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Josef Wissarionowitsch Dshugaschwili, der spätere Stalin - 44

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29 In seiner Unterrichtsstunde im Coupé des ramponierten Salonwagens hatte Lenin auch über die Freiheitskriege gesprochen ...

Emiljewitsch — Emil Belzner, unser Schwarzfahrer! „Die Fahrt in die Revolution“ hat Sie nicht losgelassen, was? Dem russischen Aussenkommissar Tschitscherin übergaben Sie — nach eigenen Angaben — im Juni 1927 in Baden-Baden auf sechzehn oder siebzehn Seiten eine prägnante, ganz auf das Authentische beschränkte Skizze Ihrer Erlebnisse mit dem Express der „sibirischen Sträflinge“ im Frühjahr 1917. Das Dokument verschwand im Zensur-Apparat der Revolution. Vierzig Jahre danach floss aus Ihrer Romanfeder die Erzählung von der wunderlichen Fahndung nach Inès Armand. Die literarische Suche nach Ihrer Revolutionsmuse endete für Sie als blutjunger Kriegsdeserteur hinter der Front beim ostpreussischen Tauroggen …

29 Auch jenseits der Grenze nur Deutsche, ein paar Einheimische, einige Juden. Trotzdem war es unverkennbar, daß ich mich in einem fremden Land befand. Alles, schon nach zwei Kilometern, ganz anders als bei uns. Brüderlich gleich waren sich die hier nur stärker vorhandenen restlichen Zeugen der Zerstörung aus den ersten Kriegswochen. Angekohlte Hütten, schiefe Dächer, behelfsmäßig wieder hergerichtete Wohnstätten und Ställe. Keine Klage, nur unsagbare Gleichgültigkeit. Und mittendrin der pomadisierte Schneid der deutschen Etappe, die Rahmabschöpfer der Verpflegung, von der Fronttruppe tief verachtet. „Paß auf, mein Junge!“ rief die Dame Lenin auf ihrem Litauer Schimmel-Hengst hoch aus den Lüften.
Tauroggen (1691-1793 preussisch) war kaum halb so groß wie Bruchsal, aber es kam mir damals riesenhaft vor. Ich weiß nicht, warum. Die Truppen, Gespanne, Proviantwagen allein konnten diesen Eindruck nicht hervorrufen. Wahrscheinlich war es eine Mischung von Innehalten und Imstichgelassensein, die mich ergriff und in mir eine Stimmung der Verlorenheit erzeugte. Denn Petersburg/Petrograd war noch weit ...
...“Wir fahren zu keinen futuristischen Freiheitskriegen“, hatte Lenin gesagt. „Die Freiheitskriege, zu denen wir fahren, sind auch andere als die von 1813. In der Poscherun-Mühle bei Tauroggen schlossen der russische General Diebitsch und der preussische General York am Ende des Jahres 1812 die Konvention von Tauroggen, durch die das preussische Hilfskorps (für Napoleon) im russischen Feldzug für neutral erklärt wurde. Militärisch einleuchtend: Das preussische Hilfskorps war von den Russen eingeschlossen.
Warum wurden aus den sogenannten ‚Freiheitskriegen‘ keine Freiheitskriege? Weil die gegen Napoleon aufstehenden Volksmassen noch kein genügend entwickeltes Bewußtsein besaßen! Warum ist der revolutionäre Volkskrieg der europäischen Völker in einen reaktionären Kabinettskrieg umgeschlagen? Weil noch keine revolutionäre Partei an der Spitze der Massenbewegung stand! Hätte man damals schon die Kunst des Aufstandes beherrscht, dann wären aus der russischen und europäischen Volkserhebung gegen Napoleon gleichzeitig auch Volkserhebungen gegen die Unterdrücker im eigenen Land geworden. Aber wie es heute in Deutschland eine kaiserliche Sozialdemokratie gibt, wie die in ihren Anfängen doch so entschlossenen Sozialdemokraten immer mehr zu einem Nothelfer der Reaktion gedeichselt werden wird — vermutlich, wahrscheinlich, ganz sicher, haha, hmhm, hoho —, so blieben die sogenannten ‚Freiheitskriege‘ in kaiserlich-königlich-herzoglichen ‚Freiheitskriegen‘ gegen die Napoleonische Machtkonkurrenz stecken. Die Freiheit hätte gleichzeitig auch frontal nach innen gesucht und erkämpft werden müssen. Was nützten diese ganzen ‚Freiheitskriege‘? Einen Pfifferling. Immer dasselbe: Unter der Parole Freiheit wird für weitere Knechtschaft, wird für die alten Unterdrücker gekämpft ... Lassen Sie mich jetzt in Ruhe mit futuristischen ‚Freiheits-Gedichten‘: Über diese Idioten, die unwissend die revolutionäre Kampfkraft zermürben, über diesen Dekadenz-Abhub der Bourgeosie freuen sich alle Bankiers.“


