DER
WEG NACH ZIMBABWE oder VERSUCHE, DIE FREMDE ZU VERSTEHEN
© 1990
Klaus Jürgen Schmidt
WEG AUS DER ENGE
In diesem Winter 1986/87 erinnert Mitteleuropa an Bilder
aus dem tiefsten Sibirien: "Wie der Stahl gehärtet
wurde" Ostrowskis Epos über den kollektiven
Bau einer Eisenbahnlinie durch die froststarre Taiga.
Ich habe eine verschwommene Erinnerung an diesen
Entwicklungs- und Erziehungsroman aus den Dreißigern, in
den Fünfzigern Pflichtlektüre in der Karl-Liebknecht-Schule
zu Bernsdorf. Hängengeblieben ist der Eindruck von tödlicher
Kälte, wie sie jetzt in unser Auto kriecht, durch alle
Ritzen, und trotz auf Höchstleistung laufender Heizung
die Innenseiten der Scheiben mit Frosträndern beschlägt.
Es geht schon seit geraumer Zeit bergauf, zwischen
meterhohen Schneewänden, vorbei an vereinzelten Ferienhäusern
und kleinen Pensionen, die unter Panzern von Eis
verborgen bleiben, ausgewuchert zu Eiszapfen-Palästen.
In engen Kurven sind Lastkraftwagen mit schwerer Fracht
liegen geblieben, schwarzer Gummi hat sich in schartigen
Eismulden abgerieben. Wir ziehen mit 75 PS und
Vorderradantrieb vorbei, und schaffen es dennoch nicht
vor Einbruch der Dunkelheit. Die Hinweisschilder sind
zugeweht, wir schlittern in eine hohle Gasse aus Schnee
und Eis, kärglich beleuchtet durch Bogenlampen hinter
Vorhängen von treibenden Flocken.
Zinnwald, Staatsgrenze der DDR, Übergang von der CSSR
ein Mann und eine Frau mit westdeutschen Reisepässen,
die als Wohnort Harare / Zimbabwe ausweisen, begehren
Einlaß. Für den Transit gibt es eine Laufnummer. Die
DDR-Botschaft in Harare hatte bestätigt, für die
Unterbrechung der Durchreise sei ein Visum nicht
erforderlich stimmt, aber nun ergibt sich ein
anderes Problem: Die Laufnummer soll auch das
Herkunftsland der Transitreisenden vermerken, doch die
Buchhaltung des DDR-Außenministeriums erweist sich als
unzuverlässig. Der abgegriffene Katalog, der die Länder
der Welt durchnummeriert, registriert unter "Z"
Fehlanzeige. Ich rege an, unter "S"
nachzuschlagen: Das Bonner Auswärtige Amt schreibe das
afrikanische Land mit "S" "Simbabwe"
(und denke an deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten).
"Ooch nich," sagt die Dame von "Intourist",
und da steigt in mir ein Verdacht auf.
"Vielleicht versuchen Sie es mal unter 'R' wie
Rhodesien," schlage ich vor.
"Nu ja, da hammers ja!" Erleichterung, sächsische
Bürokratie kann ihren Lauf nehmen nummernmäßig.
Wir schlittern bergab Richtung Elbe, durch heimelig
erleuchtete Kurorte, hinter Schneewehen am Wegesrand
lockt die Wärme eines Cafes. Doch halten ist unmöglich:
Die Einfahrt ist blockiert durch Schneemassen. Es wäre
Zeit, den Tank aufzufüllen. Am Ortsausgang Licht in
einer Tankstelle, die Zufahrt blockiert durch
Schneemassen. Will hier keiner ein Geschäft machen?
Zwei Scheinwerferstrahlen drängen uns an den Wegrand,
ein Militär-LKW donnert vorbei, die Rücklichter sind
bald vom Schneetreiben verschluckt. Vorsichtig nehmen wir
die Fahrt wieder auf. Nach zwei Kilometern springt eine
winkende Gestalt in den angestrahlten Schneewirbel.
