DER
WEG NACH ZIMBABWE oder VERSUCHE, DIE FREMDE ZU VERSTEHEN
© 1990
Klaus Jürgen Schmidt
ERBE EINER MISSGLÜCKTEN REVOLUTION
Über das Bett läuft ein Huhn. Bevor es im offenen
Koffer ein Ei legt, jagen wir es auf die Veranda in die
Morgenluft. Wir sind am Abend zuvor mit dem Zug
angekommen, der schnaufend an der Bedarfshaltestelle
hielt, die sich auf einem verwitterten Holzschild als
"El Mirador" auswies. So heißt auch die
Hazienda, in der wir übernachteten.
Zu vermuten ist, daß die Haltestelle den Namen nach der
Hazienda erhielt. Sie gehört General a.D. Ramirez, und
als wir an diesem Morgen auf die Veranda treten, blicken
wir bis zum Horizont über das Land, das ihm gehört. Üppige
Bougainvillea-Sträucher ranken sich rot und violett ins
Tal hinab, werden abgelöst vom saftigen Grün eines
Meeres wogender Zuckerrohr-Felder, die sich ihrerseits im
Blau des fernen Gebirges verlieren.
"El Mirador" "Der Ausguck"
hoch über dem Bundesstaat Michoacan ist eine der vielen
Stationen auf unserer Reise durch Mexico 1974/75, die
Elsa und ich als Experiment begannen als "Experiment
in living international". So nannte sich ein kleiner
Verein in Lübbecke / Westfalen, den wir auf der Suche
nach alternativen Reisemöglichkeiten eher durch Zufall
entdeckt hatten. Er versprach eine völlig neue Erfahrung:
In vielen Ländern der Welt haben Gleichgesinnte,
Einzelpersonen und Familien, ähnliche Initiativen gegründet,
mit dem Ziel, einen individuellen Aufenthalt im jeweils
anderen Land zu ermöglichen, Besuche in der jeweils
anderen Familie. Wir beschlossen, uns auf das Experiment
einzulassen so landeten wir in "El Mirador".
General Ramirez ist der Großvater von Enrique Ramirez
Espino, dessen Adresse in Guadalajara / Mexico uns das Büro
in Lübbecke vermittelt hatte. In seiner Familie
verbringen wir das Weihnachts- und das Neujahrsfest,
bevor wir aufbrechen, das Land und seine Menschen zu
erkunden. Dabei werden wir quer durch Mexico von Tante zu
Onkel, zur Schwägerin weitergereicht, mexikanische
Familienbanden erstrecken sich übers ganze Land, und
mittlerweile über Kontinente: Die Familie Ramirez
hat uns bis heute nicht losgelassen.
Aber erst auf "El Mirador" wird uns verständlich,
weshalb zum Beispiel der ältere Bruder Enriques seinen
ersten Sohn Lenin getauft hat, und weshalb Enrique und
seine Schwester Studienjahre in Moskau verbracht haben.
An den Wänden der Veranda, die sich im Ersten Stock ums
ganze Haus zieht hängen goldgerahmte, vergilbte Fotos:
Der Großvater hoch zu Roß als General unter
Emiliano Zapata und Pancho Villa, den Heroen der
mexikanischen Revolution, das Windelkind Enrique in den
Armen des Taufpaten Lazaro Cardenas, Präsident Mexicos
von 1934 bis 1940.
Die Wände des Gebäudes sind so alt und brüchig wie der
Greis, der sich nach einem Hüftgelenkbruch nur noch mit
einem Gestell auf Rollen fortbewegen kann. Mürrisch ist
er, zum dritten Mal verheiratet mit einer resoluten Fünfzigjährigen,
die den Haushalt und den Landwirtschaftsbetrieb in Gang hält.
Einen Teil der Länderei hat der Alte seinen Arbeitern
abgetreten, fast jeden Tag kommen sie, um sich Rat bei
ihm zu holen nicht nur in landwirtschaftlichen
Angelegenheiten. Familienprobleme tragen sie ihm vor, ein
Sohn hat die Tochter des Nachbarn geschwängert, ein
anderer muß sich wegen aufrührerischer Reden vor der
Polizei verstecken. Unter den Besuchern tragen einige städtische
Kleidung. Sie kommen aus dem nahen Uruapan, und sie
kommen heimlich, den Alten zu sehen. Sie sind führende
Mitglieder der in jenen Jahren noch verbotenen
Kommunistischen Partei.
Nach einer Woche hat der alte Mann, neunzig Jahre ist er
alt, sein Mißtrauen uns gegenüber abgebaut. Nicht
unwesentlich trägt dazu bei, daß Elsa spanisch spricht.
