DER WEG NACH ZIMBABWE oder VERSUCHE, DIE FREMDE ZU VERSTEHEN
© 1990 — Klaus Jürgen Schmidt



DER RECHTE WINKEL
ODER:
"KLIENT-ZENTRIERTE BERATUNG"



Die Abendsonne ist noch warm auf der Terrasse des Hotels, in das die Familie für die ersten anderthalb Monate eingezogen ist. Viele Stühle sind belegt von Langzeitbewohnern, von alten weißen Männern und Frauen, die gelegentlich Besuch von Verwandten aus Südafrika, Australien, Großbritannien oder Portugal erhalten. Sie sind nicht mitgezogen mit den Kindern, als diese schon vor Jahrzehnten das Land verließen.
Eine alte Dame hat aufgehört zu sprechen, ihre Kinder haben ihr eine schwarze Krankenschwester gemietet, die sie auf Schritt und Tritt begleitet. Meine Frau führt manchmal am Ende des Tages ein einseitiges Gespräch mit ihr, berichtet von unserer Suche nach einer Schule für die Tochter, nach einem eigenen Haus, über erste Erfahrungen im fremden Land. Die Frau antwortet nie, aber sie beginnt zu reagieren, schmunzelt sogar hin und wieder, sucht schließlich bewußt die Gesellschaft. Eines Tages hat sie sich am Arm verletzt, ein Dorn hat sie geritzt. Die Krankenschwester eilt herbei, wird aber unwirsch abgewiesen. Meine Frau soll helfen — weil sie weiß ist?
Ein Pflaster aus unserem Koffer wird akzeptiert. Die Angelegenheit ist peinlich — ist jetzt nicht die schwarze Krankenschwester verletzt? Da hilft kein Pflaster, aber ein Gespräch. Sie nimmt es nicht krumm, hält die Alte sowieso für verrückt und nutzt die Tage mit ihr, um sich durch intensive Lektüre von Fachbüchern und dann in Abendkursen weiterzubilden — verworrene Wege von Entwicklungshilfe.

Lektion Nummer eins für Conny's Vater eines Abends auf der Hotel-Terrasse:
Elsa war bei den täglichen Gängen zu Behörden und Hausvermittlungsagenturen einer anderen alten Dame aufgefallen, die mit Auto und Hund unterwegs in der Mittagshitze an einer Kreuzung stoppte und zum Mitfahren einlud, eine pensionierte Beamtin, der die weiße Frau aufgefallen war — allein und zu Fuß! Als sie von unseren Problemen hörte, bot sie ihre Hilfe an. Am späten Nachmittag und nach langen Fahrten durch die Stadt saßen beide nun auf der Terrasse des Hotels, mit ihnen der Hund.
Ich erfahre von der Hilfsbereitschaft der alten Dame, bestelle eine weitere Runde kühler Getränke — da fällt mein Blick auf den Hund: Hechel — hechel, die Zunge hängt bis zum Boden.
"War der arme Kerl die ganze Zeit dabei?" frage ich, und rufe den Kellner, bestelle einen großen Topf mit Wasser. Unsere Getränke kommen, der gewünschte Wasserpott ist nicht dabei. Ich erinnere den Kellner an die Order.
"Yes, Sir — of course, Sir!"
Nach einer Viertelstunde höre ich noch immer: Hechel — hechel! Das Wasser ist nicht eingetroffen. Ich gehe den Kellner suchen, finde ihn in der Küche. Nun schon etwas ungehaltener mahne ich die Bestellung an, erfahre, daß er nach einem geeigneten Gefäß sucht.
Weitere zwanzig Minuten vergehen: Hechel — hechel!
Ich entschuldige mich bei der hilfreichen Hundebesitzerin und gehe den Manager suchen. Im Foyer läuft er mir über den Weg. Wortreich führe ich Beschwerde, erkläre die peinliche Situation — da habe die alte Dame meiner Frau geholfen, ihren Hund den ganzen Tag im heißen Auto gelassen und jetzt können wir uns nicht einmal darauf verlassen, daß eine simple Wasserbestellung ordentlich ausgeführt wird.
"Was, Sie haben einen Hund auf der Terrasse? Das ist strikt verboten!"
Wie bitte? Und warum hat uns das der Kellner nicht schon vor einer Stunde mitgeteilt? Der weiße Manager zuckt die Achseln.
"Seit wann sind Sie in diesem Land?" fragt er mitleidig. "Sie werden von einem Shona nie ein klares 'Nein' hören, wenn etwas nicht geht — und was den Hund betrifft, bringen Sie ihn in Ihr Appartement. Ich werde Ihnen eine Schüssel mit Wasser schicken, sorry!"

