DER WEG NACH ZIMBABWE oder VERSUCHE, DIE FREMDE ZU VERSTEHEN
© 1990 — Klaus Jürgen Schmidt



"ICH BIN NICHT DU"



Die Fremde spielt sich im Kopf ab. Man nimmt sie mit, wie weit auch die Füße tragen. Man erfährt sie, wenn Normen aufeinandertreffen, und erst wenn unterschiedliche soziale Erfahrungen in A u s t a u s c h geraten, kann eine neue Heimat entstehen. Das ist nie ein einseitiger Prozeß. Das Eindringen des Fremden — als Person oder als Idee — verändert auch die Heimat der Alteingesessenen, ihre Gewohnheiten, die Strukturen, in denen sie danach leben.

Jahrhunderte lang war dies meist nur ein von Gewalt begleiteter Prozeß: Fremde Herren bezwangen andere Herren, ihre Völker hatten keine Wahl — sie hatten sich zu mischen, die effizientere Lebensform setzte sich durch. Oder Volksgruppen, durch Not oder Gewalt vetrieben, siedelten in einem fremden Land, dort kreierten sie die alte Heimat im Ghetto — oder beteiligten sich am A u s t a u s c h von Lebensformen und Ideen, aus dem eine gemeinsame, neue Heimat entstand.

Entwicklungshelfer, Experten, Consultants (und ihre Familien) sind keine Siedler der alten Art. Es gibt sie gerade seit gut zwanzig Jahren — und sie leben auf Abruf, mit begrenzten Zeitverträgen. Doch in dieser begrenzten Zeit greifen sie an den Schlüsselstellen der fremden Gesellschaft in deren Entwicklung ein. Ihre Wirkung ist wahrscheinlich nur mit der früher Missionare zu vergleichen, die allerdings ein ganzes Leben damit verbrachten, um von unten her neue Ideen in die heidnischen Köpfe zu senken. Daß einige katholische Priester etwa in Südamerika jedoch erst nach knapp fünfhundert Jahren auf die Idee kamen, sich mit den wirklichen Nöten der konvertierten Seelen vertraut zu machen (um nun als Befreiungs-Theologen zu wirken), läßt Zweifel aufkommen, ob Entwicklungshelfer, Experten und Consultants mit ihren Kurzzeit-Verträgen überhaupt eine Chance zum Ideen-Austausch haben, geschweige denn — Heimatgefühle zu entwickeln. Zu ihrem Auftrag jedenfalls gehört dies nicht!
Also leben sie — in der Regel — in einem Ghetto. Dieses Ghetto auf Zeit ist zugleich das Schaufenster, an dem sich die Menschen der Dritten Welt die Nasen plattdrücken. Hinter der Scheibe sehen sie, was die Erste Welt zu bieten hat: materiellen Wohlstand, den der Entwicklungshelfer, der Experte, der Consultant privat repräsentiert — mit seinem Auto, seiner Farbferseh-Video-Kombination, seinen Parties, und mit s e i n e r Aussicht auf Heimkehr. Dort, hinter der Scheibe, zehntausend Kilometer weit weg, ist die Heimat des Magneten, der das Geld anzieht — und die verwirrten Köpfe, auf der Suche nach ihrer verlorenen Identität.

Ich bin nicht du —
doch du willst mir
nicht meine Chance geben,
willst mich nicht ich sein lassen.
"Wenn ich du wäre" —
jedoch du weißt:
Ich bin nicht du,
und doch willst du
nicht, daß ich ich bin.

