18 Karl May
bot eine Ersatzwelt an, eine Gegenwelt
zur Sturm-und-Drang-Periode der Technik,
die bekanntlich weitgehende soziale und
wirtschaftliche Umwälzungen nach sich
zog. Der Fabrikarbeiter des modernen
Industriestaates floh (und nicht nur er,
sondern auch breite Schichten des
Mittelstandes, die ihren Standpunkt in
dem Maschinenzeitalter noch nicht klar
eingrenzen konnten) nach des Tages Last,
nach der Sklaverei- und Fronarbeit an dem
Fetisch Maschine in schöne Illusionen.
Mays Phantasiewelt bot sich da an. Sie
war noch in Ordnung; in ihr gab es statt
einengender Fabrikhallen die Weiten der
Prärien und Wüsten; hier wurde keine
Naturlandschaft in
Zivilisationsräume
umgewandelt (dafür sorgten schon die
Indianer, indem sie verhasste weisse
Landvermesser an der Arbeit hinderten),
und vor allen Dingen war hier jeder frei,
nur sich oder jedoch mit dieser
Einschränkung dem Anführer der
Gruppe Rechtschaffenheit schuldig. Solche
Ersatzwelt birgt natürlich immer die
Gefahr in sich, die Handlungsfähigkeit
der Leser in der realen, auf sie
einwirkenden Welt zu lähmen, denn indem
sie sich in dieses Reich der Harmonie und
der Wunschvorstellungen flüchten, passen
sie sich widerspruchslos der objektiven
Realität an, finden sich mit ihr ab und
resignieren, statt zur Veränderung,
Verbesserung beizutragen. Karl May
liefert seinen Kritikern Belege für
deren Argumentation, wenn er in seiner
autobiografischen Skizze Freuden
und Leiden eines Vielgelesenen von
jenen Männern berichtet, die ihm
mitteilten ...
seit wir Ihr Werk gelesen haben,
sind wir keine Sozialdemokraten mehr
...
Im Klartext schliesst das ja wohl auch
mit ein: Fundamentierung unerquicklicher
Verhältnisse, denn gerade
Sozialdemokraten waren es, die sich für
die Interessen der Proletarier
einsetzten. Und an anderer Stelle
derselben Erzählung schildert der Sachse
May stolz den Besuch von vier
Cartonnagearbeitern in der Villa
Shatterhand, die ihm
versichern ...
Sie werdn ... von der ganzen
Fabrik gelesen, wenn ooch bloss nur aus
der Leihbibliothek. Aber mer ham Sie alle
liebgewonnen, und ooch die Grossen halten
sich lieber Ihre Bücher als daß se ins
Wirtshaus gehen.
Aber eben in den Wirtshäusern fanden
Versammlungen der Sozialdemokratischen
Partei statt. Denn andere Örtlichkeiten,
als die grossen Tanzsäle und engen
Hinterstuben gab es kaum, wenn die
Zusammenkünfte nicht im Freien
abgehalten wurden. So kann man im
übertragenen Sinne nicht nur einen
Verzicht auf Alkohol herauslesen, sondern
auch auf fast jegliche politische
Betätigung, die zum herrschenden
Obrigkeitsstaat in Opposition stand.
Einen ganz anderen Sinn bekommen nun
ebenfalls die Worte des Prinzipals jener
Arbeiter, der in schöner
Folgerichtigkeit bemerkt, Karl May sei
...
een wahrer Segen für seine ganze
Cartonnagen-Fabrik.
Während wir Herrn May im
Verlauf unserer Reise möglicherweise
noch leibhaftig in unserem Show-Teil
Das war Ihr Leben begegnen
werden, war es ganz unmöglich dafür
einen anderen deutschsprachigen
Schriftsteller aufzutreiben, dem man
keineswegs den Vorwurf machen kann, mit
seinen Novellen das Proletariat
eingelullt zu haben. Seine Geschichten
wurden in Deutschland von der
Büchergilde Gutenberg
herausgegeben und hauptsächlich von
Arbeitern gelesen.
Niemand weiss genau, wer er war
Geburtsdatum, Geburtsort sind unbekannt
doch er wurde ebenfalls ein
Reiseschriftsteller von Weltruf, ein
Vierteljahrhundert nach Karl May.
REGIE! Rolltext bitte!
aus
B. Travens Roman
Ein General kommt
aus dem Dschungel |
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Literaturforscher scheinen
sich einig zu sein, daß sich hinter dem
Pseudonym B. Traven niemand anderes
verbirgt als ein ehemaliger Schauspieler
und Journalist, Regisseur und
Revolutionär, der vor dem Ersten
Weltkrieg in Deutschland aufgewachsen ist
und während des Krieges zu schreiben
anfing, der seit 1917 die in München
erscheinende Zeitschrift Der
Ziegelbrenner herausgegeben und
1919 eine nicht unbedeutende Rolle in der
von Kurt Eisner proklamierten Münchener
Räterepublik gespielt hat, der 1923 erst
ins englische, dann ins kanadische und
schließlich ins (mittel-) amerikanische
Exil geflohen ist, im südlichen Mexiko
unter Indianern gelebt und dort auch sein
Frühwerk geschrieben hat.
Genosse Trotzki, Sie hätten ihn
in Mexiko treffen können, obwohl wir
vermuten, daß er keinen grossen Wert auf
eine Begegnung gelegt hätte
politische Programme kommen bei ihm nicht
vor, professionelle Politiker, auch
aufseiten der Linken, kommen mehr als
schlecht weg wenn sie überhaupt
erwähnt werden, dann nur in allerlei
Beschimpfungen.
Travens
Werke lassen sich
wohl am besten als proletarische
Abenteuerromane beschreiben. Sie
handeln von Seeräubern, Indianern und
Gesetzlosen und teilen daher viele Motive
mit Autoren wie Karl May oder auch Jack
London. Er schrieb seine Bücher vor
allem konsequent aus der Perspektive der
Unterdrückten und Ausgebeuteten. Seine
Figuren stehen am Rande der Gesellschaft,
entstammen dem proletarischen und
lumpenproletarischen Milieu, stets mehr
Antihelden als Heroen, haben jedoch
dennoch eine urtümliche Lebenskraft, die
sie immer wieder zum Aufbegehren zwingt.
Die gerechte Ordnung oder die
christliche Moral, die in vielen
Abenteuerromanen durchscheint, gilt
Traven und seinen Helden nichts.
Stattdessen steht stets das anarchische
Element des Aufbegehrens im Mittelpunkt.
Immer erfolgt es aus der unmittelbaren
Ablehnung der entwürdigenden
Lebensumstände der Helden, stets sind es
die Entrechteten selbst, die ihre
Befreiung oder aber zumindest eine
rebellische Geste vollbringen. Obwohl er
ein positives Programm verweigert, scheut
er sich doch niemals die Ursache des
Leidens seiner Protagonisten zu nennen.
Dieser Quell von Qual, Entwürdigung,
Elend und Tod ist für ihn Cäsar
Augustus Capitalismus, wie das
Diktat des Kapitals in Das
Totenschiff genannt wird.
Traven schaffte es, seine einzigartig
subjektiv-mitreißende Kapitalismuskritik
ohne belehrenden Zeigefinger zu liefern
und durch die Anknüpfung an Western- und
Seemannsmotive auch tatsächlich das
proletarische Zielpublikum zu erreichen.
Eine Leistung, die nicht viele linke
Schriftsteller vollbringen konnten.
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