Ich habe mir die Lektion gemerkt und bald feststellen müssen, der Mann hatte recht — Zustimmung heißt noch lange nicht, daß etwas wie abgesprochen auch durchgeführt wird, entweder passiert gar nichts oder das genaue Gegenteil.
Das "Afrikanische Palaver" als demokratische Entscheidungsfindungsinstitution hat in diesem Land seine Probleme. Die aus Büchern vermittelte Vorstellung von einem langen, aber offenen Austausch der Meinungen bis hin zu einer von allen Beteiligten akzeptierten Lösung hat sich auf verhängnisvolle Weise mit einer bürokratischen Attitüde der ehemaligen britischen Kolonialherren verbündet; die Konfliktscheu der Shona erhielt ein praktisches Kaschierungsinstrument: Sitzen mehr als drei bei einem offiziellen Meeting beisammen, übernimmt einer die Funktion des Vorsitzenden ("Chairperson"), der zweite führt Protokoll ("Minutes") und alle drei sind zunächst einmal damit beschäftigt, das Protokoll der letzten Sitzung auf Schreibfehler durchzusehen, um es dann zu genehmigen.
Ich übertreibe natürlich, aber Tatsache ist, daß dieser Formalismus als hochentwickeltes Instrument zur Vermeidung von Entscheidungen immer dann eingesetzt wird, wenn die Lage unübersichtlich ist, öffentlich nicht bekannte Abhängigkeiten berücksichtigt werden müssen oder politischer Druck befürchtet wird. Ich werde Jahre brauchen, um zu lernen, mit diesem Mechanismus umzugehen, der — wie ich bald herausfinde — noch dadurch kompliziert wird, daß planen und organisieren, koordinieren und evaluieren — alles Stichworte aus dem Handbuch eines europäischen Projektleiters — zwangsläufig für die meisten schwarzen Partner ungeübtes Terrain ist.

Die weißen Vorbilder hatten ihnen nie beigebracht, auf welche Weise sie zu ihrem materiellem Wohlstand gekommen waren — Ausbeutung der billigen schwarzen Arbeitskraft war ja nur die eine Seite der Medaille, die andere ist immer auch ihre Fähigkeit gewesen, langfristig das Arbeitsergebnis zu planen und zu koordinieren.

Am 7. Februar 1988 berichtet in Harare die SUNDAY MAIL:
"Bis auf den heutigen Tag ist noch kein einziger Cent von den sechs Millionen Dollar verwendet worden, die die Regierung 1982 für kommunale und Kleinbauern unter dem Nationalen Bewässerungsprogramm zur Verfügung gestellt hat. Dagegen wurden schon bis 1984 die gesamten zehn Millionen Dollar aufgebraucht, die für denselben Zweck den kommerziellen Großfarmern zur Verfügung standen. Dies teilte AGRITEX-Direktor, Cde (Comrade) Jack Matanyanyise mit. Bei einem Feldtag in Chesa sagte er vor Kleinbauern, ein Damm-Bau in dieser Gegend sei wegen Geldmangels noch nicht begonnen worden, 'aber Geld ist vorhanden, es wurde nur noch nicht genutzt'."

Eine Woche später, am 14. Februar 1988, schreibt der SUNDAY MAIL-Kommentator:

"Angesichts der offenkundigen Ignoranz unter den Kleinbauern hinsichtlich der existierenden Gelder für Bewässerungsprojekte muß das Department of Agricultural, Technical and Extension Services (AGRITEX) sich fragen lassen, was es getan hat, um den Bauern ihren Anteil zu sichern. Das von Cde Matanyanyise dargestellte Problem wird in die Geschichte eingehen als eine schwerwiegende Anklage gegen AGRITEX, es sei denn er kann überzeugend begründen, warum die Betroffenen nicht hinreichend beraten wurden, wie das zur Verfügung stehende Geld zum Bau von Dämmen und zur Nutzung des Landes hätte verwendet werden können. Oder soll die Öffentlichkeit glauben, die Situation in Chesa sei ein isolierter Fall und nicht bloß die Spitze eines Eisberges, der auch noch in anderen Teilen Zimbabwes das Wachsen der landwirtschaftlichen Produktion von Kleinbauern blockiert? Wir fürchten, das letztere wird wohl der Fall sein."