Roland Tombakai Dempster, Liberia
(ICH VERSTEHE DIE TROMMEL NICHT MEHR, dtv, München, 1984)

"Harambee" heißt "An einem Strang ziehen". Der Pastor in der Martin-Luther-Kirche zu Bremen hat das zum Motto seiner Predigt gewählt — damals 1968, als — inmitten von Studentenunruhen, Demos auf Straßenkreuzungen, klirrenden Glasfronten, brennenden Barrikaden in den europäischen und nordamerikanischen Zentren — zwei junge Leute in der norddeutschen Hansestadt ganz bürgerlich vor dem Traualtar standen.
Der Pastor hatte zuvor, wie es sich gehört, die beiden zu einem vorbereitenden Gespräch besucht — in der Baustelle ihres künftigen Nestes, einem kleinen Altbau in einer stillen Bremer Straße. Das Häuschen hatten die beiden einer alten Dame abgekauft, die sich am Ende ihrer Tage entschlossen hatte, ihrem Sohn nach Kanada in dessen neue Heimat zu folgen. Unter den Verwandten und Freunden, die halfen, Mauern einzureißen, Ziegelsteine zu klopfen, Mörtel anzumischen — war ein Schwarzer, Joseph aus Kenia.
"Harambee" — das Kisuaheli-Wort lernte der Pastor von Joseph.

Zwölf Jahre vorher war Joseph Mitglied des Geheimbundes der Kikuju in Kenia gewesen, der MAU MAU, die mit Terror weiße Farmer vertrieben, um die Neuverteilung des Bodens unter die landlosen Kikujus und die nationale Unabhängigkeit zu erreichen. Der offene Aufruhr der MAU MAU von 1952 bis 1956 wurde von britischen Truppen niedergeschlagen. Als ihr Anführer wurde Jomo Kenyatta 1953 von den Briten zu sieben Jahren Haft verurteilt. Zehn Jahre später war er Regierungschef eines unabhängigen Kenia. Fünf Jahre danach kam Joseph aus Nairobi nach Bremen — als Rundfunk-Hospitant der "Voice of Kenya" bei Radio Bremen, für zwei Jahre. Er kam in die Kälte, die ihn erfrieren ließ.

Eines Tages saß er in der Redaktion, niemand hatte ihn richtig vorgestellt, er saß da, trank Kaffee und las die BILD-Zeitung. Deren simples Deutsch konnte er einigermaßen verstehen — nach einem dreimonatigen Intensivkurs bei der Carl-Duisberg-Gesellschaft. Einen Monat später las er immer noch BILD-Zeitung, den Kaffee braute er inzwischen für die ganze Redaktion, zwischendurch schnitt er Agenturmeldungen ab, holte Post: "Joseph kannst du mal eben ... — Joseph, hol doch mal eben ...!"
Joseph hatte in Nairobi einen eigenen Dienstwagen mit Fahrer gehabt, er war — nach Rückkehr — für den Posten eines leitenden Redakteurs vorgesehen. Das erfuhr ich, als ich ihn das erste Mal mitnahm auf unsere Baustelle, beim Abreißen der alten Tapeten. Als wir uns ans Rausreißen der morschen Dielenbretter machten, erzählte er von seiner Familie, die er schon sehr vermißte: ein Junge, die Frau nun schon vier Monate allein zu Hause.
"Wie ist es bei dir zu Hause, Joseph?"
Er erzählt von dem Autounfall, der ihn ein Stück Nase gekostet hat, nun mit einem haarigen Stück seiner eigenen Haut ersetzt — ein Grund für seine Schüchternheit hier in der Fremde, er hat die Neigung, das Flickwerk stets mit der Hand zu bedecken.
Wir klopfen zementharten Putz von der Wand, räumen den Schutt unter den Ahornbaum — "Foftein", Pause in der Spätsommersonne auf dem Eisengeländer, das das Grundstück zur Straße hin abgrenzt.
"Wie war das, als du geheiratet hast?"
"Ich habe sechs Kühe zahlen müssen!"
"Bitte?"
"Na klar — als Brautpreis," lacht Joseph.
"Das gibt's noch bei euch?" — Mir kommt eine Idee. "Willst du nicht mal was darüber im Funk machen?"

Es war das einzige Programm, das wir zusammen zustande gebracht haben. Es lag damals wohl auch an meiner Unfähigkeit, die fremde Denkweise zu begreifen und — vor allem — sie als eine Möglichkeit zu akzeptieren, andere Lebensformen sinnvoll zu begründen; ich habe sicherlich versucht, Joseph meine europäischen Ansichten von Liebe, Ehe, Zusammenleben von Mann und Frau aufzudrängen. Und er hat sich nicht gewehrt — hat er sich etwa geschämt — für Afrika? Herausgekommen ist jedenfalls ein unbefriedigendes exotisches Stück à la "Zwischen Hamburg und Haiti", dem seinerzeit beliebten Reise-Magazin des NDR. Eine Chance war vertan.