Dahinter rechts die dunkle Silhouette eines
liegengebliebenen PKW.
"Gönnse uns wohl een Gefalln dun? Mer sin
liechengebliem!" Eiszapfen am Bart, der Atem
gefriert sofort zur Frostwolke.
"Was ist denn das Problem?"
"Nu die Badderie is alle. Bin schon zwanzsch
Gilomeder runnergeloofen un widder hoch. Mer missen
abgeschlebbd wern."
"Aber war das nicht eben die Volksarmee, die
vorbeigefahren ist?"
"Nu die helfn doch nich! Däden Se uns wohl
den Gefalln?"
Nach zwanzig Kilometern eine Tankstelle ohne
Schneeblockade. Eine Hand kommt durchs geöffnete Fenster.
"Is'n Johannisbeerligör aus der Gechend. Nehmses
als Dangescheen!"
Ankunft im Hotel "Newa", für die erste Nacht
in Dresden zugewiesen am Grenzkontrollpunkt durch "Intourist".
"Haben Sie aus Zinnwald eine Reservierung für uns
erhalten?"
"Nee nich für Sie, bloss für zwee Leude aus
Zimbabwe."
"Ja, das sind wir!"
"Abber, Se sin doch geene Afriganer!"
Die Koffer haben wir selber hereingeschleppt, jetzt geht
es um eine Hotelgarage. Ein Batterietod in der Frostnacht
soll vermieden werden.
"Mer ham nischt mehr frei!"
Der Hinweis auf 170 Westmark für eine Übernachtung
hilft schließlich weiter, der Privatwagen eines
Hotelangestellten wird aus der Box der Tiefgarage in die
gähnende Leere des Untergeschosses gerollt. Endlich
betreten wir unser Zimmer im siebten Stock und
gehen rückwärts wieder raus: Wir haben eine Sauna
gemietet. Eine Etagenkraft des Hotelkaders klärt uns auf
die auf voller Pulle laufende Heizung läßt sich
leider nicht regulieren. Also strömt die zentral
angelieferte Kraftwerkwärme durch weitgeöffnete Fenster
in die Dresdener Nacht. Die lockt zu erster Erkundung.
Nach einigem Suchen finde ich den Bierkeller am Alten
Markt, in dem ich mit Muttern auf Ausflug vom Dorf in die
Großstadt 1956 Kasseler mit Sauerkraut gegessen hatte.
Unsere Mäntel werden an der Garderobe gegen zwei
Groschen entgegengenommen. Wir steigen die Treppe hinab
und finden uns am Ende einer Schlange wieder, die
geduldig darauf wartet, daß im Restaurant der eine oder
andere Platz geräumt wird das kann Stunden dauern.
Jedesmal, wenn ein Ungeduldiger die Schwingtür öffnet,
tönt es vollkehlig aus dem warmen Säulensaal:
"Es zieht!"
Wir nehmen unsere Mäntel wieder und erklettern nach
weiterem Irren durch menschenleere Straßen den ersten
Stock eines Etablissements, das vor dreissig Jahren erste
Adresse sozialistisch-kulinarischer Solidarität war: Ein
ungarisches Speiserestaurant. Hier ist es zwar leer, aber
der (deutsche) Kellner schränkt sofort die Wahlfreiheit
ein auf einem Podium im hinteren Teil möchten wir
bitte Platz nehmen. Vier bis fünf Tischbesatzungen
beobachten unseren Widerstand, selber brav auf ihren
vermutlich ebenso angewiesenen Plätzen. Die ganze
Fensterfront ist frei, wir werden zu Dissidenten
und genießen bei Gulasch und Rotwein den Blick auf eine
einsam rumpelnde Straßenbahn.
"Laß uns morgen früh durchfahren bis Bremen,"
sagt meine Frau, aber ich will mir die Annäherung an
meine Heimat nicht nehmen lassen (und außerdem haben wir
schon 180 Westmark für die nächste Übernachtung in
Weimar bei "Intourist" hingeblättert).