Genosse Trotzki, Sie nicken eifrig! Den Lenin-Worten stimmen Sie zu? Aber, geben Sie acht, auf der Spur seiner Revolutionsmuse scheint unser Emiljewitsch die Weichenstellung entdeckt zu haben, die Sie aus dem Gleis warf …

29 Wo war sie? Wo war sie jetzt, nachdem sie die Telefonzentrale im Winterpalais stillgelegt und dem monarchistischen Hauptquartier den Petrograd-Moskauer Lebensfaden abgeschnitten hatte? Sie unterrichtete den Diplom-Theologen, den Diakon, sie unterrichtete Koba-Sosso, Josef Dschugaschwili, Stalin, den Passionsspieler ...

Halt! Viele Bezeichnungen für einen Mann! Sie müssen uns aufklären über Ihr im Revolutionszug gesammeltes Wissen.

29 Es ist eine ziemlich unbekannte Episode aus dem Leben des späteren Diktators oder „Roten Zaren“, wie man Josef Dschugaschwili summarisch genannt hat. Eine Episode aus dem Leben des Parteitheologen, der in Tiflis in Wahrheit und mit Auszeichnung Theologie studiert hatte, bevor ihm aus erbrochenen kyrillischen Apokryphen des Urchristentums, die er als Seminarist aus der vergitterten Bibliothek des „Blauen Klosters“ mitlaufen ließ, die Revolution über den Weg lief und er Berufsrevolutionär wurde. Er machte aus dem Kreuz einen Nachschlüssel zu allen der Menschheit geraubten Gütern.
Inès Armand hatte sich im Auftrag Lenins eine Zeitlang um seine weitere Ausbildung gekümmert. Ihn dann und wann auch in vornehmen, einflußreichen Häusern, in denen etwas zu erfahren war, als Hauslehrer, Religionslehrer oder für Nachhilfestunden untergebracht. Nicht selten kam es vor, daß der als Pope Verkleidete Gendarmen oder Kosaken, die ihm auf der Straße begegneten und die ihn suchten, segnete und ihnen aus seinem Gebetbuch geweihte Heiligenbildchen mitgab. Das war der Bändiger des Sibirien-Expreß, der für den Untergrund der Partei auch Geld-Transporte der Banken umleitete ...
Inès Armand und Radek erzählten abwechselnd die Komödie, die von dem dämonischen Gelächter des Wachend-Schlafenden begleitet wurde:
Ostern 1912. Der Zar und sein Hof befanden sich auf der kaiserlichen Besitzung Livadia an der Südküste der Krim. Drei Kilometer von Jalta entfernt. Koba, zwischen zwei Deportationen und im christlichen Alter von dreiunddreißig Jahren, war als „Pope“ von Jalta herübergekommen, um mit einer Laienspielgruppe Szenen aus einem überlieferten byzantinisch-griechischen Mysterien-Drama, „Geburt, Lehre, Leiden und Auferstehung der Erlösers“, im großen Park von Unter-Livadia vorzuführen ...
Höhepunkt des Nachmittags ... war die Auferstehungsszene. Josef Dschugaschwili schien in seine gläubige Seminaristen-Zeit zurückgefallen. Wie der allergeduldigste Leidtragende der Welt stand er da. Nur als ihm einer der Folterknechte die schlecht sitzende und abrutschende Dornenkrone mit einem Rohrstock fester aufs Haupt preßte und ihm dabei eine Schramme ins linke Ohr hieb, wandte er sich verzeihend um und merkte sich das Gesicht des Folterknechts genau. Es war ein kleiner Uhrmacher aus Jalta: noch in der Nacht verschwanden aus seinem Schaufenster sämtliche Auslagen. Auf dem kaiserlichen Balkon, von dem man herabschaute auf diese Volksdarbietung, war man tief bewegt. Und als am Ende, in der Auferstehungs-Szene, Josef Dschugaschwili wendig und elastisch mit einer roten Fahne aus dem Grabe sprang und sich vor der Zaren-Loge verneigte, erhob sich der Hof, die Glocken in den kaiserlichen Villen begannen zu läuten, türkische und christliche Kapellen machten einen ohrenbetäubenden Lärm, Kanonenboote in der Bucht feuerten Salutschüsse und der beginnende Abend wehte in den Pulvergestank legendären Duft früher Rosen und blühenden wilden Weins aus den herrlichen Gärten ringsum.
Der Zar ließ den Protagonisten des byzantinischen Mysterienspiels kommen und schenkte ihm eine goldene Taschenuhr. Die Zarin weinte, als sie die eingefärbten Nägelmale an des Protagonisten Händen und Füßen sah. Und da passierte dann jene denkwürdige weitere Szene, daß dem Josef Dschugaschwili bei Entgegennahme der goldenen Taschenuhr die rote Fahne der Auferstehung aus dem Arm fiel und daß der Zar sich bückte, die rote Fahne aufhob, sie sehr sorgfältig zusammenrollte und sie dem Josef Dschugaschwili, der die goldene Taschenuhr inzwischen eingesteckt hatte, wie ein Heiligtum überreichte. Und dann machte der Zar, als Oberhaupt des Heiligen Synods, das Zeichen des Kreuzes über dem reüssierten, erfolgreichen Schmerzensmann ...