Die Kälte nahm zu — Joseph erlebte seinen ersten Winter. Er war aus dem ökumenischen Wohnheim mittlerweile zu uns ins fertiggestellte Häuschen gezogen, wohnte unterm Dach in der Mansarde. Die Situation im Funkhaus hatte sich für ihn keineswegs gebessert. Er wanderte durch die Redaktionen, ohne irgendwo wirklich gebraucht zu werden. Der kleine Sender war überfordert, ein vernünftiges Trainingsprogramm kam nie zustande. Und das Ehepaar Schmidt war mit der Familiengründung beschäftigt, es wollte abends auch mal allein sein.

An einem Sonntagmorgen findet Frau Schmidt beim Putzen in der Mansarde eine leere Korn-Flasche im Papierkorb. Alarm! Joseph hat nie Alkohol getrunken und so nachdrücklich jedes Angebot abgelehnt, daß daraus der einzige Schluß zu ziehen war:
Er hatte irgendwann eine Entziehungskur durchgemacht. Bei seinem Einzug hatten wir uns gegenseitig versprochen, jederzeit offen miteinander umzugehen, also uns auch zu sagen, wenn uns irgendetwas nicht paßt. Jetzt ist es soweit.
Unser Freund leugnet, die Flasche überhaupt nur gesehen zu haben, und wir bleiben mit dem unguten Gefühl zurück, uns in seine Privatsphäre eingemischt zu haben.
Nach einer einwöchigen Dienstreise werde ich mit der nächsten Hiobsbotschaft konfrontiert: Elsa berichtet von Frauenbesuchen eindeutiger Art mit mehr leeren Korn-Flaschen am nächsten Morgen im Papierkorb. Am selben Abend treffe ich Joseph, schon leicht angetrunken, im Flur, als er eine Prostituierte über die enge Treppe nach oben bugsiert. Er ist nicht ansprechbar — er ist es überhaupt nicht mehr. Der Winter seiner Gefühle hat ihn erstarren lassen. Der Winter draußen tut das Übrige. Joseph hat sich aufgegeben, und wir sehen hilflos zu. Er erscheint wochenlang nicht mehr in der Redaktion. Dort wird er kaum vermißt. Als er drei Tage lang auch von zu Hause wegbleibt, schalten wir die Polizei ein, und erfahren, daß er wegen Ladendiebstahls und Kneipenrauferei dort schon bestens bekannt ist. In mehreren Nächten bringt ihn ein Funkwagen in die Straße, die Polizisten parken verständnisvoll am unteren Ende und schleppen ihn möglichst geräuschlos ins Haus.
Eines Tages hat Joseph uns verlassen.

Radio Bremen hat ihn zum großen Nachbarn nach Hamburg abgeschoben. Bei einem Journalisten-Seminar in Bonn kommt es — so erfahre ich viel später — zum Eklat: Nach einem peinlichen Zwischenfall im Kanzleramt kann ihm nur noch sein Botschafter helfen: Joseph muß heim nach Kenia.

Monate später erhalte ich eine Vorladung der Bremer Staatsanwaltschaft. Anhängig ist die Anzeige einer Funkwagenbesatzung, die bei einer Wirtshausschlägerei von Joseph angegriffen worden sein will. Vor dem verständnisvollen Staatsanwalt ziehe ich die Bilanz eines mißlungenen Versuchs, die Identität in der Fremde zu suchen.
Wir haben alle versagt, Regierungen, Institutionen, Kollegen, Freunde. Wir haben versagt, weil kein A u s t a u s c h zustande kam, weil er nie beabsichtigt war.

Achtzehn Jahre später fahnde ich in Nairobi nach Joseph. Er ist auch zu Hause vergessen. Auch er hat versagt, in einer Kultur, die längst ihre eigene Identität aufs Spiel gesetzt hat.

 
 
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