I c h fürchte, lieber Kommentator, Sie haben lediglich ein individuelles Opfer markiert — den mutigen Direktor eines sehr effektiven Dienstes der Regierung, der nichts anderes getan hat, als die tieferliegende Misere schwarzer Planungsprobleme einmal beispielhaft vorzuführen. AGRITEX, seit 1982 unter dem Landwirtschaftsministerium zuständig für Beratung aller landwirtschaftlichen Bereiche, ist nicht der Lehrer der Nation. 57 Prozent der zimbabweschen Bevölkerung lebt in den sogenannten "Communal land areas", auf 42 Prozent der gesamten Landfläche. Die Erde dort ist ausgelaugt, Wälder sind abgeholzt, Generationen haben mit den Ergebnissen ihrer kleinen Ernten, hauptsächlich Mais, von der Hand in den Mund gelebt. Der Versuch der Regierung, neue Strukturen in Form von schwarzen Kooperativen zu schaffen, setzt umfangreiche Management-Erfahrung voraus. In ganz Zimbabwe gibt es viele Jahre nach ihrer Einführung kaum eine funktionierende Kooperative, trotz massiver politischer Propagierung.
Ein schwarzer Freund, täglich unterwegs in den "Communal areas", sagt: "Es ist ein ewiger Kreislauf: Die Mitglieder brauchen einen Vorsitzenden und natürlich auch einen Buchhalter. Wenn beide gewählt sind, brauchen sie eine entsprechende Ausbildung. Die bekommen sie in der Stadt, finanziert mit Mitteln der Regierung oder durch ausländische Organisationen. Wenn sie in ihrer Kooperative schließlich zu arbeiten beginnen, erhalten sie keineswegs einen höheren Anteil vom Gesamtverdienst ausgezahlt als das ewig faule letzte Mitglied, die Statuten sehen gleiche Bezahlung vor. Nun haben die beiden drei Möglichkeiten: Entweder sie haben Gottvertrauen oder meinetwegen auch ideologische Standfestigkeit, um auf den irgendwann eintretenden Erfolg ihres Unternehmens zu warten, das heißt die Gewinne erreichen eine Höhe, die ihnen bei der Aufteilung als angemessener Lohn für ihre Anstrengung erscheint, oder aber sie nutzen bald ihren Wissensvorsprung, um sich materielle Vorteile zu verschaffen — das geht bis zu Geldunterschlagungen; jeden Monat bricht deshalb irgendwo im Lande eine Kooperative zusammen. Am häufigsten aber realisieren die nun gut ausgebildeten Manager, daß ihnen in der Privatwirtschaft bessere Verdienstchancen winken. Das Ergebnis ist dasselbe: Die Kooperative muß sich eine neue Führung suchen, oder sie beginnt auf eigene Faust vor sich hin zu wursteln.
Das System funktioniert nicht, die Regierung muß sich irgendwann entschließen: Wir können nicht inmitten einer nach wie vor hauptsächlich kapitalistisch organisierten Wirtschaft kommunistische Experimente machen, die nach fünfzig Jahren nicht einmal in der Sowjetunion funktionieren. Wo überhaupt hat es je mit Kooperativen geklappt? Das einzige Beispiel, von dem ich gelesen habe, das ist der 'Kibbuz' in Israel, in der kollektive Wirtschafts- und Lebensweise herrschen und wo die Einkünfte zentral gemäß den Bedürfnissen des Betriebes und der Mitglieder ausgegeben werden. — Wir müßten wohl endlich lernen, uns ohne ideologische Scheuklappen in der Welt umzusehen!"

Davon ist die politische Führung weit entfernt, aber Robert Mugabe hat beispielsweise den weißen Großfarmern nach dem Sieg der schwarzen Befreiungskämpfer alle Freiräume erhalten. Sie sind nach wie vor das Rückgrat der wirtschaftlichen Prosperität Zimbabwes, mißtrauisch beobachtet von schwarzen Hardlinern in der intellektuellen Führungsschicht, die das schmerzhaft fühlbare Defizit an planerischer Erfahrung vor allem gegenüber weißen Experten oft nur emotional verarbeiten können. Sehr selten allerdings äußert sich dieses Gefühl der Ohnmacht in offenem Rassismus.

