DER
WEG NACH ZIMBABWE oder VERSUCHE, DIE FREMDE ZU VERSTEHEN
© 1990
Klaus Jürgen Schmidt
ZUR HÖLLE MIT DIESER ZIVILISATION!"
Mit dieser ersten Reise nach Vietnam im Februar 1973
begann zugleich eine bis heute nicht abgeschlossene Reise
in fremde Denk- und Kommunikationsstrukturen, deren
Existenz daheim selbst bei der Solidaritätsarbeit in
Dritte-Welt-Gruppen selten wahrgenommen wird. Und natürlich
sind die Chancen dafür bei vielreisenden Journalisten,
Schriftstellern, Filmemachern oder Touristen, die hauptsächlich
für die Vermittlung von Fremde verantwortlich sind (doch
dabei in der Regel vertrauten Normen folgen) noch viel
geringer. Erst in der andauernden Konfrontation eigener
Denkmuster mit den Ergebnissen ganz anderer
Sozialisationen kann klarwerden, daß Menschengruppen
ja ganze Nationen möglicherweise eine ganz anders
geartete Anschauung zum Beispiel des Verhältnisses
zwischen Mensch und Umwelt entwickelt haben und
aufgrund subjektiver, und deshalb allenfalls mit dem Kopf
nachzuvollziehender geschichtlicher Erfahrung auch
mental und emotional Beziehungen zwischen Menschen
unterschiedlicher Herkunft völlig anders einschätzen:
Obwohl kommuniziert wird, findet ein Dialog nicht statt
und die Mißverständnisse bleiben unerkannt.
Vier Jahre bin ich schon in Zimbabwe, nach Abschluß der
Arbeit als Medienberater zurückgekehrt als
Rundfunkkorrespondent mit ständigem Sitz in Harare, da
gelingt es eher zufällig ein solches Mißverständnis
zu erkennen:
Weiße und schwarze Parlamentarier aus den zwölf EG-Staaten
und den meisten afrikanischen Frontlinien-Staaten hielten
den Atem an: Zum Abschluß ihrer gemeinsamen Tagung zur
Unterstützung eines unabhängigen Namibia Anfang April
1989 in Harare verlor der zimbabwesche Parlamentspräsident
Didymus Mutasa für einen Moment die Beherrschung. Drei
Tage lang hatte die Konferenz, schockiert durch
Augenzeugenberichte aus den eigenen Reihen und von
Kirchenvertretern, das Debakel des UN-Einsatzes zu Beginn
des mühsamen Friedensprozesses in Namibia zur Kenntnis
genommen da brach es aus dem sonst eher besonnenen
Mutasa im Sessel des Konferenzvorsitzenden heraus:
"Wenn es das ist, was die westliche, christliche
Zivilisation zu bieten hat, dann zur Hölle mit ihr!"
Didymus Mutasa entschuldigte sich kurz darauf vor der
gesamten Konferenz bei einer Vertreterin des namibischen
Kirchenrates für seinen Ausbruch. Doch für einen
Augenblick war deutlich geworden, mit welch tiefer Enttäuschung
schwarze Politiker auf das fortgesetzte Töten schwarzer
Menschen unter Aufsicht einer Weltorganisation reagieren,
die für sie nach wie vor von Weißen beherrscht scheint.
Und noch etwas wurde deutlich: Es gibt noch keinen
globalen Dialog zwischen Schwarz und Weiß zu
traumatisch ist das jahrhundertelange Erlebnis von
Unterdrückung und Mißachtung ihrer eigenen Kultur, das
sich mit Angeboten materieller Hilfe und wirtschaftlicher
Kooperation nicht aufwiegen läßt!
Zurückgekehrt in sein Hotelzimmer, versucht Mutasa, den
tiefer liegenden Gründen dieser Frustration im Gespräch
auf die Spur zu kommen ich bin ihm nachgeeilt, als
er sichtlich verwirrt den Konferenzsaal
verließ, die seltene Gelegenheit zu nutzen, andere
Denkstrukturen kennenzulernen:
"Unsere Kultur wurde durch mehr als ein Jahrhundert
zerstört durch Menschen, die sich selbst als Christen
betrachteten," sagt er mir. "Auf der anderen
Seite, hatten wir Gelegenheit, die Alternative zu
beobachten das Leben der Europäer. Und wir haben
festgestellt: Ihre Lebensweise wurde nicht zerstört,
nicht durch die Römer in England, und nicht durch die
Kolonisatoren in Deutschland. Aber das Ziel des
Christentums in Afrika war es eben, unsere Kultur zu
zerstören. Namen und Lebensweise unserer Menschen wurden
als unchristlich betrachtet. Wir fühlen uns verletzt
durch Menschen, die sich als Christen ausgeben und so
tun, als habe es nicht irgendeine Art von Zivilisation in
Afrika gegeben."
