ratatazong ratatazong
ratatazong ...
Meine Damen und Herren, liebe
Zugreisende, aus gegebenem Anlass rollt
der TAZARA-Express gerade über ein Gleis
in Deutschland und in diesen Minuten in
einen der ersten Kopfbahnhöfe, die es in
Europa gab. Wenn Sie jetzt durch die
Fenster schauen, was sehen Sie da?
ratatazong ratatazong zong!
Hoffentlich nicht wieder Viehwaggons,
sage ich!
Wo sind wir denn jetzt gelandet? Ein
Bahnhof in einer Stadt mit einem Löwen
im Wappen!
Wir
Eisenbahn-Fans wissen
Bescheid: Ältester Bahnhofsbau in
Deutschland, errichtet 1845 im
klassizistischen Stil durch den gleichen
Architekten, der bloss sieben Jahre zuvor
den ersten deutschen Bahnhof überhaupt
an gleicher Stelle gebaut hatte, in
neogotischem Stil. Musste abgerissen
werden, niemand hatte mit einem so hohen
Verkehrsaufkommen gerechnet.
Was steht da auf dem Schild?
BRAUNSCHWEIG
Willkommen in der Stadt an der
Oker in Niedersachsen!
Braunschweigs
Löwe ist die älteste erhaltene
Großplastik des Mittelalters nördlich
der Alpen, schon auf der Ebstorfer
Weltkarte aus der Zeit um das Jahr 1300
ist er zu sehen.
Wie nicht anders zu erwarten, ist das
Bronzetier Zeichen für Hoheit und
Gerichtsbarkeit. Heinrich der Löwe,
Herzog von Bayern und Sachsen, liess es
1166 aufstellen, hatte wahrscheinlich den
Markuslöwen in Venedig gesehen, als er
mit Barbarossa an einem seiner
Italienfeldzüge teilnahm.
Aber nicht deshalb sind wir hier
wir wollen einen Bekannten wiedertreffen!
Auf der Zeitschiene haben wir den 16.
Juli 1890 erreicht. Auch der neue Bahnhof
des Braunschweigischen Hofbaurates Carl
Theodor Ottmer platzt aus allen Nähten.
In der Bahnhofshalle gibt es inzwischen
mehr Gleise, aber an diesem Sommertag ist
das Gedränge besonders heftig. Per
Sonderzug sind dreissig Eisenbahnwagen
mit der ungewöhnlichsten Fracht
angekommen, die der Braunschweiger Löwe
je gesehen hat.
Wir übergeben an den Spezialisten für
dieses mobile Genre, an unseren
Zugregisseur bitte, Herr André
Dunkler
Was wäre der internationale Zirkus
ohne Eisenbahn? ...
Ich habe mich ja auch schon erkundigt,
was es kosten wird, meinen Afrika-Zirkus
durch Europa zu transportieren.
Bitte, Herr Dunkler, Mittwoch,
16. Juli 1890, Bahnhof Braunschweig
?
Nun, da drüben stehen nur noch
leere Eisenbahnwaggons. Aber Plakate auf
den Waggontüren zeigen in einem Kranz
von Indianer-Porträts das Profil eines
Präriereiters mit Trapperhut und
Knebelbart sowie das Thema seiner Show:
BUFFALO BILLS WILD
WEST
Der Tross
ist schon zum Leonardplatz gezogen
Hunderte von Indianern, Cowboys, Pferde,
Büffel ...
Der Braunschweiger Stadtanzeiger meldet,
für heute seien 13.634 Karten verkauft,
für morgen 15.937 18.316 für den
18. Juli 18.536 für den 19. Juli
17.743 für den 20. Juli und
12.000 für den 21. Juli. Wir reden über
fast hunderttausend Besucher in sechs
Tagen! Die Massen strömen.
Alle Züge bringen hunderte von Menschen
aus der Umgebung nach der Residenz. Die
städtischen Verkehrsmittel, nach und von
dem Leonardplatze, genügen bei Weitem
nicht zur Beförderung der Menschenmenge.
Dabei steht der Auftritt in dieser Stadt
nicht unter einem guten Stern. Die
Zeitung hatte schon gestern vermeldet:
Ein Mitglied der Buffalo Bill-Kompagnie
hat das Unglück betroffen, vor Vechelde
aus dem Zuge zu stürzen und es sind ihm
beide Beine und ein Arm abgefahren.
Das Braunschweiger Unterhaltungsblatt
schreibt von einer völligen Zermalmung
und hat in Erfahrung gebracht, daß es
sich um einen Sioux-Indianer handelt.
Heute heisst es in der Todesnachricht:
Der Indianer, welcher gestern aus dem
Extrazuge fiel, ist seinen schweren
Verletzungen erlegen.