Seit einer Stunde warte ich mit dem Projektwagen vor dem Portal des Flughafens. Die Maschine aus Frankfurt ist längst gelandet, der Passagierstrom tröpfelt nur noch aus der Ankunftshalle — wo bleibt mein Partner, den ich von einem Studienaufenthalt in Deutschland zurückerwarte?
Johlend kommen drei Männer die Treppen herab, leicht schwankend — es ist nicht der kräftige Morgenwind! Es ist, wie meine Nase rasch bestätigt, der zollfreie Bord-Whisky, den die drei offenbar zehn Stunden lang genossen haben. Mein Partner stellt mir strahlend die Mitreisenden vor, darunter ein Mitglied des Politbüros der Regierungspartei. Dieser, wahrnehmungsgetrübt, hält mich zunächst für einen Taxifahrer und besetzt ohne viel Federlesens den Beifahrersitz. Ich öffne das Fenster, die alkoholgeschwängerte Luft droht mir den Atem zu nehmen. Auf der langen Fahrt in die Stadt wird dem prominenten Fahrgast allmählich klar, daß er es mit einem weißen Experten am Steuer zu tun hat. Die Hemmschwelle hängt tief, ich erfahre, was im Kopf eines schwarzen Intellektuellen vorgeht, der einen Weißen am "Steuer" erlebt. Aufgestauter Haß entlädt sich in immer neuen Provokationen. Cool bleiben, denke ich, der Mann ist betrunken.
Auf den Rücksitzen sind die beiden anderen Schwarzen verstummt, im Rückspiegel sehe ich ein seltenes Phänomen — ihre Gesichter sind blaß geworden.
Wir passieren das Stadtzentrum, das Politbüromitglied hat befohlen, zuerst ihn nach Hause zu bringen. Zu Hause ist er am anderen Ende der Stadt in einem noblen Chalet mit Auffahrt. Ich bremse — falsch!
"Exactly in front of the door, please!"
Also noch drei Meter. Der Wagen steht, ich steige sofort aus und denke, lieber Gott, laß ihn endlich verschwinden. Er bleibt sitzen und befiehlt: "Open the door!" Diesmal kein "please".
Das sind Momente, da bleiben drei Sekunden, um sich zu entscheiden. In diesen Sekunden wird mir klar, wenn du jetzt das Falsche tust, kannst du einpacken, und ich realisiere, daß mein Partner, längst wieder nüchtern, mich sehr genau beobachtet.
Ich beuge mich durch's offene Fenster und antworte, so gelassen wie möglich: "Lieber Freund, bleiben Sie da sitzen, bis Sie wieder nüchtern sind!"
Die beiden auf dem Rücksitz machen sich noch kleiner. Die Spannung ist kaum mehr zu ertragen — da dröhnt ein Lachen aus dem Wagen. Er öffnet die Tür, schwankt noch ein bißchen, kommt dann auf mich zu.
"Sorry," sagt er, "sorry, mein Freund!" und legt die Arme um meine Schultern. Ich führe ihn zum Portal, verabschiede mich, und habe begriffen, wie sich das Bild vom weißen Experten gelegentlich in schwarzen Köpfen reflektiert. Mir fällt die Maxime ein, die mir ein kluger Berater bei der Vorbereitung auf meinen Einsatz zu vermitteln suchte:
"Löse nie die Probleme anderer Menschen — hilf ihnen, ihre Probleme selber zu erkennen."

Das hatte sich schon in Bad Honnef ein wenig unrealistisch angehört: "Nicht-direktives, klient-zentriertes Beratungsgespräch nach CARL ROGERS." Der Guru für Dritte-Welt-Manager aus dem Abendland hat seine Philosophie in Geboten zusammengefaßt:

FÜNF IMPERATIVE FÜR VERSTEHENDES ZUHÖREN

1. Annahme des Klienten, und nicht die Initiative
2. Zentrierung auf sein Erleben und nicht auf äußere Tatsachen
3. Respektierung seiner Persönlichkeit und echte Wertschätzung,
anstelle einer Demonstration unseres Scharfsinns oder unserer Überlegenheit
4. Zentrierung auf die Person des Klienten und nicht auf sein Problem
5. Suche nach besserer Verständigung und nicht nach Deutungen

Rogers: "Der Ratsuchende hat Selbststeuerungsmöglichkeiten und ein latentes Problemlösungspotential, das es nur freizusetzen gilt. Er braucht Hilfen, sein Problem zu sehen, nicht aber sein Problem zu lösen."

