transsib transsib transsib
...
Am 19. Mai
1891 gruben sich die ersten
Spitzhacken in gefrorene sibirische Erde.
Mehr als siebzigtausend Arbeiter waren im
Einsatz, großteils Sträflinge. Tausende
kamen dabei um. Die Transsib ist
auf Knochen gebaut, sagen die
Russen ...
... und ich liebe den Luxus, den
sie heute bietet
Und wer, bitte, sind Sie?
Karl-Heinz
Jeller, geboren
1954. Journalist. Reise leidenschaftlich
gern. In den 70ern als Autostopper durch
Europa. In den 80ern als Rucksacktourist
durch Asien und Lateinamerika. Heute
beruflich in die ganze Welt. Seit 1996
Leiter des Reiseressorts der
österreichischen Tageszeitung KURIER.
... Und dort wunderte sich ein Kollege
über mein Reisevorhaben: Da
brauchst du aber viel Sitzfleisch!
Ehrlich gesagt erwartete ich mir nicht
viel außer der Erfahrung Zeit und der
maßlosen Weite Asiens. Birkenwald links,
Birkenwald rechts. Viel Gegend und keine
Landschaft. Doch vieles sollte anders
kommen.
Endlose 7865 Kilometer quer durch Asien.
Durch Taiga, Steppen und die Wüste Gobi.
Ohne Zwischenstopps ist man 170 Stunden
im Zug. Sieben Tage und sieben Nächte.
Vermutlich hat keine andere Reise mehr
Erklärungsbedarf als diese. Mit dem
Flugzeug würde man die Strecke bequem in
sieben Stunden schaffen. Ein Raketenflug
im Vergleich zur Reise mit der Transsib.
Eine Woche also bis ans Ziel. Das hat in
Zeiten von Weekend-Flügen nach New York
und der Gleichzeitigkeit durchs Internet
schon wieder prickelnden Reiz. Was tun
mit so viel Zeit? Was tun mit sich
selbst?
Eine neue Dimension geht auf. Die Lust an
der verlangsamten Bewegung. Ein Schachzug
gegen die Betäubung durch
Geschwindigkeit. Mit durchschnittlich
46,2 km/h fast ein Viertel um den Globus
...
Sicherheitshalber entschied ich mich
nicht für den regulären Zug Rossija, in
dem schon nach dem ersten Tag die Klos
verstopft sind und sich 30 Reisende zwei
Waschbecken teilen, sondern für den
touristischen Sonderzug Zarengold, den
ein deutscher
Veranstalter (?) mehrmals
jährlich von Moskau nach Peking rollen
lässt.
Die Waggons der höchsten Kategorie ließ
Nikita Chruschtschow in den 50er-Jahren
für die Regierung bauen. Breschnew
benützte sie ebenso wie heute Vladimir
Putin. Edles Holz, blankpoliertes
Messing, ein Plüschfauteuil in jedem
Zweier-Abteil, eine perfekt
funktionierende Dusche, Service vom
Feinsten und das Essen ein
Gedicht. Auch Kaviar gibts nicht zu
knapp. Immerhin hat der deutsche
Veranstalter (??) Putins
Zug-Restaurantchef angeheuert. Und der
genießt das Lob der Touristen mit bunter
Pokemon-Krawatte auf stolzgeschwellter
Brust.
Moskau-Peking. Richtig, das ist nicht die
klassische Strecke der Transsib. Diese
führt über schon schwer fassbare 9289
km nach Wladiwostok im südöstlichsten
Zipfel Russlands. Aber es ist die
touristisch weit interessantere ... Der deutsche
Veranstalter (???) ...
transsib transsib transsib
...
Danke, Herr Jeller
uns
gehen die Fragezeichen aus, mit denen wir
Ihre touristische Schleichwerbung
abzukleben versuchen
Moment! Bevor Sie mich abhängen
... Interessanter als den Bahnhof ganz
aus Marmor, den Ihre Herren Trotzki und
Witte so begeisterten, fand ich die
Transsib-Station in Jekaterinenburg
unweit der imaginären Trennlinie
zwischen Europa und Asien! ...
Das haben wir schon abgehakt,
Herr Jeller: Vierzig Kilometer
außerhalb, dort wo die Leichen der
Zaren-Familie verscharrt wurden, entsteht
ein Romanov-Memorial ...
