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In seiner Unterrichtsstunde im Coupé des
ramponierten Salonwagens hatte Lenin auch
über die Freiheitskriege gesprochen ...
Emiljewitsch
Emil Belzner, unser Schwarzfahrer!
Die Fahrt in die Revolution
hat Sie nicht losgelassen, was? Dem
russischen Aussenkommissar Tschitscherin
übergaben Sie nach eigenen
Angaben im Juni 1927 in
Baden-Baden auf sechzehn oder siebzehn
Seiten eine prägnante, ganz auf das
Authentische beschränkte Skizze Ihrer
Erlebnisse mit dem Express der
sibirischen Sträflinge im
Frühjahr 1917. Das Dokument verschwand
im Zensur-Apparat der Revolution. Vierzig
Jahre danach floss aus Ihrer Romanfeder
die Erzählung von der wunderlichen
Fahndung nach Inès Armand. Die
literarische Suche nach Ihrer
Revolutionsmuse endete für Sie als
blutjunger Kriegsdeserteur hinter der
Front beim ostpreussischen Tauroggen
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Auch jenseits der Grenze nur Deutsche,
ein paar Einheimische, einige Juden.
Trotzdem war es unverkennbar, daß ich
mich in einem fremden Land befand. Alles,
schon nach zwei Kilometern, ganz anders
als bei uns. Brüderlich gleich waren
sich die hier nur stärker vorhandenen
restlichen Zeugen der Zerstörung aus den
ersten Kriegswochen. Angekohlte Hütten,
schiefe Dächer, behelfsmäßig wieder
hergerichtete Wohnstätten und Ställe.
Keine Klage, nur unsagbare
Gleichgültigkeit. Und mittendrin der
pomadisierte Schneid der deutschen
Etappe, die Rahmabschöpfer der
Verpflegung, von der Fronttruppe tief
verachtet. Paß auf, mein
Junge! rief die Dame Lenin auf
ihrem Litauer Schimmel-Hengst hoch aus
den Lüften.
Tauroggen (1691-1793 preussisch) war kaum
halb so groß wie Bruchsal, aber es kam
mir damals riesenhaft vor. Ich weiß
nicht, warum. Die Truppen, Gespanne,
Proviantwagen allein konnten diesen
Eindruck nicht hervorrufen.
Wahrscheinlich war es eine Mischung von
Innehalten und Imstichgelassensein, die
mich ergriff und in mir eine Stimmung der
Verlorenheit erzeugte. Denn
Petersburg/Petrograd war noch weit ...
...Wir fahren zu keinen
futuristischen Freiheitskriegen,
hatte Lenin gesagt. Die
Freiheitskriege, zu denen wir fahren,
sind auch andere als die von 1813. In der
Poscherun-Mühle bei Tauroggen schlossen
der russische General Diebitsch und der
preussische General York am Ende des
Jahres 1812 die Konvention von Tauroggen,
durch die das preussische Hilfskorps
(für Napoleon) im russischen Feldzug
für neutral erklärt wurde. Militärisch
einleuchtend: Das preussische Hilfskorps
war von den Russen eingeschlossen.
Warum wurden aus den sogenannten
Freiheitskriegen keine
Freiheitskriege? Weil die gegen Napoleon
aufstehenden Volksmassen noch kein
genügend entwickeltes Bewußtsein
besaßen! Warum ist der revolutionäre
Volkskrieg der europäischen Völker in
einen reaktionären Kabinettskrieg
umgeschlagen? Weil noch keine
revolutionäre Partei an der Spitze der
Massenbewegung stand! Hätte man damals
schon die Kunst des Aufstandes
beherrscht, dann wären aus der
russischen und europäischen
Volkserhebung gegen Napoleon gleichzeitig
auch Volkserhebungen gegen die
Unterdrücker im eigenen Land geworden.
Aber wie es heute in Deutschland eine
kaiserliche Sozialdemokratie gibt, wie
die in ihren Anfängen doch so
entschlossenen Sozialdemokraten immer
mehr zu einem Nothelfer der Reaktion
gedeichselt werden wird
vermutlich, wahrscheinlich, ganz sicher,
haha, hmhm, hoho , so blieben die
sogenannten Freiheitskriege
in kaiserlich-königlich-herzoglichen
Freiheitskriegen gegen die
Napoleonische Machtkonkurrenz stecken.