Lassen Sie bloss keinen
Afrikaner auf die Schienen fallen, Herr
Dunkler, sobald Sie beginnen, Ihre
Artisten durch Europa zu karren ...
Knebelbart William Frederick Cody alias
Buffalo Bill liess seinen Sioux-Indianer
unter grosser Anteilnahme der
Braunschweiger Bevölkerung auf dem
Zentralfriedhof begraben.
Wir erinnern uns: Ihr Animationskollege
war zuletzt im Jahr 1867 bei der
Bisonjagd gesichtet worden.
Wie kam er ins Show-Geschäft?
Von
1868 bis 1872 beschäftigte
ihn die U.S.-Armee als Kundschafter.
Und dann schlug das Schicksal in Gestalt
des New Yorker Journalisten Ned Buntline
zu. Der war auf der Suche nach
vermarktbaren Geschichten aus dem
wirklichen Leben, sozusagen ein früher
Erfinder des Dokusoap-Genre. Nach einer
Begegnung mit Cody begann er, in
Theaterstücken und Groschenheften
Buffalo-Bill zu verherrlichen
und zu glorifizieren, masslos
übertrieben, klischeehaft verklärt.
Cody, der sich 1872 bereits
Künstlergruppen angeschlossen hatte und
in den Stücken von Ned Buntline
aufgetreten war, erkannte seine
wirtschaftliche Chance, trennte sich von
Buntline und gründete 1883 seine eigene
Buffalo Bill's Wild West Show, die aber
dem unrealistischen Stil der
Veröffentlichungen von Net Buntline
nicht entkam.
Ein Zeitzeuge des
Stadtanzeigers in Braunschweig berichtet:
Wie ein Ungewitter war zu Anfang die
ganze Reitertruppe hervorgebrochen, hatte
die Arena ihrer ganzen Länge nach
durchsprengt und war dann vor der
Tribüne stehen geblieben, dem Zuschauer
Zeit lassend, das Gesamtbild zu
bewundern. Buntfarbige Gestalten mit
blauen Mänteln oder grünen
Umhüllungen, geringelte Malereien an
verschiedenen Körperteilen, einfache
Haartrachten in primitiven Knoten oder
hochaufstrebende Adlerflügel über dem
Haupte, die einen auf gesattelten
Pferden, die anderen auf ungesattelten
das Alles bot ein
farbenprächtiges, wildromantisches Bild.
Und dann kommt er endlich eingeritten,
der berühmte Büffeljäger
höchstselbst:
Buffalo Bill ist kein Jüngling mehr,
aber unter dem grauen Seidenhaare
leuchtet ein feuriger Blick ... Wie aus
Erz gegossen sitzt er auf seinem Pferde,
dessen heftigste Gangart ihm nicht die
kleinste unwillkürliche Bewegung
abnötigt; es ist, als ob Reiter und Roß
aus einem Stücke wären.
Der Rezensent staunt Bauklötze:
Das Schützenstückchen, vom
galoppierenden Pferde aus drei
gleichzeitig in die Luft geworfene Kugeln
mit blitzschnell einander folgenden
Schüssen zu zerschmettern, wird ihm kein
Kunstschütze nachmachen.
Auf die Kinder üben vor allem die
Indianer eine magische Anziehungskraft
aus.
Eine gewisse Scheu lässt die Kinder
indes nicht gar zu nahe an die Fremdlinge
herankommen. Und wenn sie sich hastig
umdrehen, so stiebt die kleine Schar weit
auseinander, notiert der Stadtanzeiger.
Die Zeltstadt sei ebenso schnell
verschwunden wie sie entstanden sei,
heisst es am 22. Juli. Und weiter:
Die Truppe ist sehr zufrieden mit ihrem
Aufenthalt in dieser Stadt; namentlich
wurde allseitig anerkannt, daß man
bisher einen so vorzüglichen Platz für
die Vorführungen wie den Leonhardplatz
nirgends gefunden hat.
Die Zeitung erkennt, daß Buffalo
Bill nicht nur gut ist fürs
Stadtmarketing, sondern auch Geld in die
Kassen spült:
Wenn man annimmt, daß die Gesellschaft
hier etwa 30 000 Mark ließ, daß von
fremden Besuchern hier mindestens 150 000
Mark ausgegeben sind, so ergiebt das ein
Sümmchen, das auch noch in einer
,Hunderttausendstadt zu Buche
schlägt.
Das Braunschweiger Unterhaltungsblatt
analysiert die Faszination:
Uns Deutschen ist der Wilde Westen
Amerikas nichts weniger als fremd.
Wer hat nicht seiner Zeit die Phantasie,
wenn nicht durch die Cooperschen
Romane so doch durch die
Gerstäckerschen Erzählungen in
Spannung versetzt! Daher der große
Andrang des schaulustigen Publikums.
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