Ach was, Touristen-Attraktion ist
in Jekaterinenburg etwas ganz anderes:
der Friedhof, auf dem die lokale Mafia
die Gräber ihrer Opfer mit bombastischen
Kreationen schmückt, edle Grabstelen mit
mannshohen Abbildern der Verstorbenen,
eins zu eins fotografisch genau bis ins
letzte Detail: Goldkettchen auf haariger
Brust, am Ohr ein glitzerndes Handy
...
Gibts auch in Kiew, dort aber
mit einem Pinguin als Statussymbol ...
tolle Idee übrigens für mein
Internet-Portal minimovie.com ...
Das wäre ein Plagiat es sei
denn, Dimitri Lesnewski, Sie würden sich
handelseinig mit Ihrem ukrainischen
Kollegen Andrej Kurkow, vielleicht bei
einem Picknick auf dem Eis?
Haben wir jetzt einen Anschluss
verpasst? Wer sind die Herren Lesnewski
und Kurkow? Und was, bitte, ist das für
ein Pinguin?
REISEN (made by Jeller) macht
schlau!
Ich habe Ihnen zwei Nutzniesser
nachrevolutionärer Entwicklung in
Russland und in der Ukraine ins
Abteil geholt.
Beide sozusagen Post-Sowjetmenschen.
Beide keine Mafiosi!
Beide Medienarbeiter, so wie ich!
Der eine macht Fernsehen, der andere
Bücher.
Der eine sagt:
Zu Hause
kennt mich jeder, hier
fragen sich jetzt alle: wer ist dieser
Mann aus Russland?
Der andere sagt:
In meinem
Herzen gibt es, wie im
Herzen eines jeden postsowjetischen
Menschen, eben auch ein Quäntchen
Nostalgie, das sich auf die alten Zeiten
bezieht. Wir vergleichen dauernd das
Leben heute mit dem von damals, in der
Zeit der Sowjetunion. Und auch wenn wir
nicht zurück wollen, irgendwie lässt
uns diese Zeit nicht los.
Womit wir beim Picknick auf
dem Eis wären, Ihrem Erfolgsroman,
Andrej Kurkow.
Nun, meine
Hauptfigur ist Viktor, ein
Schriftsteller, der zwischen
journalistischen Versuchen und kleinen
Prosaarbeiten steckengeblieben war.
Er hat keinen Beruf, kein Einkommen,
keine Familie, keine Gefährtin. Dafür
immerhin einen ungewöhnlichen
Gefährten: Er teilt seine Wohnung mit
einem Königspinguin, den er aus der
Auflösungsmasse des Kiewer Zoos
übernommen hat. Vom Chefredakteur der
Hauptstadtzeitung wird Viktor
als Nekrologe engagiert. Er soll
das ist bei vielen Zeitungen üblich
Vorab-Nachrufe auf noch lebende
prominente Zeitgenossen verfassen, und er
soll sie so schreiben, wie noch nie
jemand über Tote geschrieben hat.
Und Viktor schreibt, die nüchternen
Fakten mit pathetisch-philosophischen
Tiraden veredelnd, über Fabrikbesitzer
und Politiker, Künstler und Militärs
und unterzeichnet seine Werke, wie
empfohlen, mit einem vierfachen
Fragezeichen. Daß die Biographien der
von ihm verewigten VIPs von dunklen
Flecken gesprenkelt sind, fällt ihm zwar
auf, wundert ihn aber weiter nicht:
Menschen mit reiner Weste gibt es
nicht, und wer etwas erreicht hat
in dieser Gesellschaft, hat auch krumme
Wege eingeschlagen. Viktors moralische
Indifferenz ist zeitgemäß; wenn
draußen die Schlachten zwischen
verfeindeten Mafia-Clans toben, geht man
halt nicht ans Fenster. Auch daß sein
Auftraggeber untertaucht, ja er selbst
sich eine Weile in einer Vorstadt-Datscha
verkriechen muß, betrachtet er als eine
Selbstverständlichkeit.
Mischa, eine zweifelhafte mafiöse
Existenz, vertraut ihm seine vierjährige
Tochter und viel Geld an, bevor er
leider hopsgeht, wie dem
unfreiwilligen Ersatzvater mitgeteilt
wird. Viktor engagiert ein
Kindermädchen, behält es auch über
Nacht bei sich und spielt
Familie, mit Picknick, Ausflügen
und dem Traum vom Häuschen auf dem
Lande: ohne Überzeugung, ohne Liebe,
weil es sich eben gerade so ergeben hat.