Die Freiheit hätte gleichzeitig auch
frontal nach innen gesucht und erkämpft
werden müssen. Was nützten diese ganzen
Freiheitskriege? Einen
Pfifferling. Immer dasselbe: Unter der
Parole Freiheit wird für weitere
Knechtschaft, wird für die alten
Unterdrücker gekämpft ... Lassen Sie
mich jetzt in Ruhe mit futuristischen
Freiheits-Gedichten: Über
diese Idioten, die unwissend die
revolutionäre Kampfkraft zermürben,
über diesen Dekadenz-Abhub der
Bourgeosie freuen sich alle
Bankiers.
Genosse
Trotzki, Sie nicken eifrig! Den
Lenin-Worten stimmen Sie zu? Aber, geben
Sie acht, auf der Spur seiner
Revolutionsmuse scheint unser
Emiljewitsch die Weichenstellung entdeckt
zu haben, die Sie aus dem Gleis warf
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Wo war sie? Wo war sie jetzt, nachdem sie
die Telefonzentrale im Winterpalais
stillgelegt und dem monarchistischen
Hauptquartier den Petrograd-Moskauer
Lebensfaden abgeschnitten hatte? Sie
unterrichtete den Diplom-Theologen, den
Diakon, sie unterrichtete Koba-Sosso,
Josef Dschugaschwili, Stalin, den
Passionsspieler ...
Halt!
Viele Bezeichnungen für einen Mann! Sie
müssen uns aufklären über Ihr im
Revolutionszug gesammeltes Wissen.
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Es ist eine ziemlich unbekannte Episode
aus dem Leben des späteren Diktators
oder Roten Zaren, wie man
Josef Dschugaschwili summarisch genannt
hat. Eine Episode aus dem Leben des
Parteitheologen, der in Tiflis in
Wahrheit und mit Auszeichnung Theologie
studiert hatte, bevor ihm aus erbrochenen
kyrillischen Apokryphen des
Urchristentums, die er als Seminarist aus
der vergitterten Bibliothek des
Blauen Klosters mitlaufen
ließ, die Revolution über den Weg lief
und er Berufsrevolutionär wurde. Er
machte aus dem Kreuz einen Nachschlüssel
zu allen der Menschheit geraubten
Gütern.
Inès Armand hatte sich im Auftrag Lenins
eine Zeitlang um seine weitere Ausbildung
gekümmert. Ihn dann und wann auch in
vornehmen, einflußreichen Häusern, in
denen etwas zu erfahren war, als
Hauslehrer, Religionslehrer oder für
Nachhilfestunden untergebracht. Nicht
selten kam es vor, daß der als Pope
Verkleidete Gendarmen oder Kosaken, die
ihm auf der Straße begegneten und die
ihn suchten, segnete und ihnen aus seinem
Gebetbuch geweihte Heiligenbildchen
mitgab. Das war der Bändiger des
Sibirien-Expreß, der für den Untergrund
der Partei auch Geld-Transporte der
Banken umleitete ...
Inès Armand und Radek erzählten
abwechselnd die Komödie, die von dem
dämonischen Gelächter des
Wachend-Schlafenden begleitet wurde:
Ostern 1912. Der Zar und sein Hof
befanden sich auf der kaiserlichen
Besitzung Livadia an der Südküste der
Krim. Drei Kilometer von Jalta entfernt.
Koba, zwischen zwei Deportationen und im
christlichen Alter von dreiunddreißig
Jahren, war als Pope von
Jalta herübergekommen, um mit einer
Laienspielgruppe Szenen aus einem
überlieferten byzantinisch-griechischen
Mysterien-Drama, Geburt, Lehre,
Leiden und Auferstehung der
Erlösers, im großen Park von
Unter-Livadia vorzuführen ...
Höhepunkt des Nachmittags ... war die
Auferstehungsszene. Josef Dschugaschwili
schien in seine gläubige
Seminaristen-Zeit zurückgefallen. Wie
der allergeduldigste Leidtragende der
Welt stand er da. Nur als ihm einer der
Folterknechte die schlecht sitzende und
abrutschende Dornenkrone mit einem
Rohrstock fester aufs Haupt preßte und
ihm dabei eine Schramme ins linke Ohr
hieb, wandte er sich verzeihend um und
merkte sich das Gesicht des Folterknechts
genau. Es war ein kleiner Uhrmacher aus
Jalta: noch in der Nacht verschwanden aus
seinem Schaufenster sämtliche Auslagen.