Der Zwinger ist am nächsten Morgen unser Ziel, ich will
noch einmal die "Sixtinische Madonna" sehen,
vor der ich atemlos als kleiner Junge stand. Beinahe hätte
ich sie verpaßt, denn ein kleiner dicker Sachse erwischt
uns im Ersten Stock, hat uns fix ausgemacht als Westler
und verwickelt uns in ideologieträchtige Diskussionen.
"Gorbatschow" ist sein Thema und sein
rotes Tuch. Verblüfft nehme ich zur Kenntnis, "daß
der Mann erschossn geheerd". Ich merke bald, das
Weltbild des alten deutschen Kommunisten ist
durcheinandergeraten.
"Das gehd doch bloß uf unsre Gosdn," wettert
er, "nach außen midn Ameriganern scharwänzln un
nach innen fesde druff!"
Konsequent ist er aus der Partei ausgetreten und bewacht
nun die alten Meister in Dresdens Zwinger-Galerie.
Im Eingang des "Newa"-Hotels steht bei unserer
Rückkehr plötzlich auch eine Wache, das riesige Foyer
dahinter ist düster und menschenleer. Wo sind an diesem
Tag mitten in der Woche all die Hotelgäste?
"Nu mer machen sauber!" sagt der Wächter
und läßt mich ausnahmsweise noch mal rasch aufs Klo.
Der gesamte Geschäftsbetrieb ist für vierundzwanzig
Stunden eingestellt, die Planwirtschaft holt Atem
koste es, was es wolle.
43 Kilometer hinter Dresden radelt ein Bauer am gelben
Hinweisschild vorbei: "Bernsdorf" der
Name hat sich nicht geändert, obwohl der Ort inzwischen
Stadtrechte erhielt.
"Zuerst kommt der Bahnhof, dann ein Wäldchen,"
will ich erklären, aber da sind wir schon an ihm vorbei
und das Wäldchen noch immer vorhanden
ist auch schon vorüber. Die Welt ist kleiner
geworden, seit ich als Junge, mit dem Milchtopf in der
Hand, die Strecke zu bewältigen hatte.
Ich bremse, das Haus meiner Kindheit steht in
winterlicher Nachmittagssonne, gealtert, aber in
erinnerter Kontur zur Linken. Große Mörtelflächen sind
abgefallen es ist mit mir älter geworden, denke
ich. Mein Blick schweift über die Nachbarschaft
mein Gott, die Zeit hat stillgestanden. Verfall ja, aber
wenn Altern Entwicklung meint, dann haben wir beide
das Haus und ich sehr unterschiedliche
Erfahrungen gemacht. Als ich aus dem Wagen steige, trete
ich in ein altes, vergilbtes Bild.
Der Hof: Die Tür zu unserem alten Schuppen steht offen,
dort hinten ist unser Feuerholzplatz, ein "Scheitlahaufen"
wie damals der Garten, unverändert. Nein, die
Kaninchenställe von Opa Hayden fehlen, der mir seine
Karl May-Bände lieh und in dessen selbstgebasteltem
Radio wir Kinder Westfunk hörten illegal
"Der Onkel Tobias vom RIAS ist da". Opa Hayden
hatte mir die erste schmerzliche Erfahrung im Umgang mit
Geld vermittelt: Eine geschenkte Banknote mit unzähligen
Nullen, in der Hand des Sechsjährigen schon eingeplant für
die Anschaffung eines Motorrades, erwies sich als
wertloser Inflationsschein.
Namensschilder an Briefkästen im Treppenhaus. Ist da
noch jemand, den ich kenne? Der Schneider Panitzek in der
Wohnung über uns!
Ich ziehe meinen Handschuh aus, klappe die Ohrenschützer
der Fellmütze zurück diese Mütze, eine "Russen"-Mütze,
erst jetzt fällt es mir ein, schenkten mir die Eltern zu
einem Weihnachtsfest in diesem Haus! Der Mantel, ihn trug
mein Vater hier! Beides wurde zur Ausrüstung des Afrika-Heimkehrers
im deutschen Winter, unbedacht in Bremen zusammengeklaubt
aus Kellerbeständen, weil Winterkleidung nurmehr für
Urlaubswochen nötig wird.
