Sie
sind ein hervorragender Stichwortgeber,
Mr, Rhodes, in diesem Fall für einen der
bekanntesten Gauner aller Zeiten, für
Mr. Ronald Arthur Biggs, später nur noch
Ronnie Biggs genannt
Seine Stunde schlug in der Nacht vom 7.
auf den 8. August 1963 gegen drei Uhr in
der Früh
tazara tazaaaaaara
tazaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa ... stoppp
Bitte,
schauen Sie alle hinaus, und werden Sie
Zeuge eines historischen Unternehmens!
Wir befinden uns in England, dreissig
Meilen nordwestlich von London, in der
Grafschaft Buckinghamshire. Genauer: am
Eisenbahn-Haltesignal Sears Crossing nahe
der Ortschaft Cheddington.
Wir beobachten die Szene von einem
Nebengleis
Für den Mann, der uns gleich von dem
Ereignis live berichten wird, beginnt zu
dieser Stunde die Wende in einem bislang
eher ereignislos verlaufenen Leben als
Familienvater und als Freizeit-Ganove
... Und seit drei
Stunden ist es mein
vierunddreißigster Geburtstag! Danke
für die Blumen!
Also, die Aufgabe meines Kumpels Roger
Cordrey ist es, auf die Galerie da oben
zu klettern. Sie reicht wie eine Brücke
über die Gleise. Diese Galerie sieht so
ähnlich aus wie die in dem Film
Ladykillers, kennen Sie?
Von einer Galerie wie dieser hier wird in
dem Film eine Leiche nach der anderen
entsorgt. ...
Wir
wollten eigentlich nicht noch in einen
anderen Film
Aber den muss doch jeder
Eisenbahn-Fan kennen! Der war doch erst
vor acht Jahren im Kino, was haben wir
gelacht!
Alec Guinness spielte
den Chef der Ladykillers, den Prof.
Marcus. Der plant einen Überfall auf
einen Geldtransport.
Als Ausgangsbasis mietet er sich bei der
gutmütigen Mrs. Wilberforce ein, ohne
von deren gutem Verhältnis zur
örtlichen Polizei zu wissen. In ihrem
Häuschen, gleich hinter der Bahn,
treffen sich die Mitglieder seiner Gang
regelmäßig, um ihren Plan weiter
auszuarbeiten. Die alte Lady lassen sie
in dem Glauben, sie seien ein
Kammerorchester, das sich zum Üben
trifft das Menuett von
Boccherini wird allerdings nur vom
Grammophon gespielt.
Der Überfall geht planmäßig über die
Bühne, die ahnungslose Mrs. Wilberforce
wird sogar unfreiwillige Helferin. Für
ihre Kammerorchester-Herren holt sie mit
tatkräftiger Unterstützung eines
Polizisten die Beute aus der
Gepäckaufbewahrung ab. Doch durch ein
kleines Missgeschick kommt sie den
Gangstern auf die Schliche. Sie ist
empört und verlangt die Rückgabe des
Geldes.
Klarer Fall für Prof. Marcus: Die
Mitwisserin muss umgehend beseitigt
werden. Das Problem dabei: Alle haben die
alte Lady ins Herz geschlossen. Nicht
einmal der eiskalte Louis mag sie
umbringen, so daß das Los entscheiden
muss. Doch dann kommt alles ganz anders.
Unter den Mitgliedern der Bande bricht
ein Streit um die Beute aus. Nacheinander
verunglücken alle Ganoven bei dem
Versuch, sich allein mit der Beute
davonzustehlen. Einer nach dem anderen
wird hinter dem Häuschen von Mrs.
Wilberforce von der Signal-Galerie auf
einen vorbeifahrenden Kohlezug geworfen.
Einzig Louis und Prof. Marcus verbleiben.
Zwischen ihnen entbrennt ein Kampf auf
Leben und Tod. Schliesslich muss auch
Louis durchaus unfreiwillig mit dem Zug
fahren, doch als der Professor ihm
befriedigt nachschaut, senkt sich auf der
Galerie das Signal und erschlägt ihn,
als Letzter stürzt er hinunter auf einen
davonrollenden Kohle-Waggon.