„Ha, Stalin, der Konvertit! Wissen Sie, daß seine Zehen ...

Keine gute Idee, Genosse Trotzki … das mit den Zehen! Lassen Sie lieber Emiljewitsch mit der Fahndung nach seiner Revolutionsmuse fortfahren ...

29 Sie unterrichtete ... Stalin, den Passionsspieler, über seine nächsten Aufgaben und über die geplante Erweiterung seiner Vollmachten, nachdem sich seine Zurückhaltung im Grabes-Versteck des Undurchschaubaren so bewährt hatte. Das exakte militärische und das rhetorisch-künstlerische Genie Trotzkis machten durchaus Eindruck auf sie. Aber für die späterhin erforderliche Befestigung und Verklammerung der Revolution setzte sie auf den Georgier. Unter ihm konnte ein Geschlecht diplomatisch gewiegter Berufsrevolutionäre heranwachsen. Die Revolution in Permanenz war ja nicht bloß für die nächsten fünf Jahre, sondern als dauerndes schöpferisches Lebens-Element für die künftige Menschheitsgeschichte gedacht. Trotzki nennt, vermutlich wegen der von Inès Armand getroffenen Vorentscheidung, Inès Armand bloß „eine führende Parteimitarbeiterin, die Lenin politisch sehr nahe stand“. Sicher blieb ihm ihre inspiratorische Bedeutung für die Revolution nicht verborgen, das war mehr, weitaus mehr, als sich seinen chronikalischen Worten entnehmen läßt ...

Genosse Trotzki? Inès Armand zog Stalin vor? Was haben Sie falsch gemacht?

„Ah, mit dieser Information kann ich ebenfalls dienen:“

29 Stalins Abneigung gegen Trotzki hatte eigentlich eine komische Ursache. In vorgerückter Stunde hatte Trotzki einmal behauptet, Stalin habe zusammengewachsene Zehen oder Schwimmhäute zwischen den Zehen. Der ehemalige Theologe sah darin eine Verdächtigung als Antichrist, gezielt auf den Aberglaube des Volkes. So entstehen erste Konflikte. Später freilich ging es dann um die Macht. Die Zehen und Schwimmhäute hatten sich zu einem ideologischen Fall entwickelt ...

… und, während wir weiter durch die Weltgeschichte rollen, werden uns die Folgen noch beschäftigen! Wir sind ja hier, wie Sie schon gemerkt haben werden, Genosse Trotzki, alle irgendwie Eisenbahn-Fans. Vielleicht wäre es jetzt ganz passend, wenn Sie uns erzählen würden, wie zwei ungewöhnliche Eisenbahnzüge zum Fortschritt der russischen Revolution beitrugen?


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