DER
WEG NACH ZIMBABWE oder VERSUCHE, DIE FREMDE ZU VERSTEHEN
© 1990
Klaus Jürgen Schmidt
DER WEG ÜBER DEN "HO CHI MINH PFAD"
Unter dem Stichwort "Vietnamkrieg" findet sich
seit 1980 in fast allen westdeutschen Nachschlagwerken an
prominenter Stelle der Literaturhinweise Peter Scholl-Latours
Bestseller "DER TOD IM REISFELD". Das Bild des
Vietnamkrieges ist westdeutschen Fernsehzuschauern
jahrzehntelang hauptsächlich durch s e i n e Optik
vermittelt worden. Was für ein Bild? Gert von Paczensky
hat in seinem Vorwort zu meinem, in einem mutigen, aber
damals eher maroden Verlag erschienenen Leastseller
"LEBEN IM REISFELD" (1984, Peter Hammer Verlag,
Wuppertal) folgendes notiert:
"Leben im Reisfeld der Titel antwortet auf
Peter Scholl-Latours Bucherfolg 'Der Tod im Reisfeld',
eine mit gewaltigem Reklameaufwand verbreitete Sammlung
mehr oder minder launiger Feuilletons. Der Fernsehstar
erzählt von der indochinesischen Tragödie aus der Sicht
des hochmütigen Europäers Anekdoten und Erfahrungen,
hinter deren oberflächlicher Episodenmalerei Hintergrund
und Zusammenhänge seltsam undeutlich bleiben, ganz wie
in der routinierten Fernsehberichterstattung, und
teilweise verfälscht erscheinen. Das Schicksal der von
der Tragödie betroffenen Menschen, der Opfer, war dem
Autor offensichtlich nicht interessant genug für
vertiefende Schilderung...
Die Indochinakriege sind wichtige Einschnitte in die
Weltgeschichte gewesen. Ihre Bedeutung, ihre Ursachen
konnten in der Bundesrepublik leider kaum erkannt werden.
Nach jahrelanger falscher Unterrichtung durch fast die
gesamte Publizistik hat dann das Ho Tschi Minh-Geschrei
der 1968er Kolonnen in Berlin, Bonn und anderswo die
Ohren der Bürger zu sehr verstopft, statt sie
aufzuwecken. Da blieben keine Chancen, nachzudenken. Die
Vereinnahmung der mörderischen Auseinandersetzung als
Slogan für die Protestbewegung war eine monumentale
Frechheit. Die damaligen Wortführer, heute in
respektablen Stellungen mit publizistischem Auslaß in
den Medien des Konformismus, werden wohl nicht mehr auf
den Gedanken kommen, daß sie uns noch immer eine Erklärung
schulden, und den Opfern des indochinesischen Dramas eine
Entschuldigung: für den Mißbrauch, und für die
gedankenfaule oder feige Unlust, sich ihrer wenigstens
heute ernsthaft anzunehmen. Sei es auch nur dadurch, daß
sie endlich die faire, ernsthafte Information über jenes
Gebiet und seine gequälten Völker herbeiführen,
erzwingen, die noch immer fehlt diejenigen, die
seinerzeit unsere Öffentlichkeit falsch informiert
haben, sind ja noch immer am Werk, und auch sie kommen
offensichtlich nicht auf den Gedanken, da gäbe es etwas
zu erklären..."
Aus den Gesprächen mit Lisa Niebank war ich mit geschärfter
Aufmerksamkeit zurückgekehrt an die Fernschreiber der
Nachrichtenagenturen, die den aktuellen Redaktionen den
Grundstoff für die täglich verbreitete Weltsicht
liefern.
Zehn Jahre am Nachrichtentisch bei Radio Bremen boten
Streß und Chance zugleich. Anders als in den größeren
Sendeanstalten, wo ein ganzes Team mit einem
Schichtleiter jede Stunde in fünfundsiebzig Zeilen
oder fünf Minuten den Lauf der
Weltgeschichte darstellt, war beim kleinsten Sender während
einer Schicht ein einziger Redakteur für Auswahl,
Reihung und sprachliche Gestaltung der sechs bis zehn
Themen pro Nachrichtensendung verantwortlich.
Radio Bremen erhielt in jenen Jahren den Ehren-/Schimpf-Titel
"Radio Hanoi", der lange Korridor, über den
die "konspirativen" Redakteure hasteten, hieß
im Hausjargon "Ho Chi Minh-Pfad", und als Folge
der Auseinandersetzungen zwischen den Etagen der
Medienarbeiter und der Medienverwalter um Objektivitätsgebote
des Rundfunkgesetzes etablierte sich beim kleinsten
Sender der Republik nebenbei die erste Redakteursbewegung
der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Unter
anderem ihrer Aufmüpfigkeit war es zu verdanken, daß
ich damals nicht meine berufliche Heimat bei Radio Bremen
verlor und u.a. den Gastspielen des
journalistischen Archetypen Gert von Paczensky als
Chefredakteur, daß ich nicht zum Rundfunkbeamten verkam.
