DER
WEG NACH ZIMBABWE oder VERSUCHE, DIE FREMDE ZU VERSTEHEN
© 1990
Klaus Jürgen Schmidt
IDENTITÄTSSUCHE ZWISCHEN ALT UND NEU
THE SUNDAY MAIL, Harare, 14. Februar 1988:
"Zimbabwe ist noch immer unter der Vorherrschaft
eines bourgeoisen Lebensstils, stellt das jüngste
Magazin der Southern African Political Economy Series (SAPES)
fest.
'Kinder der Bourgeoisie und der oberen Kleinbürgerschicht
wollen nicht ihr komfortables Leben aufgeben, und die
Kinder der Armen träumen davon, es eines Tages zu
erreichen', erklärt die Publikation.
Die Universität und andere Bildungsstätten in Zimbabwe
seien selbst von kleinbürgerlichen Intellektuellen
dominiert, die nicht bloß die Ideen des Marxismus-Leninismus
ignorierten, sondern feindlich eingestellt seien gegenüber
der Sozialistischen Revolution, die die unterdrückten
arbeitenden Massen befreien werde.
Weiter heißt es: 'Da die Bourgeoisie die Wirtschaft
kontrolliert, beherrscht sie auch die Intellektuellen und
verlangt, daß Studenten eingepaßt werden in diese
bourgeoise Gesellschaft, um ihr effizient zu dienen.'"
Mitten in Harare wächst während der Regenzeit ein Stück
ländliches Afrika, schulterhohes Gras fast bis zum
Horizont, durchwunden von Fußpfaden, über die abends
vor Sonnenuntergang schwarze Hausangestellte des nahen
weißen Wohnviertels Borrowdale mit geschulterten Hacken
zu ihren kleinen Maisfeldern streben, die sich wie Inseln
im hohen Gras ausmachen. Zwei Freiluftkirchen ziehen zum
Wochende einige hundert Gläubige an. Unter
schattenspendenden Bäumen auf herbeigeschafften
Betonplatten lassen sie sich von ihrem Prediger erbauen,
oft klingen noch lange nach Anbruch der Dunkelheit
afrikanische Gesänge herüber ins Viertel der Weißen.
Zuvor haben sich tief im Feld bei einem Feuer unter
anderen Baumgruppen Männer und Frauen zu heimlichen
Trinkgelagen versammelt, sicher vor der Polizei, die nach
dem gefährlichen Agavengebräu fahndet, das in
illegealen Busch-Destillen fässerweise hergestellt wird.
Ein Stück weiter hauen Jugendliche regelmäßig das
wuchernde Gras mit Macheten kurz, um dann ihren langen
Schatten und einem Fußball nachzujagen.
Dort gehe ich häufig mit Lisa spazieren, der alten Schäferhündin,
die wir mit dem Haus übernommen haben. Eines Abends
treffe ich unter Eukalyptusbäumen am Rande des Feldes
einen Mann, der noch im späten Licht an der
Fertigstellung einer Schubkarre aus Schilfrohr arbeitet.
Er hat das Rohr gespleißt und mit flinken Fingern flicht
er Boden und Wände, ein geflochtenes Rad hat schon ein
kurzes Stück Bambusrohr als Achse erhalten. Ich klatsche
die Hände zum Shona-Gruß und erkundige mich nach seinem
Befinden.
"Sekuro darf ich eine Frage stellen?"
Der alte Mann hat seine Arbeit wieder aufgenommen.
"Was soll diese Schubkarre transportieren?"
"Blumen, mein Bruder!"
"Blumen?"
"Blumen! Bei Hochzeiten zum Beispiel."
"Die Leute kaufen sie für Hochzeiten?"
"Sie kaufen sie von mir auf dem Markt und füllen
sie mit Blumen."
"Was bezahlt man dafür?"
"Ich nehme zwölf Dollar pro Stück."
"Und wie lange mußt du an einer solchen Schubkarre
arbeiten, Bruder?"
"Manchmal schaffe ich zwei an einem Tag. Und ich
werde sie reißend los. Es wird viel geheiratet!"
Ich überschlage den Verdienst des Karren-Flechters: Wenn
er nur fünf Tage in der Woche arbeitet und pro Tag nur
eine Schilfkarre fertigstellt Miete muß er ja
keine zahlen in seiner Freiluft-Werkstatt kann er
am Ende jeden Monats mit 240 Dollar Einnahme rechnen. Das
ist das Doppelte des Lohnes eines Hausangestellten.
Ich wünsche ihm eine anhaltende Hochzeit-Konjunktur.
An einem anderen Abend begleitet mich Paul auf einem
solchen Spaziergang durchs Feld und erzählt mir
von seinem Liebeskummer. Eigentlich wollte er heiraten,
doch daraus wird wohl nichts werden, ein Auto hat sich
dazwischen geschoben!