Mrs. Wilberforce, die nicht weiss, wohin
die Männer verschwunden sind, will als
ehrliche Haut die Beute an die Polizei
zurückgeben. Doch der Inspektor lehnt
die Rückgabe ab, da er der Geschichte
der leicht verschrobenen Lady keinen
Glauben schenkt. Somit ist am Schluss
Mrs. Wilberforce die Eigentümerin der
geraubten 60.000 Pfund.
Tränen haben wir gelacht. ...
Faszination
Bankraub mal als Thriller, mal als
Tragödie, mal als Kommödie!
Als Sie 1955 Tränen lachten, Mr. Biggs,
konnten Sie nicht ahnen, daß Sie und
Ihre Gang mit Ihrem Coup einmal die
Vorlage für drei Spielfilme liefern
würden. Für einen schrieben Sie sogar
das Drehbuch. Heute, am 8. August 1963
ahnen Sie es immer noch nicht.
Aber nun voran, Mr. Biggs, es ist gleich
drei Uhr!
Sie waren dabei, uns zu schildern, was
Ihr Kumpel Roger Cordrey da oben auf der
Signalgalerie vorhat ...
Also, er zieht
jetzt einen alten Handschuh
über die leuchtende grüne Lampe des
Bahnsignals. Dann legt er Strom aus einer
mitgebrachten Batterie an das rote Licht.
Auf diese Weise ist das Signal auf Rot
gestellt, ohne daß es im Stellwerk zu
einer Warnmeldung der Anlage kommen kann.
Etwa tausendvierhundert Meter weiter
nördlich hat John Daly auf ähnliche
Weise ein Vorsignal eingeschaltet, es
soll den Lokführer nun mit gelbem Licht
auf das bevorstehende Haltekommando
hinweisen.
Das alles sollte eigentlich bereits vor
vierundzwanzig Stunden passiert sein. Wir
waren alle schon in der Basis, einer Farm
in der Nähe, gekauft von unseren Bossen
mit dem Geld aus einem früheren
Bankraub. Aber dann hörten wir von
unseren Informanten, daß der Postzug
dieses Tages nur eine vergleichsweise
geringe Menge Geld an Bord hatte.
Heute nacht soll das anders sein.
Der Up Special-Postzug von Glasgow nach
London Euston Station hat um achtzehn Uhr
fünfzig den Bahnhof von Glasgow
verlassen. In Carstairs, achtundzwanzig
Meilen südlich von Glasgow, wurden
weitere Waggons angehängt. In Carlisle
wurde der Zug komplettiert. Weitere
Zwischenstopps erfolgten in Preston und
Warrington. Bei letzten Aufenthalten in
Tamworth und Rugby sollen weitere Post-
und Geldsäcke an Bord gekommen sein,
alle sind gestapelt im zweiten Waggon,
der von fünf Postbeamten begleitet wird,
und der von der Lok nur durch einen
unbesetzten Paketwagen getrennt ist.
Es ist jetzt drei Uhr fünf: Die
Diesellokomotive des Postzuges stoppt
direkt am Signal Sears Crossing, sehen
Sie? Doch warum steigt einer ab?
Lokführer Jack Mills hat einen Heizer an
Bord. Eine Diesellok braucht zwar keine
Heizer mehr, aber die Gewerkschaft hat
durchgesetzt, daß diese nach Abschaffung
des Dampflok-Betriebs nicht einfach
entlassen werden können. Sie heissen
jetzt Firemen.
Fireman David Whitby hat leider sehr gute
Augen, und er hat in der Ferne erkannt,
daß die Lampe am nächsten Signal wieder
grün leuchtet. Also klettert er aus der
Lok, um vom Streckentelefon aus am
nächsten Bahnhof in Cheddington
anzurufen. Doch wir lassen ihn nicht bis
zum Telefonkasten. Ein Mann im Overall
winkt ihn zu sich, und als er sich ihm
mit den Worten Was ist denn los,
Kollege? nähert, zwingen ihn zwei
weitere, maskierte Männer zu Boden.
Wenn Du schreist, bring ich Dich
um! zischt ihm einer der beiden zu.
Whitby reagiert instinktiv: OK, ich
bin auf Eurer Seite, sagt er.
