DER WEG NACH ZIMBABWE oder VERSUCHE, DIE FREMDE ZU VERSTEHEN
© 1990 — Klaus Jürgen Schmidt



EIN STAUDAMM UND SEIN NUTZEN



Einen Tag später verließen wir Manila und fuhren für zwei Wochen in den Norden der Insel Luzon. "In die Reiskammer der Philippinen," wie unser Begleiter erklärte.
Er war kein Filippino, sondern ein Mann aus Chile — das ist ein Land in Südamerika. Er arbeitete zusammen mit Fachleuten aus aller Herren Länder im "Welternährungsprogramm". Das ist eine Organisation der Vereinten Nationen, die dafür sorgen soll, daß Lebensmittel von dort, wo es zu viele gibt, dahin geschafft werden, wo es keine gibt.
"Das ist jedenfalls die Idee gewesen," meinte Klaus. "Jetzt aber werden Lebensmittel aus internationalen Spenden ausgerechnet in die 'Reis-Kammer' der Philippinen geschafft. Warum? Keiner kann hier in Manila eine Antwort geben. Wir fahren also hin. Vielleicht finden wir die Antwort am Staudamm von Pantabangan."

Wir fuhren sehr früh los. Die Fahrt sollte fünf Stunden dauern.
Der Mann vom "Welternährungsprogramm" hatte eine große schwarze Limousine samt Chauffeur zur Verfügung. Auf den Türen prangte in einem runden, hellblauen Feld eine Korn-Ähre. Hellblau — das hatte ich schon gelernt — ist die Farbe der Vereinten Nationen, und Autos aller Sorten mit dem hellblauen Zeichen auf der Tür traf ich in ganz Südost-Asien.
"Das ist der größte Auto-Verleih der Welt," bemerkte Klaus. "Der Wagenpark der UNO-Organisationen wird nur noch vom Glanz ihrer Büro-Paläste übertroffen. Wißt ihr, nach den Vorbesprechungen für diese Reise am Europa-Sitz der Vereinten Nationen in Genf dachte ich ja, nun käme ich endlich zu den Fachleuten im Feld. Ihr seht ja, wo wir gelandet sind — erst mal wieder ein neues Verwaltungszentrum!"
Und das befand sich zwischen zwei Bank-Hochhäusern — man konnte es leicht verwechseln.
Obwohl es ziemlich warm war, trug der Mann vom "Welternährungsprogramm" einen Anzug, weißes Hemd und Krawatte — er sah gar nicht nach einem Land-Ausflügler aus. Das fand ich nur solange komisch, bis es bei geschlossenen Fenstern und laufender Klima-Anlage im Auto lausig kalt wurde. Nach fünf Stunden Fahrt wartete ein Schnupfen auf mich, das merkte ich spätestens bei der zweiten Pause — raus aus der Kälte, rein in die Wärme und umgekehrt.
"In solchen Autos trägt man eben Schlips," meinte Klaus, den es nicht weniger fröstelte. Mir ist nie richtig klargeworden, ob die Leute Anzug und Schlips anziehen, weil die Klima-Anlagen ihrer Autos so kalt sind, oder ob sie diese Klima-Anlage im Auto haben, um Anzug und Schlips tragen zu können — als Ausdruck ihrer Würde!

Wir ließen das flache Land mit den saftigen Reisfeldern zurück und kurvten in die kahlen Berge. Und dann sahen wir es plötzlich in der Mittagssonne glitzern: Wasser, der Stausee von Pantabangan!
Auf dem Berg, von dem man die beste Aussicht hatte, stand das Gästehaus der Regierung.
"Sie sind Gast des Amtes für Bewässerung," sagte der UNO-Mann. "Ich wohne immer hier, wenn ich diese Gegend besuchen muß."
"Und wo wohnen die Leute von Pantabangan," fragte Klaus, "ich meine von der im Stausee versunkenen Stadt?"
"Wir müssen über den Damm fahren. Sehen Sie dahinten die Hügel, die aus dem Wasser ragen? Dorthin wurden sie umgesiedelt — über zweitausend Familien, das sind ungefähr 13.000 Menschen aus Pantabangan und aus acht umliegenden Dörfern. Sie mußten weg aus den Tälern, bevor das Wasser ihre alten Wohnungen überflutete."

Wir stiegen um von der schmucken Limousine in einen robusten Geländewagen, und dann ging es holpernd über den riesigen Erd-Damm.
Staubig und steinig war der Weg. Ein Ingenieur versuchte, alle Vorteile des Staudammes zu erläutern.
"Wissen Sie, es gibt viel guten Boden auf den Philippinen, aber es gibt zu wenig Wasser. Wir könnten zwei, drei Ernten im Jahr haben, gäbe es Wasser außerhalb der Regenzeit. Jetzt bauen wir überall im Land solche Staudämme. In der Trockenzeit fließt das aufgestaute Wasser durch Kanäle auf die Felder. Vorher jagen wir es durch Turbinen und erzeugen damit Strom. Der Stausee hält genug Trinkwasser bereit, und schließlich kann man darin Fische züchten!"
Er war richtig stolz auf seinen Damm.
"Wir hatten ihn ein Jahr früher fertig als geplant!"
Und er zeigte in einer Mappe die Grußadressen zur Einweihung. Aus dem Präsidenten-Palast in Manila war auch eine Botschaft gekommen:
"Weil es nun den Staudamm von Pantabangan gibt, werden im nächsten Jahr Millionen Filippinos mehr zu essen haben, werden weniger unter Überschwemmungen zu leiden haben, werden einträgliche Beschäftigung finden. Und noch mehr: Millionen Filippinos bekommen neue Hoffnung, einen neuen Traum, den Anspruch auf eine bessere Zukunft."