Er wendet sich ihr zu, und alle Gespräche laufen über
sie, auch die stundenlangen Tonband-Interviews, in denen
er über die Ideale der Revolution reflektiert mit
dem Abstand eines enttäuschten, weise gewordenen
Patriarchen, der nicht rechtzeitig gestorben ist, und das
Erstarren der mexikanischen Entwicklung in einer korrupt
gewordenen "Institutionalisierten Revolutionspartei"
noch miterleben muß ein Jahr später hat er sich
erschossen.
Fünf Jahre nach diesem ersten Aufenthalt sehe ich die
Hazienda wieder, Enrique und ich nähern uns spät abends
bei Mondenschein. Sein alter VW-Käfer ist einige
Kilometer vorher liegengeblieben. Wir haben ihn in die Büsche
geschoben, das Gepäck geschultert und stapfen nun
bergauf, entlang den dicken Wasserrohren. Meine Hände spüren
Rost, hier und da ein Loch das Vibrieren der
Elektropumpe fehlt. Auf dem Berg ist es dunkel, eine
einsame Kerze brennt auf der Veranda. Dort, um einen
Tisch versammelt, sitzt der Rest der Familie beim
Abendessen, Frijoles die braunen Bohnen ,
Tortillas, Spiegeleier. Die Hausfrau legt noch zwei
Gedecke auf, sie ist still geworden ich erkenne
sie kaum wieder. Das Sagen hat ihr Sohn, der
Letztgeborene. Nach dem Freitod des übermächtigen
Vaters ist er aus der Stadt zurückgekehrt, um das
Regiment zu übernehmen. Doch ihn regiert die Tequila-Flasche.
Breit und aufgedunsen hängt er in seinem Korbstuhl, als
zu später Stunde ein alter Bauer unten ans Tor klopft.
Eine Familiensorge hat ihn hergebracht, Rat will er
suchen wie einst beim General. Das Schauspiel im
Kerzenlicht ist unwürdig, der Alte den Hut in der
Hand erhält keinen Platz angeboten, seine Klage
geht unter im Säuferlachen des jungen Herrn. Verwirrt
zieht er sich in den Schatten zurück, wo sich Enrique zu
ihm setzt. Geduldig hört er zu, schreibt ihm dann ein
Papier für die Behörden, mit dem der Alte in die Nacht
zieht er wird nie wiederkommen.
Mit dem letzten Zeugen der (vorerst) letzten
mexikanischen Revolution ist auch "El Mirador"
gestorben, der "Ausguck", den der General wohl
auch als "Ausblick" verstanden hatte.
Auf dem Gelände der Universität in Mexico-City hält
ein Fresko vier Jahreszahlen fest, die die mexikanische
Geschichte gewaltsam veränderten: 1520 der
Spanier Hernandez Cortes wurde, nur für ein Jahr, von
der indianischen Bevölkerung Tenochtitlans aus der Stadt
vertrieben, die heute eine der grössten und
schlimmsten Metropolen der Welt ist. 1810 der
niedere Klerus setzt sich an die Spitze des Aufstandes
gegen Spanien, Priester wie Hidalgo y Costella, begannen
den Kampf um die Unabhängigkeit. 1857 nach dem
Verlust fast der Hälfte des Territoriums im
Mexikanischen Krieg an die USA setzte der erste Präsident
indianischer Herkunft, Benito Juarez Garcia, eine
Verfassung durch, die neben der radikalen Trennung von
Kirche und Staat auch die weitgehende Enteignung des
Kirchengutes und der Latifundien beinhaltete. 1910
Soziale Kämpfe mündeten in die mexikanische Revolution
mit den Führern Emiliano Zapata und Pancho Villa, die um
ihren Einsatz betrogen wurden, als sich die Revolution
"institutionalisierte". Als letztes Datum
findet sich auf dem Fresko die Zahl "19??" Es
war noch nicht das Jahr 1968, als im Vorfeld der
Olympiade Polizei auf dem Platz von "Tlatelolco"
in Mexico-City den Aufruhr von Studenten zusammenschoß.
Wir satteln noch einmal die Pferde von "El Mirador",
Enrique und ich. Wir reiten hinaus ins Land, wo wir vor fünf
Jahren in der weiteren Umgebung des Generals noch ein
wenig von der Atmosphäre des Aufbruchs gespürt hatten,
spontan eingeladen worden waren zu einem Fest im nahen
Dorf, an einem Hang den Erfindergeist eines Zuckerkochers
bewundert hatten, der in eigener Initiative braune Kegel
aus Zuckerrohr für die Dorf-Märkte produzierte: Ein
riesiges Wasserrad am Bergbach drehte die Walzen, die den
süßen Saft aus dem Rohr preßten. In Holzrinnen floß
der Saft hinab in die gemauerten Siedewannen, unter denen
das ausgepresste Rohrstroh für Feuer sorgte. Die dicke
Masse strich der Mann auf Holzbohlen mit Reihen kegeliger
Löcher, die dann auf den heißen Steinen trockneten
bis er sie herausklopfte, Berge von Zuckerkegeln.
