DER WEG NACH ZIMBABWE oder VERSUCHE, DIE FREMDE ZU VERSTEHEN
© 1990 — Klaus Jürgen Schmidt



TEIL II



"Die Fremde spielt sich im Kopf ab;
man nimmt sie mit, wie weit auch die Füße tragen."




HEIMAT ?


"Wo bist Du eigentlich zu Hause?"

"In most languages there is no precise translation for the German word 'Heimat'. It does not necessarily refer to where someone was born or the area where he grew up. 'Heimat' is where a person feels at home, identifying with the physical and human environment..."
(Press and Information Office of the Government of the Federal Republic of Germany, Bonn, Kalender 1987)

Zu Hause? Ich habe ein Haus in Deutschland, und ich habe ein Haus in Afrika.

Kurz nach dem Jahreswechsel 1986/87 stehe ich frierend an einer Grenze, die mich von meiner Heimat trennt — meine Heimat?
Seit 23 Jahren war ich nicht mehr dort, wo ich geboren wurde, wo ich in der Schule Karl Marx las — und zu Hause Karl May, mein erster Zugang zur Welt exotischer Völker.

"We all have to leave our 'Heimat' just as we have to leave childhood. 'A man must go out and face the hostilities of life' Schiller says in his poem 'The Bell'. We would not grow up if we were to stay in the security of prenatal and childhood existence. It is an old image of life that describes our having to leave our 'Heimat' and enter a part of the world unknown to us..."
(Helmut Gollwitzer, Theologian, 1982 — Kalendertext 1987)

Ich habe uralte Männer und Frauen gesehen in den Bergen und Tälern, auf Ebenen und Inseln — in Asien, in Südamerika, in der Karibik und im Südpazifik — und nun in Afrika, die nie in ihrem Leben weiter weg waren von zu Hause als ihre Füße sie tragen konnten, und die alles Glück und alle Grausamkeit der Welt durch die Spanne ihres Lebens in Weisheit verwandelten. Eine Weisheit, die es ihnen und ihren Vorfahren erlaubte, in Bescheidenheit zu leben — und ihren Nachfahren eine Heimat zu geben.

Wir haben uns angewöhnt, von einem Nord-Süd-Dialog zu sprechen. Also kehrte ich von diesen Männern und Frauen im Süden immer wieder zurück in den Norden, um diesen Dialog zu befördern, kehrte zurück zu tauben Ohren, in eine Welt der Unbescheidenheit, des Überflusses, in eine Welt der ausufernden Technologie ohne Weisheit. Deren Botschafter begannen früh — als Missionare, als Kaufleute, als Soldaten — auszuschwärmen, einen Dialog haben sie nie gesucht.

Ich gehöre einer neuen Kategorie dieser Botschafter an, entsandt als Experte des Nordens für den Süden. Wir Experten können weiter laufen als die Füße tragen. Wir sollen bringen, nicht suchen — wir bringen Hilfe, genormt nach der Bundesbauordnung, geordnet nach dem nördlichen Maß aller Dinge, eingepasst in politisch-ideologische Konzepte, vor dem Hintergrund ökonomischer Interessen. Geben und Nehmen — ist das der erwünschte Dialog?

Jetzt bin ich in Afrika — auf Zeit — zu Hause. Ich suche nach dem, was Heimat ausmacht, für mich — und für die Menschen, unter denen ich lebe in der Fremde. Was fremd ist, verunsichert, macht gelegentlich sogar Angst. Angst wirft zurück auf vertraute Normen, blockiert die Sinne für neue Erfahrungen und vereitelt jede Bereitschaft zur Überprüfung eigener Werte, auf beiden Seiten. Da beginnt die Schwierigkeit des Dialogs.

Mein Absender, die Bundesrepublik Deutschland (der Norden), sorgt dafür, daß ich etwas zu verschenken habe (dem Süden) — public relations: Die Kalender hat mir rechtzeitig vor Jahreswechsel ein Beamter der deutschen Botschaft (West) in Harare / Zimbabwe stapelweise überreicht. Ich habe sie gerne weitergegeben — nach zwei Jahren in Afrika schon wieder ein bißchen geneigter, Bilder aus der Heimat zu betrachten — und so schöne:
Week 1 (December 1986 / January 1987) — Nur ein Bild, Sonnenuntergang an der Nordsee, Strand schon im Schatten, zwei Menschen als Silhouetten weit hinten. Text:
"Someone walking across the mudflats at low tide, alone with his thoughts, might be inspired to reflect on something scientists feel fairly sure about, i.e. that life originated in the sea some time in the distant past."
Die Bilderreise durch den Kalender von Nord nach Süd — Watt, Torf, Fachwerk, Schlösser, Industrie, Kirchen, Brunnen, Berge — endet bei:
Week 1 (December 1987 / January 1988) — Drei Fotos, 1. ein strahlender Glatzkopf mit Vorschlaghammer, 2. zwei Azubis mit Mercedes-Stern auf blauem Kittel, der eine blond und schüchtern, der andere forsch und coloured, 3. ein billiger Jakob, eine Staude Bananen feilbietend, vor einem Kartonstapel mit mehr "Bananas". Text:
"'Heimat' is knowing where you come from and where you belong. It is where you have found your place in life, your livelihood. It is where your family and your friends live. In brief it is where you feel 'at home'."