Um die Geschichte dieser unglücklichen Liebe zu
verstehen ist vielleicht die Beschreibung einer Straßenszene
hilfreich: Ich halte an einer Kreuzung in Harare, aus
einer Seitenstraße biegt schnaufend ein schwerer
Abschleppwagen. Im schwarzen Dieselqualm hinten am Haken
hängt ein zweiter Abschleppwagen etwas kleiner,
und als der Konvoi über die Kreuzung kriecht, sehe ich
am Haken dieses Wagens einen blauen PKW hängen. Da zieht
die ganze Misere des zimbabweschen Automarktes vorüber.
Im afrikanischen Vergleich fährt wohl über das beste
Straßennetz die älteste Autoflotte des Kontinents.
Fahrzeuge aus den Fünfzigern, nicht der Nostalgie wegen,
sondern aus ökonomischem Zwang heraus instand gehalten,
bewältigen den individuellen Verkehr. Ich verwirre eine
Besucherin aus Deutschland nachts auf dem Weg vom
Flughafen mit dem beiläufigen Hinweis: "Da
schon wieder ein alter Jaguar!" "Wo wo?"
Und sie blickt vergeblich nach dem gefleckten Raubtier
aus.
Da also Neuwagen wegen harter Devisenbeschränkungen kaum
eingeführt werden und darüberhinaus einhundert Prozent
Zoll erhoben wird, stellen die wenigen importierten Autos
in Zimbabwe einen ungeheuren Wiederverkaufswert dar.
Pauls Freundin war nach zweijähriger Arbeit in Paris mit
einem solchen Auto heimgekehrt, das den Gegenwert einer
Einfamilien-Villa repräsentiert. Die Shona-Tradition, so
erklärt mir nun mein Freund, orientierte sich bei
Verhandlungen über Eheschließungen schon immer an
materiellen Gegebenheiten, eine Verbindung der Tochter
mit einem materiell weniger gut gestellten Schwiegersohn
kommt nicht infrage. Die fällige Kuhherde ist in der
afrikanischen Stadtgesellschaft durch das Auto abgelöst,
oder durch eine Farb-TV-Video-Anlage, oder durch Bargeld.
Wir wandern durchs rote Abendlicht und reden über eine
Tradition, die nur vordergründig etwas zu tun hat mit
dem Einbruch moderner Konsumgüter aus der fremden Welt,
und gar nichts mit Lösungen, die etwa im Katechismus
marxistisch-leninistischer, also e u r o p ä i s c h e r
Handlungsanweisungen zu finden wären. Afrika schreibt
schlicht fort, was Männer überall in der Welt ihren
Frauen antun, mit Billigung der ganzen Sippe.
Das System haben Generationen ausgeklügelt: Töchter,
sonst ja zu nichts nütze, haben wenigstens zur
Vermehrung des Sippenbesitzes beizutragen wenn sie
heiraten.
"Auf der anderen Seite," sagt Paul, "würde
auch meine Familie dieser Verbindung niemals zustimmen.
Meine Frau mit ihrem Reichtum würde ihrer Familie
traditionell das Recht geben, bei uns das Sagen zu haben."
"Heißt das, ihr beide habt euch zu beugen?"
"Es ist einfacher, daß ein Afrikaner eine Weiße
zur Frau nimmt, als daß ich in eine schwarze Familie
heirate, die reicher ist als die meine. Es ist nicht nur
die materielle Überlegenheit. Die mag sich ausdrücken
in drei Autos, in fünf Häusern oder einem dicken
Bankkonto, mit dem meinetwegen eine Satelliten-Antenne
gekauft werden kann. Es ist die ungebrochene Überzeugung,
daß dies der Wille unserer Ahnen ist. Selbst wenn wir
beide beschließen würden, unseren Willen durchzusetzen,
unsere Familien würden mit uns brechen. Jedes Unglück,
das später einträte, würde uns angelastet, würde
sozusagen beweisen, daß wir fehlgeleitet waren. Und natürlich
werden Unglücke passieren, jemand wird krank, Kinder
sterben das ist der Lauf des Lebens. Nur werden
wir die Schuldigen sein, verstehst du? Die Alten werden
dafür sorgen, daß sich an diesem Glauben nichts ändert!"
"Aber das heißt doch auch, daß die Chancen für
junge Frauen, einen Mann zu finden, immer geringer
werden, je mehr sie sich zum Beispiel beruflich
qualifizieren?"