Ein kleiner Einmannbetrieb, beeindruckend in seiner
intelligenten Nutzung der natürlichen Gegebenheiten
kein Strom, kein Benzin ein ewiger
Kreislauf nützlicher Arbeit.
Wir finden den Platz kaum wieder. Erst als wir in
hochgeranktes Dickicht eindringen, stoßen wir auf die
Ruine der Backsteinhütte. Die Dachbalken sind verbrannt.
Das Wasserrad zerschlagen und verrottet. Trauer
steigt in mir auf. Enrique wendet schweigend sein Pferd
an diesem Nachmittag verlassen wir "El
Mirador".
Im Sommer 1985 erreicht mich in Harare ein Brief meines
mexikanischen Bruders: Ich werde zu seiner Hochzeit
eingeladen, als Trauzeuge. Die Hochzeit ist für den
September angesetzt in der Tschechoslowakei!
Enrique ist an seiner alten Heimat verzweifelt, er sucht
eine neue.
Diese Suche begann in einer Gesellschaft, die Enrique früh
mit männlicher Geltungssucht konfrontierte, mit dem
"Machismo" lateinamerikanischer Prägung, der
dort doch nur folkloristischer ausgeschmückt ist, in
seiner Brutalität aber ebenso in Europa oder Afrika mehr
oder weniger verborgen weiterwirkt. Er stellt die
eigentliche Teilung der Welt dar: Die Erste Welt
als die Welt der Männer die Dritte als die Welt
der Frauen.
Sporen und Revolver "El Rey", der "König",
"und hab ich auch kein Geld, mir gehört doch die
Welt", der Männlichkeitswahn manifestiert sich in
diesem Lieblingslied der Mexikaner. Ich höre mir die
Tonbandaufnahme an, eine der eindrucksvollsten, die ich
je gemacht habe. Schöne, kraftvolle Stimmen, schon
leicht angetrunken, Männer und Frauen singen im
Garten eines Hauses in Tuxtla Guiterrez, Hauptstadt des
mexikanischen Staates Chiapas. Zufällig sind wir in
dieser späten Nacht Gäste einer Silberhochzeit. In
Gegenwart der großgewordenen Familie sind Mann und Frau
an diesem Tag noch einmal vor den Altar getreten, haben
auf der abendlichen Prozession von der Kirche zu ihrem
Haus die beiden Fremden bemerkt und sie zu sich geladen,
dieses Fest mit ihnen zu feiern. Während leere Bier- und
Tequila-Flaschen über den steinernen Boden rollen,
singen sie dieses Lied, die Hymne des herrschenden Mannes.
In der Sylvesternacht der Jahreswende 1974/75 haben bei
Freunden in Guadalajara die Männer an der Garderobe mit
ihren Jackets die Pistolenholster aufgehängt. Nach
Mitternacht und beißendem Streit mit ihrem Ehemann nimmt
eine Frau die dunklen Sonnengläser ab, ihre Augen sind
blau geschlagen. Sie läßt sich zum Auto eines Freundes
bringen, akzeptiert unsere Begleitung. Ziel ist das nächste
Krankenhaus. Dort amtiert in dieser einen Nacht des
Jahres ein Staatsanwalt. Er registriert das Attest des
Arztes und nimmt das Scheidungsgesuch der geschlagenen
Ehefrau entgegen. Während wir warten, wird der erste
Tote des neuen Jahres eingeliefert: In alkoholgeschwängertem
Streit hat ihn ein Partygast erschossen.
Die Macht der Männer wird auf andere Weise sichtbar, als
Enrique uns zu seinem Onkel, einem katholischen Priester,
bringt, in die "Ciudad de los niños", einem
Heim für Kinder in Guadalajara, deren Väter nicht mehr
der Verpflichtung gegenüber ihren zweiten oder dritten
Frauen nachkommen. In diesem Land heißt das Ziel der
schweifenden Männer "Casa chica", das "Kleine
Haus". Enrique hat erst als junger Mann erfahren, daß
er neben den Geschwistern, mit denen er aufwuchs, noch
andere hat, in ein bis zwei "Kleinen Häusern".
Mit siebzehn verließ Enrique das erste Mal die Heimat.