Mutasa lächelt durch seine Brillengläser und fügt
hinzu: "Immerhin die früheste Zivilisation
des Menschen begann bekanntlich in Afrika!"
Dann springt der zimbabwesche Parlamentspräsident von
dieser kurzen Reflektion in die aktuelle Gegenwart:
"Wenn also die Vereinten Nationen in ihrer eigenen
Weisheit Prozeduren ersinnen, die vollkommen falsch und
gegen die Wünsche des namibischen Volkes gerichtet sind
ohne irgendeine Konsultation mit den Menschen in
Namibia, sondern vielmehr in umfangreicher Abstimmung mit
der südafrikanischen Regierung, dann finden wir das
total unzivilisiert. Wenn es das Ziel ist, den Namibiern
Freiheit zu bringen, dann hätte es erste Aufgabe der
Vereinten Nationen sein müssen, sie und vor allem
die namibische Befreiungsorganisation SWAPO in die
Konsultationen einzubeziehen, die doch all die Jahre von
der UNO als authentische Vertretung des namibischen
Volkes unterstützt worden ist. Auf einmal wollen die
Vereinten Nationen neutral sein neutral gegenüber
was? Sie können nicht neutral gegenüber Apartheid sein
und gegenüber Ungerechtigkeit! ... Wie kann Ahtisaari (der
Namibia-Beauftragte des UN-Generalsekretärs) neutral
sein, wenn er doch die Vereinten Nationen vertritt, und
als solcher auch die Nation von Zimbabwe. Aber die Nation
von Zimbabwe ist nicht konsultiert worden über das, was
in Namibia passieren soll! ... Dieses Verhalten kann
niemals als zivilisiert beschrieben werden."
"Kommt also der Dialog, wie er zum Beispiel während
der Harare-Konferenz zwischen westeuropäischen und
afrikanischen Parlamentariern geführt wurde, zu spät?"
will ich wissen. Mutasa antwortet nach kurzem Überlegen:
"Generell kommt er zu spät... Wenn dieser Versuch
von Menschen mit westlichem und afrikanischem
Hintergrund, hier miteinander über Problemlösungen für
das namibische Volk zu sprechen, wenn ein solcher Versuch
durch unsere Vorfahren erfolgt wäre, wenn sie sich
zusammengesetzt hätten, um die Kultur und das Leben
unserer Menschen zu verstehen dann wäre nichts
auf diesem Kontinent zerstört worden, dann existierte
noch ursprüngliche, afrikanische Zivilisation."
"Sehen Sie," fährt Mutasa fort, "in
Europa gibt es das Konzept, daß der afrikanische
Kontinent erst zu existieren begann als er entdeckt wurde.
Aber wir existierten lange bevor, und nur weil die Europäer
besser bewaffnet waren, zerstörten sie unsere Königreiche.
Einhundert Jahre später sagen wir, liebe Brüder, eure
Vorväter haben falsch gehandelt und ihr solltet nicht
diesen Fehler wiederholen! Kommen wir nach Europa,
beachten wir die Maßstäbe europäischer Kultur, und wir
verlangen, daß Europäer das gleiche tun, wenn sie nach
Afrika kommen und sie werden entdecken, daß es
hier noch immer eine im höchsten Maße achtenswerte
Zivilisation gibt."
Neben Robert Mugabe ist Didymus Mutasa der zweite Glücksfall
in der zimbabweschen Politik-Szene, deren innen- und außenpolitische
Entwicklung das Bild des südlichen Afrika wesentlich
mitbestimmen wird.
Eine wichtige Erfahrung in seiner eigenen politischen
Entwicklung hat ihn in besonderer Weise für einen Dialog
zwischen Schwarz und Weiß geöffnet. Als Sohn eines
Shona-Häuptlings wurde er am 27. Juli 1935 in der
katholischen St. Faith's Mission in Rusape geboren. Seine
Schulerfahrungen in Rusape und in Goromonzi brachten ihn
früh zusammen mit fortschrittlichen Weißen, die sich
Mitte der Fünfziger Jahre mit schwarzen Jugendlichen
solidarisierten. Als Delegierter der "African
Nationalist Youth League" kam Mutasa 1957 zum ersten
Mal mit dem ANC in Berührung. Versuche, zusammen mit Weißen
im damaligen Südrhodesien eine Enklave des
Zusammenlebens auf einer Farm nahe von Salisbury zu gründen,
scheiterten an der kolonialen Gesetzgebung. Mutasas
Involvierung in einen Landstreit des Tangwena-Volkes im
östlichen Bergland mit der zentralen, weißen
Administration und sein Kampf gegen die einseitige Unabhängigkeitserklärung
des Smith-Regimes brachte ihn von November 1970 bis März
1972 in Isolierhaft.