Es schellt irgendwo hinten in der Wohnung.
"Ja, bitte?" Die ältere Frau, die geöffnet
hat, schaut fragend auf die Fremden.
"Mein Name ist Klaus Jürgen Schmidt..."
"Die Schmidts wohnen schon lange nicht mehr hier!"
Aber noch bevor ich die nötige Erläuterung geben kann,
schallt es aus einem der hinteren Räume: "Der
Klausi!"
Das war's! Nun hatte mich die Vergangenheit ganz
eingeholt, nicht nur als Bild, sondern auch akustisch.
"Klausi" wie ein Echo meiner Kindheit
hallt es durchs Treppenhaus. Ich kann es kaum kapieren.
Als wäre ich nur mal eben von einem längeren
Ferienaufenthalt zurückgekommen damals etwa aus Kühlungsborn
an der Ostsee sitzt der alte Panitzek gegenüber
vom Kachelofen und fragt mich aus.
"Wo lebt ihr jetzt, in Zimbabwe? Laß mal
sehen das ist doch dieser südliche Teil der
ehemaligen Rhodesischen Föderation!" Wom!
"Wohnt ihr in Salisbury? Nein nein, das heißt
doch jetzt Harare!" Womm!
"Ja, ja euer Premierminister Robert Mugabe
ist bei uns häufig auf dem Bildschirm!" Wommm!
Also, aus der "Lausitzer Rundschau" kann der
alte Panitzek sein Wissen nicht ausschließlich bezogen
haben, und ich versuche mir vorzustellen, was wohl ein
BRD-Rentner mit dem Begriff "Zimbabwe"
anzufangen wüßte.
"Ihr mögt ja materiell einen weiten Vorsprung
haben," sagt der alte Panitzek, "aber unser
Bildungswesen, gerade all das, was die Entwicklungsländer
angeht, da sind wir nicht schlecht versorgt."
Unglücklicherweise hapert es in diesem Winter in der
Dresdener Straße 62 zu Bernsdorf mit der
Wasserversorgung, vor allem im sanitären Bereich. Wie
sehr mich das an die Kindheit erinnert: Wie in den fünfziger
Jahren hat das Eis die Wasserrohre in den Außenwänden
gepackt. Die Etagen-Plumpsklos sind zwar durch Wasserspül-Klosetts
ersetzt, aber da die Zuleitungen eingefroren sind und
nichts mehr plumpst, wird das Spülwasser in Eimern auf
die Etagen geschleppt.
"Fortschritt, mein Freund, wird bei uns unter
anderem an der Zahl von Wasserklosetts gemessen, die seit
Gründung der DDR installiert wurden," sagt mir später
ein Bekannter mit Zugang zu Planungs- und Statistikdaten.
"Wir bauen zum Beispiel auch Waschmaschinen nach
Plan. Dennoch wirst du kaum eine in den Läden finden.
Wie kommt das? Die sozialistische Planerfüllung
funktioniert real so: Der Betrieb schafft nur 80 Prozent
des vorgegebenen Plans das ist von Anfang an klar.
Die nächst höhere Ebene, politisch verantwortlich für
die Erfüllung des Solls, meldet dennoch 100 Prozent
Planerfüllung nach Berlin. Auf dem Weg durch die
zentralen Büros verwandelt sich das Produktionsergebnis
auf wundersame Weise schließlich in eine Übererfüllung
des Solls sagen wir 120 Prozent. Mit
Waschmaschinen lassen sich dringend benötigte Devisen
erwirtschaften die tauchen dann im Versandhandel
bei euch im Westen auf. Also wird ganz oben entschieden:
80 Prozent in den Export, 40 Prozent für den eigenen
Markt. Es sind immer diese 40 Prozent, von denen wir
leben!"