Der Wagen rumpelte über einen Bergrücken, das erste Neuansiedlungsgebiet kam in Sicht.
"Das war vor einem Jahr," sagte Klaus. "Im August 1974 war der Damm fertig. Wie geht es heute den 13.000 umgesiedelten Filippinos?"
"Oh, sehen Sie — das sind ihre neuen Häuser!"
Der Ingenieur wies auf die umliegenden Berghänge.
"Sie sind sicher besser als ihre alten Holzhütten, glauben Sie nicht?"
Die kleinen Steinhäuser standen entlang schnurgeraden Straßen in der grellen Mittagssonne. Es gab keine Bäume, also auch keinen Schatten. Soweit ich blicken konnte, ich konnte keine Felder entdecken.
"Wo ist denn nun der Reis?" wollte ich wissen.
"Ja," fragte Klaus, "wo sind denn die neuen bewässerten Felder?"
"Aber doch nicht hier am Damm," antwortete der UNO-Mann. "Weit unterhalb dieses Stausees wird das Wasser auf das Reis-Land geleitet. Das ist ein uraltes Anbaugebiet. Dorthin konnten die Leute nicht umgesiedelt werden. Dann hätten ja die alten Besitzer vertrieben werden müssen!"
"Wohl kaum," erwiderte Klaus, "wäre auch gar nicht nötig gewesen, denn die Besitzer leben ja gar nicht dort, nicht wahr? Die leben schon seit jeher in der Stadt und lassen die Pächter für sich arbeiten! Und in der Stadt erfahren sie rechtzeitig, wo zum Beispiel ein solcher Dammbau geplant ist. Lange bevor der Bau beginnt, kaufen sie alles Land auf, das den Wasser-Segen bekommen soll; aus dem wird für sie dann ein Geld-Regen — und Organisationen wie das 'Welternährungsprogramm' spenden die Lebensmittel für die, die das Nachsehen haben! Ist es nicht so?"
Ich weiß nicht, ob es am weißen Hemd oder an der Krawatte des UNO-Mannes gelegen hatte, Klaus war richtig in Fahrt gekommen.
"Sehen Sie doch nicht immer bloß das Negative," versuchte unser Begleiter zu beschwichtigen. "Es wird doch eine ganze Menge getan!"

Wir stoppten vor einer großen Lagerhalle, vor der sich gerade Frauen und Männer versammelten, die sich an einem Tisch in eine Liste eintragen ließen. "Ist das die Lebensmittelausgabe?" fragte Elsa, um eine Aufbesserung der Stimmung bemüht.
"Ja, hier holen sich die Familien ihre Rationen ab — Reis, Soja-Öl und noch ein paar Sachen, die Vorräte gehen langsam zu Ende. Es muß bald etwas geschehen! Wissen Sie, die Leute bekommen ja alles umsonst. Es wird Zeit, daß sie etwas arbeiten!"
Der UNO-Mann war deutlich beleidigt. Er blieb im Wagen sitzen, als Klaus an einem der Neusiedlungshäuser halten ließ. Der Ingenieur kam als Dolmetscher mit.
Es war nur eine alte Frau zu Hause, die uns freundlich bat, einzutreten. Klaus erzählte, woher wir kamen, und dann fragte er:
"Hatten Sie früher in Ihrem alten Dorf auch schon so ein Haus?"
"Ja, wir hatten auch so eins."
"Und mußten Sie für dieses hier etwas bezahlen?"
"Neuntausend Pesos (3.000 Mark). Der Preis hängt ab von der Größe des Hauses."
"Und Sie hatten das Geld, oder mußten Sie es sich leihen?"
"Wir haben uns das Geld geliehen."
"Wie verdienen Sie das Geld?"
"Ich habe überhaupt keine Möglichkeit, zum Lebensunterhalt etwas beizutragen. Mein Mann verdient das Brot. Er arbeitet als Zimmermann beim Damm-Bau. Aber dort gibt es bald nichts mehr zu tun. Die meisten Männer hier sind schon arbeitslos."
"Haben Sie Kinder?"
"Zwei Mädchen gehen zur Hochschule in die nächste Stadt. Sie werden wohl nicht zurückkommen. Ein Junge besucht hier die Schule."
"Gibt es denn irgendeine Berufsausbildung?"
"Nein — keiner hat hier eine Berufsausbildung."
"Dann ist wohl nicht klar, was die jungen Leute später tun werden?"
"Es gibt hier keine Jobs für sie."
"Wie war das früher?"
"Vor dem Damm-Bau waren alle auf den Feldern unten im Tal beschäftigt. Wir waren Reisbauern..."
Der UNO-Mann ließ draußen ungeduldig die Auto-Hupe ertönen.
"Vielleicht noch ein Jahr," sagte Klaus nachdem wir uns verabschiedet hatten, "dann wird man viele der Leute von Pantabangan in den Bretterhütten von Manila wiederfinden. Was nützen hübsche Steinhäuser ohne Arbeit und Brot?"

 
 
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