Auf dem kaiserlichen Balkon, von dem man
herabschaute auf diese Volksdarbietung,
war man tief bewegt. Und als am Ende, in
der Auferstehungs-Szene, Josef
Dschugaschwili wendig und elastisch mit
einer roten Fahne aus dem Grabe sprang
und sich vor der Zaren-Loge verneigte,
erhob sich der Hof, die Glocken in den
kaiserlichen Villen begannen zu läuten,
türkische und christliche Kapellen
machten einen ohrenbetäubenden Lärm,
Kanonenboote in der Bucht feuerten
Salutschüsse und der beginnende Abend
wehte in den Pulvergestank legendären
Duft früher Rosen und blühenden wilden
Weins aus den herrlichen Gärten ringsum.
Der Zar ließ den Protagonisten des
byzantinischen Mysterienspiels kommen und
schenkte ihm eine goldene Taschenuhr. Die
Zarin weinte, als sie die eingefärbten
Nägelmale an des Protagonisten Händen
und Füßen sah. Und da passierte dann
jene denkwürdige weitere Szene, daß dem
Josef Dschugaschwili bei Entgegennahme
der goldenen Taschenuhr die rote Fahne
der Auferstehung aus dem Arm fiel und
daß der Zar sich bückte, die rote Fahne
aufhob, sie sehr sorgfältig
zusammenrollte und sie dem Josef
Dschugaschwili, der die goldene
Taschenuhr inzwischen eingesteckt hatte,
wie ein Heiligtum überreichte. Und dann
machte der Zar, als Oberhaupt des
Heiligen Synods, das Zeichen des Kreuzes
über dem reüssierten, erfolgreichen
Schmerzensmann ...
Ha, Stalin, der Konvertit! Wissen
Sie, daß seine Zehen ...
Keine
gute Idee, Genosse Trotzki
das mit
den Zehen! Lassen Sie lieber Emiljewitsch
mit der Fahndung nach seiner
Revolutionsmuse fortfahren ...
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Sie unterrichtete ... Stalin, den
Passionsspieler, über seine nächsten
Aufgaben und über die geplante
Erweiterung seiner Vollmachten, nachdem
sich seine Zurückhaltung im
Grabes-Versteck des Undurchschaubaren so
bewährt hatte. Das exakte militärische
und das rhetorisch-künstlerische Genie
Trotzkis machten durchaus Eindruck auf
sie. Aber für die späterhin
erforderliche Befestigung und
Verklammerung der Revolution setzte sie
auf den Georgier. Unter ihm konnte ein
Geschlecht diplomatisch gewiegter
Berufsrevolutionäre heranwachsen. Die
Revolution in Permanenz war ja nicht
bloß für die nächsten fünf Jahre,
sondern als dauerndes schöpferisches
Lebens-Element für die künftige
Menschheitsgeschichte gedacht. Trotzki
nennt, vermutlich wegen der von Inès
Armand getroffenen Vorentscheidung, Inès
Armand bloß eine führende
Parteimitarbeiterin, die Lenin politisch
sehr nahe stand. Sicher blieb ihm
ihre inspiratorische Bedeutung für die
Revolution nicht verborgen, das war mehr,
weitaus mehr, als sich seinen
chronikalischen Worten entnehmen läßt
...
Genosse
Trotzki? Inès Armand zog Stalin vor? Was
haben Sie falsch gemacht?
Ah, mit dieser Information kann ich
ebenfalls dienen:
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Stalins Abneigung gegen Trotzki hatte
eigentlich eine komische Ursache. In
vorgerückter Stunde hatte Trotzki einmal
behauptet, Stalin habe zusammengewachsene
Zehen oder Schwimmhäute zwischen den
Zehen. Der ehemalige Theologe sah darin
eine Verdächtigung als Antichrist,
gezielt auf den Aberglaube des Volkes. So
entstehen erste Konflikte. Später
freilich ging es dann um die Macht. Die
Zehen und Schwimmhäute hatten sich zu
einem ideologischen Fall entwickelt ...
und, während wir weiter durch die
Weltgeschichte rollen, werden uns die
Folgen noch beschäftigen! Wir sind ja
hier, wie Sie schon gemerkt haben werden,
Genosse Trotzki, alle irgendwie
Eisenbahn-Fans. Vielleicht wäre es jetzt
ganz passend, wenn Sie uns erzählen
würden, wie zwei ungewöhnliche
Eisenbahnzüge zum Fortschritt der
russischen Revolution beitrugen?
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