DER
WEG NACH ZIMBABWE oder VERSUCHE, DIE FREMDE ZU VERSTEHEN
© 1990
Klaus Jürgen Schmidt
TEIL I
"Der Samen für Offenheit und Neugier wird in früher
Kindheit gesät!"
VOM PRIVILEG, DIE WELT KENNENZULERNEN
Im Juli 1989 bekomme ich in Harare einen Anruf vom
Hessischen Rundfunk, und ich erfahre, daß eine Redaktion
existiert, die sich nicht bloß für die große Politik
im südlichen Afrika interessiert. Zwischen einer Schule
im Hessischen und einer Schule in Zimbabwe gibt es seit
vielen Jahren eine Partnerschaft. Schüler aus Zimbabwe
sind in diesen Tagen zu Besuch bei deutschen Schülern
und die Kinderfunkredaktion will in einer Live-Sendung
aus der hessischen Schule über diese Partnerschaft
berichten. Dafür wird eine kurze Reportage über den
Tagesablauf eines zwölfjährigen Kindes in Zimbabwe benötigt.
Ich mache mich mit Mikrofon und Tonbandgerät auf den Weg
zu meinem Freund Victor.
"Ich heiße Mary Mbishu und lebe in der Ashburton
Avenue im Stadtteil Chadcombe von Harare, der Hauptstadt
Zimbabwes."
Es ist Sonnabendnachmittag und die zwölfjährige Mary
ist gerade von einem Hockey-Turnier mit sieben anderen
Schulen aus Chegutu zurückgekehrt. Jetzt sitzen wir im
Garten hinter dem Haus ihrer Eltern, aber die heißen
Maunde. Mary's Mutter Mbishu ist tot. Sie starb, als Mary
noch ein Baby war, bei einem Bombenangriff der
rhodesischen Luftwaffe auf ein Lager der Befreiungskämpfer
im benachbarten Mocambique. Ihr Vater, Victor Maunde, kam
Ende 1979 aus Mocambique zurück nach Harare und
heiratete dem Brauch seines Shona-Volkes folgend
die ältere Schwester der ums Leben gekommenen
Mutter von Mary. Nach zwölf Jahren im Befreiungskampf
fand Victor eine Beschäftigung beim zimbabweschen
Rundfunk. Vor fünf Jahren zogen die Maundes aus einer
"township", in der nur Afrikaner in drangvoller
Enge leben, in dieses Viertel. Mary's Vater und seine
Frau, die in einer Einrichtung für behinderte Kinder
arbeitet, schaffen es mit Mühe, ein Haus abzubezahlen,
wie es sich früher nur Weiße und wenige reiche Schwarze
leisten konnten. Aber der Tagesablauf ist der gleiche
geblieben.
"Ich stehe morgens um halb sechs auf," sagt
Mary. "So früh?" frage ich, "Warum?"
Mary hat noch drei Geschwister. Sie muß der Mutter beim
Aufräumen helfen, dann bereitet sie das Mittagessen für
sich und die zwei jüngeren Geschwister vor die ältere
Schwester arbeitet den ganzen Tag in einem Kindergarten.
Mary weiß aus eigener Erfahrung, daß das Leben für
Kinder auf dem Lande noch schwieriger ist:
"Sie haben einen sehr harten Tag, der viel früher
beginnt. Sie müssen Feuer anmachen und Wasser holen,
haben dann einen langen Fußweg zur Schule. Häufig
kommen sie zu spät und werden ausgeschimpft vom Lehrer.
Sie kriegen höchstens zweimal in der Woche Hausaufgaben,
weil sie zu Hause so viel zu tun haben. Manchmal können
sie wegen der Feldarbeit gar nicht zur Schule gehen, und
dann haben die Eltern oft kein Geld, die Schule zu
bezahlen."
Mary's Eltern mußten bisher 30 Dollar für den 3-Monatsterm
der Grundschule zahlen. Jetzt werden es 300 Dollar sein,
wenn Mary in eine Mittelschule geht. Die Aufnahmeprüfung
für eine hauptsächlich von weißen Kindern besuchte
Privatschule ist schiefgegangen, weil Mary englische
Spezial-Ausdrücke nicht kannte, wie zum Beispiel die
Bedeutung von "Love" beim Punktezählsystem im
Tennisspiel. Für die Eltern ist das ein Glück, sie hätten
alle drei Monate 1.500 bis 2.000 Dollar zahlen müssen.
Aber das zwölfjährige Mädchen kann schon zwei Sprachen
fließend Shona und Englisch, und sie hat längst
gelernt, für sich und ihre jüngeren Geschwister
verantwortlich zu sein. Wenn sie mittags mit dem Bus von
der Schule nach Hause kommt, bleibt ihr höchstens eine
Stunde für Hausaufgaben, dann muß sie schon wieder
kochen, nähen, saubermachen. Wenn dann noch Zeit ist,
beschäftigt sie sich mit ihrer Briefmarkensammlung oder
sieht fern. Mary serviert mir einen tollen,
selbstgebackenen Kuchen.
Ich frage Mary, was sie später einmal werden möchte.
Sie denkt nicht lange nach und sagt: "Ein Professor!"
"Was für ein Professor ein Lehrer oder ein
Wissenschaftler?" Chemikerin will sie werden, sagt
Mary.
In der Grundschule war sie mit Mädchen und Jungs
zusammen. Hat sie einen Freund?
"Jungs und Mädchen dürfen nicht zusammen spielen,"
antwortet Mary. "Wenn man mit einem Jungen spielen würde,
sogar wenn man mit einem nur gesehen würde dann würde
alles mögliche getuschelt."
Die Familie Maunde ist religiös und Mary sagt, sie sei
"Methodistin" und gehe regelmäßig zur Kirche.
Aber sie hat von den Eltern eine kritische Einstellung
gegenüber traditionellem Aberglauben übernommen. "Geister
vertreiben damit wird doch nur Geld gemacht,"
meint sie.
"Was weißt Du von Deutschland?" frage ich
Mary, und sie lacht verlegen. "Gar nichts!" ist
die Antwort.
Wenige Wochen später wird Mary die Aufnahmeprüfung in
einer abgelegenen, kirchlichen Mittelschule, im Bergland
nahe von Mutare bestehen. Ihr kindlicher Horizont wird
noch lange begrenzt sein von jenen Bergen der Heimat und
von deren noch kaum erschütterten Traditionen.
Vielleicht wird sie ihre Briefmarkensammlung mitnehmen
und von fernen Ländern und von fremden Menschen träumen.
Die Begegnung mit Mary hat mir ein Privileg bewußt
gemacht, das heranwachsende Menschen in der sogenannten
Dritten Welt kaum kennenlernen können zu reisen,
als Kind schon früh die Fremde zu erfahren. Jene
zimbabweschen Schulkinder, die für einige Wochen nach
Hessen kamen, sind die ganz seltene Ausnahme. Sie werden
deutsche Kinder getroffen haben, die zusammen mit ihren
Eltern schon Urlaubserlebnisse in nahen und fernen Ländern
hatten, für die der Umgang mit fremden Sitten nicht mehr
neu ist ein Privileg, das ich selber erst als
junger Mensch erfuhr, unsere Tochter jedoch schon im
Alter von sechs Jahren!
Ihren Aufbruch in ein Leben, das ihr die Welt zur Heimat
machte, schildert der erste Teil dieses Buches
eine Geschichte nicht nur für Kinder.
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