Es ist ja nicht bloß der individuelle Mangel an Lern-
und Reflektionsbereitschaft, der journalistische Produkte
zur zweifelhaften Ware macht. Es ist auch die Angst von
Parteibuchhaltern und Zeitgeistkontrolleuren in den
Redaktions- und Verwaltungsspitzen, die Gunst der Mächtigen
in Politik und Wirtschaft zu verlieren.
In den Sechziger Jahren bedurfte es noch der Dreistigkeit
eines Erich Mende, in seiner Eigenschaft als Vizekanzler
und Minister für gesamtdeutsche Fragen per Rundbrief an
alle Radioredaktionen den deutschen Sprachgebrauch zu
regeln: Er verbot erfolgreich die Verwendung des Kürzels
"BRD" für "Bundesrepublik Deutschland"
in Nachrichtenmeldungen, Grund: die DDR-Medien hatten
begonnen, diese raum- und zeitsparende Abkürzung zu
verwenden. Das war die Ära, in der die DDR in Bonner
Regierungskreisen (und natürlich in den meisten
westdeutschen Medien) nach wie vor als "SBZ"
bezeichnet wurde, für "Sowjetische Besatzungszone".
In den Siebzigern, als es darum ging, ob Baader-Meinhof
als "Gruppe" oder als "Bande" zu
benennen sei, war ein Rundbrief längst nicht mehr nötig,
kaum ein Journalist hatte noch den Mumm, darüber eine
Diskussion vom Zaun zu brechen und sich dabei des
Verdachts des Sympathisantentums auszusetzen.
Das also war die Atmosphäre, in der Radio Bremen seinen
"Ho Chi Minh-Pfad" erhielt, und ich die Ankündigung
meines Rausschmisses.
Heimat ist vor allem auch durch Sprache gekennzeichnet,
dieses Transportmittel von Gedanken und Gefühlen, das
durch Erfahrungen in einer gemeinsamen Erlebniswelt geprägt
wird. Die differiert schon von Landstrich zu Landstrich
und kann zu sprachlichen Mißverständnissen innerhalb
einer Nation führen: Als der Bremer Karl Carstens (CDU)
1976 während seiner umstrittenen Kandidatur für das
Bundespräsidentenamt von dem Bremer Henning Scherf (SPD)
einer rechten "Gang" zugeordnet wurde, gab es
im deutschen Süden einen Aufschrei des Protestes. Scherf
konnte kühl kontern, im Norden sei allgemein bekannt, daß
es sich bei einer "Gang" um eine Arbeitskolonne
handele und verwies auf Radio Bremen, das jeden Mittag
zum Abschluß seiner Regionalsendung die Vorarbeiter der
durchnummerierten "Gangs" in den Häfen
zusammen mit dem jeweiligen Arbeitsbedarf bekanntgibt.
Eines Morgens bekomme ich die Folge von sprachlicher
Differenzierung fast handgreiflich zu spüren, ein vor
Wut zitternder Chefredakteur stürmt in die Redaktion, in
der ich an meiner vierten Nachrichtensendung dieses
angebrochenen Tages bastele. Der amerikanische Senator
Fulbright hat die Schliessung des Münchener "US-Propagandasenders
Radio Free Europe" gefordert. So stand es im Text
der Nachrichtenagenturen, und als Zitat hatte ich es so
in den Radio Bremen-Nachrichtentext übernommen. Das
hatte den Adrenalin-Spiegel des Politik-Chefs steigen
lassen, der aus seinen Erfahrungen als Korrespondent in
Moskau mit "Propaganda-Sender" andere
Vorstellungen verband und dem es nun endgültig das Frühstück
verhagelt hatte. Monatelang hatte er sich nun schon anhören
müssen, wie seine Nachrichtenabteilung um zehn Uhr
vormittags etwa von neuen "Terroranschlägen"
des "Vietcong" in Vietnam berichtete, während
eine Stunde später nach Schichtwechsel der
Urheber plötzlich eine "Nationale Befreiungsfront
Vietnams" war. Jetzt war ihm der Geduldsfaden
gerissen. Bevor es zu Handgreiflichkeiten kommt,
entweicht sein Redakteur in die Bibliothek. Im "Wörterbuch
zur Publizistik" von Kurt Koszyk und Karl H. Pruys
steht auf Seite 292 unter dem Stichwort "Propagandasender":
"Rundfunkstationen, die ihre Sendungen ins Ausland
ausstrahlen und deren Programme zu einem nicht
unwesentlichen Teil der Propaganda der verschiedenen
politischen Systeme dient sowie zur 'Selbstdarstellung'
vor der übrigen Welt beitragen soll. Zu den größten
Rundfunkorganisationen dieser Art (die meisten stehen
unter Regierungsaufsicht) zählen Radio Moskau (200
Programmstunden / 85 Sender), Radio Peking (130
Programmstunden / 50 Sender), Ost-Berlin (65
Programmstunden / 8 Sender), Voice of America (175
Programmstunden / 105 Sender), British Boadcasting
Corporation (90 Stunden / 60 Sender)."