Ich habe mich für fast drei Monate verabschiedet beim Partner in Afrika mit diesem Kalender als Präsent.
"Ich gehe heim — nach Hause."
"Wo bist du eigentlich zu Hause?" hat er gefragt. "Was ist Heimat?"
Natürlich auf Englisch, das ist die Sprache, in der wir uns verständigen. Daheim spricht er Shona, daheim spreche ich Deutsch.

"The English word 'home', used in a broad sense, probably comes closest to rendering the meaning of 'Heimat'."
(Press and Information Office of the Government of the Federal Republic of Germany, Bonn, Kalender 1987)

Mein Partner hat es schwer, seine Leute auf den deutsch-deutschen Unterschied zu trimmen. Gelegentlich zeigen sie im TV zum richtigen Boschafter den falschen Namen, der Name des DDR-Botschafters (der Tage zuvor eine Ladung Kinderbücher übergeben hat) zum Bild des BRD-Botschafters, der gerade einen Vertrag über 32 Millionen Mark technischer Hilfe unterschreibt. Am nächsten Morgen bekommt der BRD-Botschafter Genugtuung: Ein kleinlauter Anruf meines Partners, der um Entschuldigung bittet. Das Verständnis bei der BRD-Botschaft hält sich in Grenzen — sie geben sich solche Mühe, und das ist der Dank. Dabei ist es kein böser Wille: "West Germany" — "East Germany", die Unterscheidung wäre so einfach, aber das Bonner Auswärtige Amt besteht auf "Federal Republic of Germany" — ist das keine "German Democratic Republic"?

Bonns Botschafter laden weltweit — also auch in Zimbabwe — zu einem nationalen Feiertagsempfang, der bei meinem Partner zu einem gründlichen Mißverständnis führt: Was war am 23. Mai 1949?
Small Talk unter den Fahnen Westdeutschlands und Zimbabwes sowie drei Bildern: Links Präsident Canaan Banana, rechts Premierminister Robert Mugabe, in der Mitte Richard von Weizsäcker.
Vor gut einem Monat, am 18. April, hatten die Zimbabwer den Fünften Jahrestag ihrer s e l b s t erkämpften Unabhängigkeit gefeiert. Von solchem Kaliber sind nationale Feiertage in Afrika.
Das Mißverständnis nimmt seinen Lauf.
"Wollen wir anstoßen auf den Tag Eurer Unabhängigkeit?" fragt mein Partner, und in seinem trockenen Martini klingeln die Eisstücke.
Mit dem Klingeln wird mir bewußt: Wir haben keinen Tag der Unabhängigkeit, zu Hause ist der 23. Mai nicht einmal ein Feiertag. Was hier und heute gefeiert wird, heißt (kleingedruckt) im schon zitierten Kalender:

"Promulgation of the Basic Law (Constitution) of the Federal Republic of Germany (1949)."

Mein alter Chefredakteur Harry Pross nannte den Vorgang einst "Restauration".

Jetzt klingeln die Eisstücke in meinem Gin Tonic — anhaltend — zur Überbrückung der Denkpause:
Vor vierzig Jahren ging in Deutschland kein nationaler Befreiungskrieg zu Ende. Soldaten der Großdeutschen Wehrmacht, die im letzten Moment dem Größten Feldherrn aller Zeiten (Gröfaz) die Treue aufkündigten, wurden vielmehr noch eiligst vor Erschießungkommandos gestellt, von Richtern, die eben diese Verfassung, die wir heute feiern, als Basis neuer Karrieren nutzten — einer schaffte es in dieser demokratischen Republik bis zur Besetzung eines Ministerpräsidenten-Sessels.

"Reconciliation", denke ich, "Versöhnung" — das Schlüsselwort der Politik Robert Mugabes — ist das mit dem zu vergleichen, was damals bei uns passierte? Der alte rhodesische Geheimdienstchef, verantwortlich für Tortur und Morde, von Mugabe im Amt behalten, Ian Smith, verantwortlich für Zehntausende Gefallene und für die Etablierung von Mordbanden im heutigen Mozambique, als honoriges Mitglied im neuen Parlament!
Aber nein, diese Verfassung im neuen Zimbabwe ist nicht selbstgewählt — noch nicht im sechsten Jahr der Unabhängigkeit. Sie ist ein zeitlich limitierter Kompromiß, festgelegt von Notaren im britischen Lancaster House. Die Zimbabwer sind noch nicht Herr im eigenen Haus, aber auf ihrem Handlungsplan steht keineswegs Restauration — der lange Weg des Aufbruchs hat eben erst begonnen. Als Wegbegleiter wird akzeptiert, wer bereit ist zu lernen.

Während das Eis in meinem Glase schmilzt und ich meinem Partner die Antwort schuldig bleibe, beginne ich zu verstehen, daß ich Zeuge u n d Objekt eines Prozesses bin, der noch einmal die Chance für Lernfähigkeit eröffnet, für mich ganz privat, aber vor allem für dieses Volk im kleinen Zimbabwe und seine Partner in der großen Welt: Im nächsten Jahr wird Robert Mugabe den Vorsitz der Blockfreienbewegung übernehmen, und in der Machtzentrale des einen weltbeherrschenden Blocks hat ein mühsames Umlernen schon begonnen.

 
 
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