Problemlösungen benötigen jedoch nicht bloß analytisches Vermögen, Reflektionsbereitschaft, Einsichten dieser oder jener Art, Problemlösungen bleiben Kopferfahrungen solange sie nicht materiell umgesetzt werden. Die materielle Umsetzung in einem Medienprojekt ist die Anschaffung und der Gebrauch von elektronischen Geräten: Kameras, Tonbandgeräte, Mischpulte.

"Das große Sprecherstudio, der Regieraum. Der Direktor der Rundfunkanstalt führt die Gäste herum und stellt die Einrichtung vor: die Tonbandmaschinen aus Deutschland, der Plattenspieler aus Frankreich, die Konsole mit den Pegelreglern aus Großbritannien. Die Tonbänder aus der Sowjetunion, das Studiomikrofon aus Kuba. Die große elektrische Uhr im Regieraum kommt aus der Tschechoslowakei. Der Tontechniker und der Produzent wurden von der britischen Rundfunkgesellschaft BBC ausgebildet. Die Muttersprache des Ansagers ist Kisuaheli, aber sein Englisch ist beinahe akzentfrei. 'This is the Voice of African Brotherhood, the Voice of the African Revolution. Good morning. Here are the latest news...'"
(ICH VERSTEHE DIE TROMMELN NICHT MEHR, dtv, München, 1984, S. 100)

Das Taschenbuch schenkte ein Freund in Bremen während unserer Vorbereitungszeit auf Afrika.
Bei einer Konferenz der Rundfunkchefs aus den Ländern des südlichen Afrika (SADCC) in Harare werde ich um einen Beitrag gebeten. Ich übersetze diesen Ausschnitt ins Englische, er steht am Anfang meines Vortrags. Das paßt natürlich nicht ins Konzept der Medienmanager, die auf dieser Konferenz einmal mehr die Trommel rühren wollen für materielle Hilfe. Die Unruhe wird größer als ich unter dem Stichwort "Phantasie statt Abhängigkeit" von meinen Erfahrungen in Vietnam berichte:

Seit den Fünfziger Jahren hatten die Nordvietnamesen ein bescheidenes Schwarz-Weiß-Fernsehprogramm betrieben. Als die Amerikaner im Frühjahr 1975 Südvietnam verlassen mußten, zerstörten sie all ihre technischen Installationen, nur eine Einrichtung hinterließen sie betriebsbereit: Das Farbfernsehstudio, das die Propaganda-Abteilung der US-Streitkräfte (AFN) benutzt hatte — als Speck in der Falle des Mediengeschäfts. Doch die Vietnamesen motteten das Studio ein — so fand ich es noch 1980 vor. Sie weiteten stattdessen ihr Schwarz-Weiß-Netz auf den Süden aus und vermieden auf diese Weise, für Wartung und Betrieb der neuen Technologie Devisen ausgeben zu müssen. Es wäre dabei ja auf Dauer nicht bloß um das kleine Saigoner Studio gegangen — eine Farbfernseh-Insel im wiedervereinigten Vietnam, die Medienplaner hätten sich gezwungen gesehen, umgekehrt — das Farb-TV-Netz früher als die eigene Bedarfsplanung zuließ nach Norden auszuweiten.

Im Konferenzraum herrscht verlegenes Schweigen. Endlich meldet sich der Generalmanager des malawischen Rundfunks zu Wort, einer der erfahrensten afrikanischen Medien-Manager.
Malawi, nördlicher Nachbar Zimbabwes, hat bislang standhaft auf die Einführung von Fernsehen verzichtet, verfügt dafür aber über eine große Erfahrung in der Produktion von Radio-Programmen.
"Unsere vietnamesischen Freunde können sich glücklich schätzen," sagt Toni Kandiero. "Wenn ich mich so umsehe, frage ich mich aber, wer von uns nicht im W e s t e n studiert hat — mit den zwangsläufigen Folgen. Wann kommen wir denn einmal zusammen — ich meine, außerhalb solcher Konferenzen, die in der Regel von fremden Organisationen finanziert werden? Zwei oder drei von uns, die ihre Probleme 'mal unter sich besprechen, nach eigenen Lösungen suchen? Wir haben uns daran gewöhnt, Hilfe von außen zu suchen — mit den entsprechenden Folgen!"
Es blieb der einzige — zugegeben ungewöhnliche — Diskussionsbeitrag, die Anmerkung fand sich später nicht im Protokoll.

