert
später bei uns ausgesehen haben. Ein
Mann, der Radek-Sobelsohn war und eine
zerknüllte Ausgabe des Petit
Parisien aus der Tasche zog:
Sobald wir Gericht halten können,
müssen wir unsere Reihen säubern,
lichten. Wie es um Trotzki steht, weiß
ich nicht. Er befindet sich im Augenblick
wohl noch in Amerika. Das ist ohnehin ein
Fall für später, dem man eine
Bewährungsfrist zubilligen muß. Er
versteht etwas von Waffen und
Armee-Organisation. Er wird
wahrscheinlich unentbehrlich sein, ein
Ikarus, der unseren Revolutionswagen in
die Nähe der Sonne und auf eine Bahn um
die Erde bringt und dann sich
löst und abstürzt. Ich bin seines
Stammes und ahne etwas von dieser
Tragödie. ...
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