Nach der 1980 erreichten Unabhängigkeit setzte Didymus
Mutasa sein Prestige als Parlamentspräsident ein, um den
Traum von einer Zusammenarbeit der Rassen in einer sehr
praktischen Form zu realisieren. Er ist Vorsitzender
eines Trusts, der zusammen mit dem noch während des
Befreiungskampfes aus Südafrika emigrierten Ehepaar Mark
und Cathleen Collier vor den Toren der Hauptstadt Harare
die "Cold Comfort Farm" plant und verwaltet,
eine Cooperative, die u.a. mit Entwicklungshilfe-Mitteln
aus der Bundesrepublik neben Landwirtschaft auch eine
Tischlerei und eine Weberei betreibt. 1987 kam zu diesen
Aktivitäten eine von der Regierung abgesegnete, sehr
ungewöhnliche Initiative hinzuge: Nahezu unbemerkt von
der Öffentlichkeit begann ein der Farm angegliedertes
Institut Dialog-Fühler in den Apartheid-Staat, nach Südafrika
auszustrecken.
Die Initiative sei von den Colliers ausgegangen, sagt
Mutasa. Sie hätten vorgeschlagen, mit führenden Leuten
in Südafrika zu sprechen "nicht als eine
Alternative zum Kampf gegen Apartheid," wie der
Parlamentspräsident betont, "aber als Ergänzung
dazu, um ihnen klarzumachen, was die Ziele des
Befreiungskampfes sind: Ende der Apartheid, Einführung
von Demokratie und die Verpflichtung Südafrikas zu den
Prinzipien der Völkergemeinschaft".
"Es könnte ja passieren, daß sie einsehen, worum
es bei diesem Kampf geht, und daß sie sagen: Lieber
Himmel, laßt uns den Krieg beenden, denn wir stimmen
doch mit den Ziele überein!"
Auf die Frage, ob ein solcher Dialog nicht das Argument
konservativer, europäischer Politiker unterstütze,
Verhandlungen statt Sanktionen seien das rechte Mittel,
um das Apartheid-Regime zu Reformen zu bewegen, antwortet
Didymus Mutasa:
"Es ist Zeitverschwendung, mit der südafrikanischen
Regierung zu sprechen. Es wäre sinnlos, wenn eine kleine
Institution wie 'Cold Comfort' mit dieser Regierung
redet, wo doch alle Regierungen der Welt, die Vereinten
Nationen, die ganze Zeit über versucht haben, mit ihr zu
reden. Wir sprechen mit Vertretern der Bevölkerung
mit Schwarz und Weiß über unsere
Erfahrungen in einem Staat, in Zimbabwe, in dem die
Hautfarbe überhaupt keine Rolle mehr spielt."
Didymus Mutasa, der kleine Mann mit den großen Ideen und
dem langen Atem, sie zu verwirklichen, wendet sich wieder
seinen Tagesgeschäften zu. Und da ist die Bereitschaft
zum Dialog unter seinen verdeckt um Macht und Einfluß kämpfenden
Kollegen noch nicht sehr ausgeprägt. Wie oft mag er
schon den einen oder anderen Stammesfürsten zur Hölle
gewünscht haben? Oder ist das wieder eine "typisch
weiße" Denkweise?
Vielleicht hatte ich bloß Glück, daß meine erste
direkte Annäherung an Menschen in einem anderen
Kulturkreis über Kinderschicksale erfolgte: Opfer eines
von "Weißen" gegen "Farbige" geführten
Krieges. Das schloß von vorneherein aus, als "Kriegsberichterstatter"
Termine für Frontbesuche mit der einen oder anderen
Seite zu organisieren. Es war wohl in erster Linie ein
Reflex auf die Defizite, die ich jahrelang am
Nachrichtentisch verspürt hatte, gar nicht so sehr der
Solidaritätsdruck aus der privaten Beschäftigung mit
der vietnamesischen Befreiungsbewegung.
Ein Kameramann erzählte mir eines Nachts in Saigon von
seiner Arbeit für ein deutsches Fernsehteam: Es sei
lebensgefährlich, in unbekanntem Gelände zu filmen
Minen auf abgelegenen Straßen, Fallen auf
Dschungelwegen!
"Man muß sich zu helfen wissen," grinste er,
"für ein paar Piaster gibt es immer ein paar
Kinder, die vorweg gehen!"