Bei einer Commonwealth-Broadcasting-Conference im Jahr 1987 am Lake Kariba in Zimbabwe macht ein junger Assistant Director der ZBC in seinem Vortrag abermals nur die koloniale Vergangenheit der meisten afrikanischen Völker für ihre Planungsprobleme im Medienbereich verantwortlich. Wieder ist es der erfahrene Chef des malawischen Rundfunks, der die Gechichte geraderückt:
"Junger Mann, in einigen Staaten hatten die Weißen vor zwanzig, dreißig Jahren zum letzten Mal das Sagen!" erinnert Toni Kandiero den Nachwuchs-Kollegen. "Wir sollten uns abgewöhnen, heute noch die Verantwortung für unser eigenes Handeln auf die Weißen abzuwälzen. Wir sind unsere eigenen Herren, also wird es wohl Zeit, nachzuforschen, woran es sonst noch liegen könnte, daß wir nicht vorankommen!"

Das Bild auf dem Fernsehschirm ist wieder schief, die ZBC-Nachrichtenkamera zeigt eine Totale von Honoratioren, die auf einer Tribüne sitzen. Gleich rutschen sie von der Bank, purzeln aus dem Bild. Meine Familie kann mein Meckern nicht mehr hören.
"Nun sag ihnen doch endlich, daß sie die Kamera gerade aufstellen sollen!"
"Ich bin ja schon still."
Das erste Mal hab ich es einem Kameramann vor zwei Jahren gesagt, als er in Erwartung einer Minister-Rede sein Gerät in Stellung gebracht hatte und vor der Tür eine Zigarette rauchte. Ich steckte mir auch eine an und sagte beiläufig: "Comrade — schon gemerkt? Die Kamera steht schief!"
"Schon gemerkt, die Stative bei uns sind alle so!" Er zuckt die Achseln.
Die Kamera-Stative haben oben eine Wasser-Rose und an allen drei Beinen Justierschrauben. Wenn die Luftblase sich genau im Kreis befindet, steht die Kamera gerade, egal wie schief der Boden ist.
Mein Beratungsfeld ist das Radio, nicht das Fernsehen — dort sind Kollegen aus Großbritannien tätig. Also halte ich mich da besser raus — und ärgere mich dennoch nahezu täglich als TV-Nachrichten-Konsument über die schiefen Bilder.