Die Beziehungen des Großvaters brachten ihn für drei
Jahre in jenes Land, das erst sieben Jahre nach Mexico
die eigene Revolution begann in die Sowjetunion,
brachten ihn in ein wirklich erstarrtes Klima, beherrscht
von alten Männern hinter Ideologie-Mauern dicker als die
des Kreml. In der Lomonossow-Universität entdeckte er
immerhin seine Begabung, Sprachen rasch zu erlernen
nur, was tut ein Mexikaner mit perfekten Russisch-Kenntnissen
nach Rückkehr in die ungeliebte Heimat? Enrique
studierte abends weiter und verdiente sich tagsüber das
Geld bei AEROFLOT, dem sowjetischen Luftfahrtbüro in der
mexikanischen Hauptstadt.
Über Mexico-City gehen die AEROFLOT-Flüge weiter nach
Havanna auf Kuba! Eine Weile geht alles gut, mein
mexikanischer Bruder kann mich ein- bis zweimal im Jahr
mit stark verbilligten Tickets in Deutschland besuchen.
Es sind kleine Fluchten, die ihn das Leben zu Hause
ertragen lassen. Bei gemeinsamen Ausflügen erstaunt er
mich mit Detailkenntnissen über selbst kleinste deutsche
Städte daheim studiert er Geographie. Er reist zu
Freunden und Verwandten der Exilanten-Kolonie Mexico-City's
nach Polen und in die Tschechoslowakei, bringt ihnen Grüße
und Geschenke, praktiziert sein Russisch. Nach einem
Urlaub im Winter, den er besonders liebt, kehrt er zurück
und wird auf dem Flughafen von Mexico-City von Herren in
Zivil beiseitegenommen. Der Wanderer zwischen den Welten
lernt die Kontrolleure dieser Freiheit kennen: Beamte des
mexikanischen und des amerikanischen Geheimdienstes
setzen ihn unter Druck er soll die Transit-Listen
für Havanna kopieren. Enrique nutzt einen AEROFLOT-Fortbildungskurs
in Moskau, um seinen Arbeitgeber über dieses Ansinnen zu
informieren. Das bringt ihn endgültig in die Falle: Nun
wollen ihn die Russen einspannen, er soll das Spiel
mitspielen, und sie auf dem Laufenden halten über die Wünsche
der anderen.
Eine Karriere stünde offen als Hilfsarbeiter der
beiden Großmächte, direkt und ohne Umschweife, wie sie
als Rolle in diesem pervertierten "Nord-Süd-Dialog"
maßgeschneidert erscheint.
Enrique kündigt. Er wechselt den Arbeitgeber und fliegt
nun mit verbilligten AERO MEXICO-Tickets weg aus seiner
Heimat, kommt mich auf Zwischenaufenthalten weiter
besuchen, aber sein Ziel ist nun klar: Irgendwo, abseits
von weiteren Verletzungsmöglichkeiten beginnt er, sich
ein Nest zu bauen.
Im August 1987 kam sein Sohn Jan auf die Welt, geboren
von Jitka, deren Heimat nun die meines Bruders aus Mexico
wird.
Als meine Frau und ich in jenem Winter 1986/87 beide
besuchen, ist unsere erste Station Prag versunken in
Schnee. Auf der Suche nach unserer Übernachtungsadresse
haben wir uns spät in der Nacht restlos verirrt und
landen auf einem leeren Busbahnhof. Kaum haben wir ihn
wieder verlassen, stoppt eine Polizeistreife unseren
Wagen mit dem D-Kennzeichen. Wir sind erleichtert, können
wir doch jetzt auf Hilfe hoffen. Die Hilfe bleibt aus,
stattdessen zahle ich zweihundert Kronen Strafe für
widerrechtliches Befahren eines leeren Busbahnhofes.
Unseren Weg müssen wir alleine suchen.
Mein Bruder ertrug diese Art von Kälte nicht. Wegen
seiner Sprachkenntnisse beschäftigten ihn die
staatlichen Arbeitgeber als Dolmetscher für Touristen im
ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt! Dann
schoben sie den Vollakademiker an die Rezeption eines
Hotels ab, wo er nebenbei Zimmer zu säubern hatte.
Ohne Hoffnung auf einen zweiten Frühling in Prag floh er
allein zurück nach Mexico, wo Jahre zuvor
der erste Versuch, eine Heimat für seine Familie zu
schaffen, gescheitert war. Daß wenige Monate später ein
Schriftsteller als Präsident in den Prager Hradschin
einziehen würde, mit dem Versprechen, die Eiszeit zu
beenden, war noch ein Sänger-Traum "Imagine"!
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