Währenddessen stürmt bereits ein halbes
Dutzend Männer die Kabine der Lok. Jack
Mills leistet heftig Widerstand. Er
kriegt einen Schlag mit dem Knüppel auf
den Kopf und gibt auf.
Roy James und James Hussey haben zwischen
dem zweiten und dritten Waggon des Zuges
die Kupplung gelöst.
Ich hatte für das Unternehmen einen
pensionierter Lokführer angeheuert, der
nimmt jetzt Mills Platz im
Führerstand ein. Er versucht, die Lok in
Bewegung zu setzen. Doch sie rührt sich
nicht. Ich kann kein Vakuum
bekommen, sagt er immer wieder. Da
packt einer der anderen den halb
ohnmächtigen Mills und schiebt ihn
wieder auf den Fahrersitz. Setz den
Zug in Bewegung, oder wir verpassen Dir
noch mehr. Mills gehorcht und
langsam, ganz langsam setzt sich die Lok
mit den beiden verbliebenen Waggons in
Bewegung.
Die Verbindungsleitungen zwischen dem
zweiten und dritten Waggon reißen durch,
der verkleinerte Zug verschwindet in der
Nacht, ohne daß in den übrigen Waggons
irgendeiner von den über fünfzig
Postangestellten Verdacht schöpft, sie
sortieren weiter Briefe.
Wenn Sie sehen wollen, wie es weiter
geht, müssen Sie jetzt mit uns
mitrollen, etwa tausendzweihundert Meter
weiter.
Auf der Landstraße, die parallel zur
Bahnlinie verläuft, folgt der Lok mit
den beiden Waggons ein Landrover. In ihm
sitzt unser Anführer, Bruce Reynolds,
zusammen mit seinem Schwager John Daly.
An der Bridego Bridge, wo die Bahnlinie
die Landstraße überquert, muss Mills
die Lok anhalten.
Jetzt kommt Charlie Wilson ins Spiel, mit
sieben anderen stürmt er den Waggon
Nummer zwei. Mit Äxten und Spitzhacken
bahnen sie sich ihren Weg und
überwältigen die verängstigten
Postbeamten. Die müssen sich auf den
Boden legen. Dann wird mit einer Axt das
Schloss zum hinteren Teil des Waggons
aufgebrochen. Über hundertzwanzig
Postsäcke liegen dort.
Einer von uns schneidet zur Kontrolle
einen Sack auf und holt ein Bündel mit
Banknoten heraus. Wir sind am Ziel.
Eine Menschenkette wird geformt bis zur
Böschung der Eisenbahnbrücke. In
wenigen Minuten sind die Säcke aus dem
Waggon geschafft. Unter der Brücke
sammeln weitere Männer die Säcke auf
und laden sie auf zwei bereitstehende
Landrover und einen LKW.
Mills und Whitby liegen zu dieser Zeit
auf der Böschung und dürfen in
Begleitung von Robert Welch eine
Zigarette rauchen. Danach werden sie zu
den anderen in den Waggon gebracht.
Rührt euch nicht für die
nächsten 30 Minuten! ruft ihnen
einer von uns zu, dann verschwinden wir
in der Dunkelheit. Der ganze Überfall
hat kaum fünfzehn Minuten gedauert.
Ohne Licht fahren wir den Weg bis zur
Hauptstraße und schalten erst dann die
Beleuchtung an unseren drei Fahrzeugen
ein. Fünfundvierzig Minuten dauert es
bis zu unserem Versteck auf der
Leatherslade Farm in der Nähe von
Oakley, rund zwanzig Kilometer
nordöstlich von Oxford. Die ganze Zeit
über ist das Radio auf Polizeifunk
gestellt, doch es bleibt stumm.
Unterdessen haben die Überfallenen
natürlich versucht, die Polizei zu
verständigen. In Cheddington hat man
vermutlich auch längst Verdacht
geschöpft, doch wir haben die
Telefonleitungen an der Bahn vorsorglich
gekappt, ebenso die Telefonleitungen zu
den beiden einzigen Farmen in der Nähe.
Roy James war hierfür wieselflink auf
die Telefonmasten geklettert, so wie er
es zuvor als Juwelendieb an den Fassaden
der Hotels an der Riviera bewiesen hatte.