Vom Bummel in der Stadt bringt die Tochter an einem Wochenende ein Blatt voller frecher Geschichten für junge Leute mit. Auf einer Seite ein Cartoon mit der Aufforderung: "Spot the ZTV-Cameraman!" Vier Bildschirme zeigen dasselbe Bild — Meereshorizont, ein Schiff in der Ferne, im Vordergrund senkrecht der Segelmast des Bootes, von dem aus der Kameramann filmt. Auf Bild Nummer drei läuft das Meer gleich aus dem TV-Rahmen, der Mast kippt nach links — das Bild ist hoffnungslos schief.
Es hat noch jemand gemerkt!
Am Montagmorgen klemme ich mir die Zeitung unter den Arm, im Foyer des Rundfunkgebäudes läuft mir eine Kollegin über den Weg.
"Quiz-Time!" sage ich und halte ihr den Cartoon unter die Nase. Sie guckt sich die Bilder eine Weile an, liest die Aufforderung "Spot the ZTV-Cameraman!" Grübelt.
"Na und?" frage ich nach einer Weile. "Gefunden?"
"Was?"
"Na, das Bild vom ZTV-Kameramann!"
"Da ist doch kein Kameramann!"
"Natürlich nicht. Du sollst doch auch bloß herausfinden, welche Aufnahme von ihm stammt!"
Grübeln. Jetzt grübele ich mit. Da wollte ich mir einen Spaß machen, und nun wird es ernst.
Die junge Dame war zum Training in Frankreich und in Deutschland, sie ist eine der erfahrensten Produzenten im Radio, nicht beim Fernsehen. Aber das muß doch ein Blinder mit dem Krückstock sehen, denke ich, und versuche es noch einmal.
"Sind denn alle Bilder gleich?"
Erneutes Grübeln.
"Das eine Schiff ist ein bißchen kleiner?"
Oh, Gott — wie sag ich's ihr? "Löse nie die Probleme anderer Menschen," schießt es mir durch den Kopf.
"Bild Nummer drei ist schief!"
"Ach so."
Es klingt wie "Na und?". Ich verkneife mir einen Kommentar, beschließe jedoch, noch nicht aufzugeben. Mit der Zeitung in der Hand mache ich die Runde durch die Büros — niederschmetternd! E i n e r von fünfundzwanzig, unter ihnen auch Techniker, erkennt das Problem sofort. Ich nehme die Zeitung zum nächsten Termin in die ZBC-Zentrale mit, zeige den Cartoon dem Programmdirektor, dem Generaldirektor — "Quiz-Time" in der Verwaltungsspitze. Bald wird klar, weshalb noch kein Kameramann einen Rüffel bekommen hat — es merkt schlicht keiner!
In der ZBC-Verwaltung arbeitet an vorderster Front ein Weißer, er ist praktisch für alles zuständig, vom Fuhrpark, über die Rechtsberatung bis zur Kulissenausstattung. Bei ihm weine ich mich aus.
Er hat nur gegrient, als er das schiefe Bild sah. Er bietet mir einen Tee an und weiht mich ein in seinen Arbeitsalltag.
"Da gebe ich einem Maler den Auftrag, die beiden senkrechten Streifen auf der Kulisse parallel zu malen. Sie sind nicht parallel als ich die Arbeit abnehme. Die Streifen sollten parallel sein, sage ich. Warum, fragt er. Weil es weh tut, antworte ich. Warum?" Lächelnd trinkt er seinen Tee.
"Was soll ich darauf antworten? Ihm tut es offenbar nicht weh, aber er malt sie schließlich parallel, dafür sorge ich schon."
Ich gehe zurück zu meinem schwarzen Freund, dem einzigen, der den Unterschied auf den Bildern des Cartoons erkannt hat. In seinem Büro hängen, wie in tausend anderen, die Bilder des Regierungschefs und des Präsidenten an der Wand — sie hängen schief, sie hängen überall schief! Es tut ihm nicht weh, aber er läßt sich auf eine Dikussion ein, die uns beide weiterbringt, ein seltenes Ereignis.

Am Ende haben wir eine Hypothese: Parallelen — sie gewannen an Bedeutung, als Menschen begannen, Großbauten zu errichten. Säulen-Tempel wären eingestürzt ohne sie. Die industrielle Massenproduktion identischer Teile wäre ohne die Vorgabe des rechten Winkels nicht möglich gewesen. Die ständige Gegenwart dieser mathematischen Normen im Alltag prägte das Bewußtsein der Menschen in den Industrieländern, erst rational, dann emotional in ihrem ästhetischen Empfinden. Mir fällt Loriots Handelsvertreter in einem Sketch ein, der das Geraderücken von Bildern und Gegenständen besessen bis zum Chaos betreibt — erst in Afrika wird mir die Hinterlist dieser Szene bewußt, über die ich gelacht, aber nie nachgedacht hatte.
Mein Freund stellt fest: "In der Natur gibt es kaum Prallelen, keinen rechten Winkel. Fast alle sind wir in runden Hütten geboren und in der Natur aufgewachsen. Das 'Four-Corner-House' ist erst für wenige Familien erschwinglich. Seit der Unabhängigkeit gilt es als Statussymbol. Davor haben wir genommen, was uns die Natur bot, Äste für die Dachkonstruktion, Lehm für die Wände. An denen gab es keine Ecken und Kanten. Und in den Städten? Da haben wir den Weißen gedient — in ihren Häusern, ihren Fabriken, ihren Büros!"

Mit den Maschinen in schwarzer Hand muß der schwarze Kopf den Umgang mit dem rechten Winkel erlernen, nicht nur bei der Kameraeinstellung, auch bei der Wartung, der Lagerhaltung, der Vorausplanung. Lernt er es nicht, wird es weh tun — zuerst im Portemonnaie!

 
 
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