Leider erweist sich seine Tätigkeit bald
als nicht passend für ein kleines
provisorisches Biedermannglück in den
kriminellen Verwerfungen von Kiew.
Viktors Nachrufe sind tatsächlich
einzigartig: Die darin Gewürdigten
kommen verdächtig bald nach der
Niederschrift zu Tode, ermordet oder
durch einen Unfall. Dahinter
stehen, wie ihm bedeutet wird,
einige Leute, die das Land ein
wenig säubern wollen. Ausgerechnet
das Verbrechersyndikat, das etliche Opfer
in seinen Reihen zu beklagen hat,
bestellt Viktor mit sanftem Nachdruck auf
den Friedhof: Sein Pinguin, den er immer
mitzubringen hat, gilt ihnen als Symbol
einer hochklassigen
Beerdigung. Die mörderische
Halbwelt Kiews macht ihn zum Statussymbol
und Totenvogel zugleich.
Sie müssen mir die Filmrechte
verkaufen, Andrei Jurjewitsch! Nächstes
Jahr will ich in Deutschland einen
privaten Fernsehsender aufmöbeln,
täglich auch mindestens eine Stunde mit
Kurzfilmen aus meinem Minimovie-Fundus.
Der Pinguin könnte der Einstieg sein
...
Dimitri Lesnewski, dreizehn
Millionen Euro sollen Sie für den
Mini-Sender ausgegeben haben, der in den
meisten deutschen
TV-Programm-Zeitschriften mit der Lupe
gesucht werden muss und der bisher unter
dem Namen Das Vierte
firmierte ...
Der Pinguin ... oder auch
Minimovies von dieser Eisenbahnfahrt? ...
Gefällt mir gut, wie dieser Salonwagen
hier zur rollenden Weltbühne wird, und
warum soll ich etwas machen, wovon es
schon genug ohne mich gibt?
SCHLUSS MIT
HOLLYWOOD! ...
Das deutsche Fernsehen hat sich mangels
eigener Ideen in den vergangenen Jahren
immer verlässlich auf dem britischen
oder amerikanischen TV-Markt bedient. Ob
ich es will oder nicht ich werde
sicherlich, im Vergleich zu den deutschen
Gewohnheiten, anders, unorthodoxer an die
Dinge herangehen.
Ich bin jetzt achtunddreisig, und in
Russland hatte ich mit dem von mir und
meiner Mutter 1997 gestarteten Sender Ren
TV auch nur einen Marktanteil von bis zu
fünf Prozent. Aber seine Inhalte
kitzelten den Kreml, und in der zweiten
Amtszeit Wladimir Putins kamen wir
zunehmend unter Druck.
2005 übernahmen Kreml-genehme Banken und
die RTL-Group den Sender. Was die daraus
gemacht haben? Na ja, nach Russland und
nach China wollen derzeit eben alle
Medien, weil sich dort gut Geld verdienen
lässt.
Ich bin Künstler und unabhängiger
Filmproduzent, ich hatte keine Lust, in
die klassische Liga der fiesen Oligarchen
aufzusteigen. Bei Ren TV gab ich auf, um
nicht das Schicksal von Wladimir
Gussinski oder Michail Chodorkowski zu
teilen: Gussinski, Exchef des noch vor
Ren TV beim Kreml in Ungnade gefallenen
unabhängigen Senders NTW lebt jetzt im
Exil, der Putin-kritische Unternehmer
Chodorkowski sitzt nach einem
Schauprozess in Sibirien im Knast. Und
was jetzt in Russland abläuft, nach dem
Wechsel Wladimir Putins vom Präsidenten
zu Regierungschef? Na, jeder weiss
Bescheid über die Machtverhältnisse.
Vielleicht ist diese historische Periode
bald abgeschlossen, ganz organisch.
In Russland gibt es keine Pressefreiheit,
aber viele freie Menschen. Diese
Entwicklung lässt sich nicht mehr
zurückdrehen, doch in der Breite der
russischen Gesellschaft fehlt noch eine
klare Haltung ...
Es gibt im
Moment keine
ernsthafte Nachfrage nach echter Freiheit
es gibt eine große Nachfrage nach
der Freiheit, viel Geld zu verdienen.
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