Um vier Uhr dreissig, genau in dem
Moment, als wir an der Leatherslade Farm
ankommen, erwacht der Polizeifunk zum
Leben. Ihr werdet es nicht glauben,
aber sie haben gerade einen Zug
geklaut! sagt ein Officer.
Erbeutet
aus der rollenden Postbank: exakt
2.631.784 Pfund. Das entspräche heute
einer Summe von rund 30 Millionen Pfund.
Also, ich behaupte ja, mit dem Geld
sind auch fünfzig ungeschliffene
Diamanten geraubt worden, mit denen drei
von uns entkommen sind. Die wurden
niemals gefasst.
Wir waren nicht fünfzehn, sonder
achtzehn. Muss man bloss nachrechnen:
Wieviel hatte ich bekommen? Runde 148.000
Pfund. Multipliziert man diesen Anteil
mit 18, kommt in etwa der Betrag der
Gesamtbeute heraus, stimmts?
Also,
was auf alle Fälle stimmt, Mr. Biggs,
ist die Tatsache, daß es sich für
keinen gelohnt hat. Sie waren bald alle
hinter Gittern.
Im Frühjahr 1964 mussten neun Verurteilte
volle drei Wochen warten, bis ihnen nach
dem Schuldspruch auch das Strafmaß
verkündet wurde. Im Vorfeld waren die
meisten Beobachter von etwa fünfzehn
Jahren ausgegangen. Doch Richter Davies,
bekannt für harte Strafen, statuierte
ein Exempel, wie schon seine Ansprache an
den ersten Verurteilten, Roger Cordrey,
vermuten liess
Sie sind der erste von elf
gierigen Männern, die die Hoffnung auf
schnellen Profit anlockte. Sie und Ihre
Mitangeklagten wurden der Beteiligung an
einem Verbrechen überführt, das in
seiner Dreistigkeit und Ungeheuerlichkeit
in diesem Jahrhundert ohne Beispiel ist.
Ich werde alles in meiner Macht stehende
dafür tun, daß es auch das letzte
bleibt ... Lassen sie uns die romantische
Verklärung als ein
Husarenstück beiseite
schieben: Das war nichts anderes als ein
schäbiges Gewaltverbrechen, getrieben
von maßloser Gier.
Na ja, Davies verurteilte Cordrey,
den einzigen von uns, der gestanden
hatte, zu zwanzig Jahren Haft.
Bill Boal erhielt vierundzwanzig Jahre.
Auch die Strohmänner für den Farmkauf
erwischte es deftig: Brian Field und sein
Namensvetter Leonard erhielten
fünfundzwanzig Jahre. Einzig John Denby
Wheater kam mit drei Jahren glimpflich
davon.
Keine Gnade gab es für uns
Hauptangeklagten, darunter mich. Wir alle
mussten für unglaubliche dreissig Jahre
hinter Gitter. Ganz England war
geschockt, die Nation gespalten
ich meine, für Kindermörder und
Vergewaltiger gab es weitaus geringere
Strafen ...
Die
erregte Diskussion über Davies
drakonisches Urteil hat Jahrzehnte
angehalten. Sie trug schließlich zu
einer Strafrechtsreform bei, in deren
Folge auch die verurteilten
Postzugräuber freikamen, die meisten
nach rund elf Jahren. Ironie der
Geschichte: Hätte Davies moderatere
Strafen verhängt, hätten Ihre Kollegen
vielleicht sogar länger im Gefängnis
sitzen müssen ...
Aber Sie hatten sich ja schon nach
fünfzehn Monaten abgesetzt
Zusammen mit drei
anderen fragen Sie mich
nicht, was uns das gekostet hat. Am
Anfang meiner Flucht stand ein
Möbelwagen mit einem Loch im Dach,
geparkt hinter der Mauer vom Gefängnis
in Wandsworth. Mit der Familie
gings nach Paris, falsche Papiere,
neues Gesicht, dann weiter nach
Australien. Bis 1974 lebten wir in der
Hibiskus Road, im Städtchen Blackburn,
nicht weit von Melbourne.
Und dann, die Fahnder auf den Fersen,
wieder weiter, diesmal ohne Familie, nach
Brasilien, nach Rio de Janeiro. ...
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