Draußen sinkt die Sonne. Drüben an den Holzbauwerken
zieht eine Diesellok Güterloren vorbei. Im Winter der Fünfziger
pflegte der Mann auf der Dampflok nachts langsamer zu
fahren, damit wir Kinder hinten auf die Waggons
aufspringen und unseren wartenden Freunden
Braunkohlebriketts zuwerfen konnten bis einer vom
Schäferhund der Vopo-Wache gebissen wurde.
Unsere Bande nannte sich "TIMUR" nach
Arkadij Gaidars Jungen-Roman "Timur und sein Trupp".
Wir trugen die blauen Halstücher der Jungen Pioniere
mit Stolz in jener Zeit von gemeinsamem Aufbau.
Wir sammelten Altpapier, Lumpen, Eisen, Glas, Knochen und
Eicheln in immer neuen Wettbewerben; der kleine Klaus
hatte seinen Mark Twain gelesen, kaufte Mitschülern als
verkappter Tom Sawyer gegen Pfennigbeträge den Trödel
ab und erschlich sich den begehrten Platz im Bus zur
Rundfahrt durch den Thüringer Wald. Wir organisierten
mit Begeisterung die Kolonnen für den Aushub der Gräben
entlang der Sraßenzüge im Dorf, das Netzwerk erster
Wasserleitungen. Das war Klausis erster Zugang zum
Mediengeschäft: Ein Artikel im Zentralorgan der "Jungen
Pioniere" und zehn Abo-Werbungen, die als
"Selbstverpflichtung" vom Arbeitseinsatz
freistellten. Der Schneider Panitzek fand damals eine
andere Lösung: Er hatte Sorge um seine nur Nadel und
Faden gewohnten Finger und kümmerte sich lieber um den
Nachschub voller Bierkrüge von "Baldermann",
den Radeberger Bierstuben zwei Häuser weiter, als
selbsternannter Zeremonienmeister der freiwilligen
Aufbauschicht.
Sonntagvormittags die Botschaften von "Onkel Tobias
vom RIAS" bei Opa Hayden im Radio, nachmittags am
einzigen Schwarz-Weiß-Fernseher des Ortes im Clubraum
der Zinkweißhütte die patriotischen Botschaften
sowjetischer Jugendfilme.
In einem Winter wie diesem lauern fünf Jungen und zwei Mädchen
hinter der Gartenmauer bei Oma Lehmann. Endlich meldet
der Ausguck: "Die Luft ist rein!"
Oma Lehmann zieht mit dem Schlitten zum KONSUM. Sieben
Kinder mit blauen Halstüchern stürzen auf ihren Hof.
Eine Stunde später ist der vormittags angelieferte Berg
Braunkohle durch das Kellerfenster geschaufelt, mit dem
letzten Stück malt Klausi fünf Buchstaben an die Mauer:
TIMUR, und dann wartet die Bande im Versteck auf die Rückkehr
von Oma Lehmann. Die kriegt fast einen Herzschlag, als
sie den leeren Hof betritt. Sieben Kinder mit glühenden
Wangen schultern ihre Schaufeln und schleichen von dannen.
Im Abfall der Holzbauwerke, sorgfältig für Küchenherd
und Kachelofen das Jahr über auf dem Holzhackplatz
gestapelt, findet Klausi in einem Sommer ein Stück, das
sich mit Hilfe eines Schnitzmessers bald in die Form
eines Gewehres verwandelt. Zwischen Bohnen- und
Tomatenranken wird mal "Old Shatterhand", mal
"Rotgardist" gespielt bis sich im
Zweiten Stock ein Fenster öffnet.
"Ihr Lausejungen! Haben euch eure Eltern
nichts besseres beigebracht?"
Die sonst so stille Nachbarin, die sich an Hausfesten nie
beteiligt, an der sich im Treppenflur die anderen
Bewohner scheu vorbeidrücken sie schreit sich
jetzt die Lunge aus dem Leib.
"Die Hand soll euch verdorren, wenn ihr noch mal ein
Gewehr anfaßt!"