Am nächsten Morgen liegt eine Fotokopie auf dem
Schreibtisch des Chefredakteurs und ein Ausschnitt aus
der Nachrichtenseite der "Bremer Nachrichten"
vom 25.02.72:
"...Die beiden in München stationierten
amerikanischen Propagandasender 'Radio Free Europe' und
'Radio Liberty' arbeiten seit Mittwoch ohne gesicherte
Finanzen..."
Kleinkrieg am "Ho Chi Minh-Pfad" Radio Bremens,
der zu einem Stellungskrieg ausartet. Der Chefredakteur
beginnt eine Akte anzulegen es wird die dickste
Akte über einen einzelnen Mitarbeiter in der Geschichte
des kleinsten Senders der Bundesrepublik. "Zu viele
unbedeutende Meldungen über Ereignisse in der Dritten
Welt", notiert er und erhält postwendend die Kopie
einer Rede des Intendanten auf einer Medientagung, die
das Versprechen enthält, in den ARD-Nachrichten gründlicher
auf eben jenen Teil der Welt einzugehen. Zum Vergleich läßt
der Chefredakteur sich regelmäßig Fotokopien der
parallelen Nachrichtensendungen anderer ARD-Sender
schicken, um nachzuweisen, daß in den SchmidtSchichten
Radio BremenHörer eine andere Nachrichtenauswahl
erhalten. Der Nachweis gelingt und wird zum
Rohrkrepierer: Zur Gleichschaltung brauche das föderative
Rundfunksystem dann ja nur eine einzige
Nachrichtenredaktion!
Schließlich erhält Schmidt die Auflage, alle
Manuskripte seiner Arbeiten über die chinesische
Entwicklung für die er in jener Zeit dankbare
Redaktionen auch bei Radio Bremen fand dem
Chefredakteur zur Genehmigung vorzulegen. So kommt es
eines Tages zu der paradoxen Situation, daß ein
anderen Sendern schon zur Übernahme angebotenes Programm
beim "roten" Radio Bremen Sendeverbot
erhält, aber vom "schwarzen" Süddeutschen
Rundfunk ausgestrahlt wird. In Abwesenheit des Zensors
wagt es dann doch ein Radio Bremen-Redakteur ein Programm
über chinesische Entwicklungspolitik in Afrika zu
produzieren und zu senden doch damit ist das Ende
der Fahnenstange erreicht: An einem Wochenende wird der
Dissident zum Intendanten bestellt. Dort sind schon
versammelt: der Programmdirektor, der Chefredakteur, sein
Stellvertreter und der Chef der Nachrichtenredaktion, auf
dem Tisch liegt die Akte!
Drei Monate bis Ende des Jahres 1972 erhält
der Dissident als Frist, sein Verhalten zu ändern, sonst
stehen nur noch zwei Alternativen zur Debatte: Selber zu
kündigen, oder gekündigt zu werden. Schmidt weiß, daß
dies einem Berufsverbot gleichkäme jemand, der
bei Radio Bremen fliegt, hat bei der übrigen ARD keine
Chancen mehr. Er sucht Rechtsschutz bei seiner
Gewerkschaft und bemüht sich, seine unveränderte
Nachrichtenarbeit noch sorgfältiger mit schon
vorausbedachten Argumenten abzusichern. In diesen
Nervenkrieg platzt einen Monat vor Ablauf des Ultimatums
eine Bombe. Sie hat die unschuldige Form eines Telegramms
aus Bonn: Beim Journalisten-Wettbewerb der
Kinderhilfsorganisation "Terre des Hommes"
unter der Schirmherrschaft von Entwicklungshilfeminister
Eppler (dem Vorgänger heutiger BMZ-Wettbewerbe) hat der
Beitrag des Radio Bremen-Dissidenten über chinesische
Entwicklungshilfepolitik in Afrika den ersten Preis
erhalten! Wom!
Der Chefredakteur vermeidet eine Gratulation und
sitzt bärbeißig im Konferenzraum des Kasinos, an dessen
Wand nun Urkunde und Foto des jüngsten Radio Bremen-Preisträgers
hängen. Der Intendant auf dem Absprung in eine höhere
ARD-Etage wehrt sich im Januar gegen eine "SPIEGEL"-Notiz
(die ihm unterstellt, vor seinem Abgang den "eisernen
Besen" herauszuholen) mit dem Leserbrief-Hinweis,
der "Fall Schmidt" sei "Schnee vom
vergangenen Jahr" und der Dissident bereitet
sich darauf vor, endlich die "Dritte Welt"
selber in Augenschein zu nehmen: Der Erste Preis ist eine
Reise nach Vietnam!
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