1974 standen vor den Toren einiger ARD-Anstalten in der
Bundesrepublik Demonstranten, deren Protest gegen
schlimmste journalistische Korruption bis heute nachhallt
ohne je ernsthaft wahrgenommen worden zu sein:
Ein Team des Deutschen Fernsehens hatte nach langem
Antichambrieren die Genehmigung erhalten, einen
Napalmangriff der kambodschanischen Luftwaffe gegen
vermutete Feindstellungen zu filmen. Doch tiefe
Regenwolken verdeckten das Ziel. Umkehren, ohne
Drehergebnis? Eine willkürlich gewählte Ansiedlung
wurde Opfer der deutschen "Kriegsberichterstatter"!
ARD-Intendanten erhielten damals die Liste der Napalm-Opfer...
In der Stunde der Wahrheit, als die Amerikaner in Panik
die treuesten Alliierten mit Helikoptern aus Saigon zu
ihren schwimmenden Festungen flogen, war unter ihnen das
einzige noch in der Stadt verbliebene deutsche
Fernsehteam. Der Korrespondent mahnte seine Zuschauer von
Bord des US-Flugzeugträgers, dies werde voraussichtlich
das Ende der freien Berichterstattung aus Vietnam sein!
Schäme ich mich, diesem Berufsstand anzugehören? Eine
wichtige Erfahrung aus jener Zeit hat mich gelehrt,
optimistisch zu bleiben: Im Frühjahr 1975 kam es unter
Radio Bremen-Chefredakteur Gert von Paczensky zu einer
ungewöhnlichen "Stunde der Wahrheit". In
Vietnam waren Hue und Da Nang schon von den Amerikanern
verlassen, da gab Paczensky bei fünf Autoren, u.a. bei
mir, eine "Chronologie des Betrugs" in Auftrag,
die Darstellung falscher und verzerrter Berichterstattung
über Geschichte und Entwicklung des Indochina-Konflikts.
Die Sendung führte zu einem Aufschrei im rechten
politischen Lager. Eine Beschwerde von Bernd Neumann, CDU-Fraktionsvorsitzender
in der Bremischen Bürgerschaft, im Rundfunkrat (dem er
selber angehörte) konterte der Chefredakteur mit der kühlen
Aufforderung, Neumann möge bitte seinen Protest
schriftlich begründen. Als nach Monaten noch immer keine
Reaktion vorlag die Amerikaner hatten inzwischen längst
auch Saigon verlassen , mahnte Paczensky brieflich
die Stellungnahme an allein dies schon ein unerhörter
Vorgang in der ARD-Landschaft! Nach Eintreffen von
Neumanns umfangreicher Fleißarbeit nahm sich Paczensky
die Kritikliste vor: in seiner gründlichen Antwort für
den CDU-Politiker und den Rundfunkrat ließ er links
Punkt für Punkt jeden einzelnen Vorwurf notieren, rechts
die Rechtfertigung der Chefredaktion, belegt mit Original-Zitaten
aus Dokumenten, amerikanischen, englischen und französischen
Presseveröffentlichungen: links rechts, links
rechts, wie Watschen zerfetzten Fakten das
arrogante Ideologiegeschwafel. In der Zusammenfassung
fragte Paczensky freundlich an, ob die Kritik etwa mit
dem Vorschlag verbunden sei, Informationen zu
unterschlagen eine Sternstunde deutscher
Rundfunkgeschichte!
Schäme ich mich also, diesem Berufsstand anzugehören?
Wenn ich zurückschaue auf dreißig Jahre bewußten
Konsum von Berichterstattung zum Beispiel über Dritte-Welt-Zusammenhänge
mit dem Privileg von immer reicherem, eigenen
Hintergrundwissen, dann wäre der Abschied von diesem
Beruf schon lange fällig gewesen. Wenn ich aber zurückblicke
auf den zwanzigjährigen Versuch, Medien-Nischen für das
eigene Denken gegen den Strich zu finden, dann kenne ich
keinen besseren Kommunikationsmarkt! In den siebzehn
Jahren seit der ernsthaftesten Bedrohung meiner privaten
beruflichen Existenz in der "Marktnische" Radio
Bremen, die von der non-konformistischen
Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Umwälzungen in
China und in Indochina ausging, ist meine Überzeugung
gefestigt, daß individuelle Informationsrechte am besten
in Gesellschaften gewahrt sind, die es vermocht haben,
sich von hierarchischen Strukturen zu emanzipieren.
Heimat ist für mich dort, wo Menschen der freie Zugang
zu Informationen nicht verwehrt ist, auch wenn diese
Freiheit fragwürdigen Marktmechanismen von Angebot und
Nachfrage unterworfen ist.
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