Aber es ist doch nur ein Stück Holz, denkt der kleine
Junge und beschwert sich abends bei Vatern.
"Die Zeilern soll sich bei ihren Kommunistenfreunden
beschweren, d i e laufen doch schon wieder mit der Knarre
'rum," bekommt der Junge zu hören.
"Aber sie war doch im Lager," beschwichtigt
Muttern.
Im Lager?
Einige Monate später gehen alle Klassen der Karl-Liebknecht-Schule
geschlossen zu einer Nachmittagsvorstellung ins Dorfkino.
Danach kann Klausi nächtelang nicht schlafen, und die
Eltern beschweren sich beim Schulleiter eine
Zumutung für die Kinder!
Der kleine Junge hat Berge von Leichen zu sehen bekommen,
Verbrennungsöfen, ausgemergelte Überlebende des
Konzentrationslagers von Auschwitz. Zu Hause wird darüber
nicht gesprochen. Aber Klausi sieht nun die Zeilern mit
anderen Augen, und irgendwann hat er ihr heimlich einen
Schuhkarton mit Tomaten und Bohnen vor die Tür gestellt.
Wenig später fehlt eines Montagmorgens der Schulleiter
beim Fahnenappell.
"Seid bereit immer bereit!" grüßen die
Schüler, nur wenige tragen keine blauen Halstücher.
Dann geht das Gerücht um: "Der ist weggemacht!
Nach'm Westen!"
Es wird schick, keine blauen Halstücher mehr zu tragen.
Bald gibt es zwei Gruppen in der Dorfjugend die
eine, die weiter zum Konfirmandenunterricht geht, die
andere, die sich auf die Jugendweihe vorbereitet. Im
Winter tragen beide Gruppen heftige Schneeballschlachten
aus, der Widerborst wird schließlich in den
Schulunterricht getragen.
Künanz weigert sich eines Tages, ein Gedicht von
Heinrich Heine vorzutragen, das er "gottlos"
nennt. Es gibt Tränen und einen Kinderaufstand. Eine
Delegation rennt aus dem Schulgebäude, es soll
Beschwerde geführt werden beim Dorfpastor. Klausi ist
dabei Künanz ist sein Freund, und seit geraumer
Zeit gehört er auch zu den Konfirmanden.
Der Pastor macht nicht auf. Durchs Fenster informieren
ihn die aufgeregten Jungen und Mädchen über den "Gottesfrevel",
der Geistliche wird blaß und schließt das Fenster. Am nächsten
Sonntagmorgen ist die Kanzel leer am Nachmittag
weiß es jeder im Dorf: Der Pastor ist weggemacht.
Klausi beginnt zu träumen. Beim Weihnachtsfest im
Betrieb des Vaters hat er zwei Bücher geschenkt bekommen
mit Fotos von einer Afrika-Safari des Dresdener Zoo-Direktors:
Giraffen, Löwen, Elefanten und mit Bildern von
fremden Menschen, Massai in Kenia.
Die Reste von "TIMUR" bauen am Waldsee ein Floß,
Unterstände aus Reisig und Laub werden zu NegerHütten.
Klausi trifft Künanz im Busch.
"Dr. Livingstone I presume?" sehr
falsch ausgesprochen, Englisch steht nicht auf dem
Lehrplan der Karl-Liebknecht-Schule, dafür Russisch. Die
Klassenbesuche in den "Russenlagern" am
Dorfrand werden genutzt, um von den Soldaten "Machorka"
zu schnorren. Der wird beim Kriegsrat aus Vaters Ulmer
geraucht.
Eines Tages sind die wilden Tiere im Dorf, ein Löwe, ein
Elefant, ein Dromedar. Im Luna-Park wächst das
Viermastzelt des Zirkus MOCK, und Klausi schwänzt den
Unterricht. Mit einer vom Vater geklauten alten Hose
schmeichelt er sich bei den Stalljungen ein und darf die
Tiere füttern. Die Meldung über das tagelange Schwänzen
bei den Eltern durch den Klassenlehrer verhindert den
Aufbruch in die große, weite Welt. Der erfolgt zwei
Jahre später, als die Familie, dem Vater folgend,
wegmacht, nach Bremen.