"Das ist der Hauptgrund, der vor allem auf dem Lande
Familien veranlaßt, Mädchen den Zugang zu einer
besseren Ausbildung zu verweigern. Dort sind die
Aussichten für eine gute Heirat natürlich viel dünner
gesät, und die Tochter in der Stadt, oder gar im Ausland
ihren eigenen Weg gehen zu lassen, das verbietet die
Moral u n d der Geldbeutel. Was da drin ist, wird
allenfalls einem Sohn zur Weiterbildung zur Verfügung
gestellt."
Mich übermannt die Ungeduld. "Ja, verdammt noch
mal, wofür habt ihr denn gekämpft?" frage ich
Paul, der mehr als zehn Jahre seines jungen Lebens im
Guerillakrieg verbracht hat.
"Wir haben gegen die Unterdrückung durch die Weißen
gekämpft. Vielleicht haben wir dabei den Fehler gemacht,
uns niemals umzuschauen, um zu sehen, woher wir kamen.
Deshalb wissen wir nicht, wohin wir gehen."
Paul schreibt an einem Buchskript mit dem Arbeitstitel
"Marsch zum Horizont", in dem er über seine
Erfahrungen im Befreiungskampf reflektiert. Er ist einer
der ganz wenigen Schwarzen, für die nach dem Sieg noch
viele Fragen ungeklärt sind. Dabei geht es ihm um eine
Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur, mit den
Hindernissen von Traditionen, die in der Aussperrung von
Verantwortung für den Aufbau einer modernen Gesellschaft
durch Generationen in den Schwarzen-Siedlungen auf dem
Lande und in den Städten weiterwucherten. Bis heute ist
noch nicht der ganze Umfang des Einflusses von Magie und
Ahnenbeschwörung erforscht, der auch im zweiten "Chimurenga",
dem endlich erfolgreichen schwarzen Befreiungskampf
wirkte. Aber die Zeitungen berichten nahezu wöchentlich
von besessenen Schulkindern, von Geisterbeschwörern, Mädchenbeschneidungen,
und Sekten aller Schattierungen haben Hochkonjunktur.
Nach unserem langen Spaziergang lauscht Paul gespannt
einer Diskussion, die sich in unserem Garten zwischen
meiner Tochter und mir über Möglichkeiten und Grenzen
der Computer-Technologie entwickelt. Es ist nicht das
Thema, es ist die Art unseres Umgangs, die ihn fasziniert.
Als die Tochter sich maulend in ihr Zimmer zurückzieht,
weil ihr die Argumente ausgingen, bleibt er eine Weile
still.
"Weißt du, das war das erste Mal, daß ich so etwas
erlebt habe."
Paul trinkt nachdenklich aus seinem Glas.
"Wie war das bei mir zu Hause? Ich habe nie
bei meinem Vater gesessen. Wir Kinder hatten unseren
Platz draußen vor der Hütte, bis zum Schlafengehen.
Dort spielten wir miteinander, und nur wenn Vater nach
irgendetwas rief, zum Beispiel ein Bier haben wollte,
dann näherten wir uns ihm, ehrfürchtig, reichten ihm
das Gewünschte. Eine solche Diskussion zwischen uns wäre
nie möglich gewesen!"
Paul umreißt in einer kurzen Reflektion das
Grundproblem, das offenbar weder seine Generation noch
die Weißen im Lande bei ihrem Klagen über das Unvermögen
der Schwarzen, die Anforderungen einer modernen
Entwicklungsgesellschaft in den Griff zu bekommen, bisher
erkannt haben. Sie, die Weißen haben das Unkraut wirrer
Phantasien mit dem daraus folgenden Gehorsamsgebot gegenüber
Ahnen und Alten wuchern lassen; sie waren ausschließlich
an der Kontrolle der schwarzen Arbeitskraft interessiert.
Durch das Fernhalten von jeder Verantwortung im
Modernisierungsprozeß der rhodesischen Gesellschaft
fehlten jeder nachwachsenden schwarzen Generation
Erfolgserlebnisse, die ihnen die Möglichkeit gegeben hätten,
sich von der Bevormundung der Alten auf Dauer zu
emanzipieren. Auf der anderen Seite ist der einzige
Triumph der jüngsten Generation militärisch und
politisch den Weißen das Recht abgerungen zu haben,
dieses Land zu regieren durch das Erbe der im
Befreiungskampf mitgeschleppten schwarzen Vergangenheit
schon korrumpiert. Dieses Erbe heißt TRIBALISMUS!
(Wobei mir einfällt: Ein aufmerksamer Hörer des BBC-Worldservice'
fragte im Juli 1989 aus Afrika in London an, weshalb
Streit zwischen Völkern in Europa "ethnische
Unruhen", Streit zwischen Völkern in Afrika aber
"Stammes-Konflikte" genannt würden! Sein Brief
wurde verlesen, eine Antwort blieb aus.)
|