Klausi kannte die Hafenstadt von alten Postkarten, lieber
wäre er nach Hamburg weggemacht, dem "Tor zur Welt".
Aber so lernte er in späteren Jahren von den
Bremern "Die Hamburger haben bloß das Tor im
Wappen, wir haben den Schlüssel dazu!" Es brauchte
seine Zeit, bis der große Klaus den Sinn begriff, in
Stein gehauen über dem Eingang des Bremer Schütting:
"Buten un binnen wagen un winnen!"
das Verständnis von Krämern mit einem Hang zum
finanziellen Risiko und der Erwartung, dabei schon einen
Reibach zu machen. Egal, wie weit entfernt von der
Heimat, egal auch, ob per Brieftaube oder Satellit.
Es war zehn Uhr morgens in Weimar als das Foto entstand:
Das Ehepaar Schmidt aus Zimbabwe im Schnee vor Goethe und
Schiller auf hohem Sockel, die Morgensonne kaum sichtbar
hinter einem Dunstschleier ich rieche diese
Wintermorgenluft von Weimar, Braunkohlenrauch aus den
Kaminen. Der vertraute Geruch der Kindheit.
Im kalten Wohnhaus Goethes steht an prominenter Stelle
eine Vitrine mit Handschriften des Dichters. Eine kundige
Hand hat ins Zentrum dieser Vitrine eine Botschaft des
Napoleon-Bewunderers und Italien-Reisenden gerückt, die
zu überprüfen ist:
"...Und wie wir auch in ferne Lande ziehn / da kommt
es her, da kehrt es wieder hin. / Wir wenden uns, wie
auch die Welt entzücke / der Enge zu, die uns allein
beglücke..."
Die Zeiten haben sich geändert, Herr Geheimrat!
"Der Kellner des Gasthofes 'Zum Elephanten' in
Weimar, Mager, ein gebildeter Mann, hatte an einem
sommerlichen Tage ziemlich tief im September des Jahres
1816 ein bewegendes, freudig verwirrendes Erlebnis."
So beginnt Thomas Mann seinen Roman "Lotte in Weimar".
Der Gasthof ist heute ein superteures Inter-Hotel, und
das Erlebnis zweier Reisender aus Zimbabwe im Winter 1986/87,
die zu später Stunde nach stressiger Fahrt über
spiegelglatte Autobahnen im "Elephanten"
eintreffen ist eher frustrierend: Obwohl das Keller-Restaurant
noch geöffnet und die Küchenbesatzung noch anwesend
ist, wird den Hungrigen ein Mahl verweigert. Der Kellner
versucht verlegen zu erklären, daß nach Auffassung des
Küchen-Kaders die Zubereitung einer warmen Mahlzeit das
Ende der Dienstzeit überschreiten würde: Es gibt
Bockwurst mit Senf und einigen Scheiben trockenen Brotes.
Danach schleppen die Reisenden ihre Koffer eigenhändig
vom Auto ins Hotel. Der Türsteher, gebeten, behilflich
zu sein, hatte korrekt festgestellt:
"Viel zu gald!"
Ach, lieber Thomas Mann:
"Die Damen standen noch, dem Hause abgekehrt, bei
dem Postwagen, die Niederholung ihres übrigens
bescheidenen Gepäcks zu überwachen, und Mager wartete
den Augenblick ab, wo sie, beruhigt über ihr Eigentum,
sich gegen den Eingang wandten, um ihnen sodann, ganz
Diplomat...auf dem Bürgersteig entgegenzukommen."
In der winterkalten Hotelhalle am nächsten Morgen kommt
Johann Wolfgang von Goethes Postulat ins Wanken. Die Enge
beglückt nicht mehr.
Der Freund, der uns abholt, hört sich die sentimentale
Schilderung von der Annäherung an die Heimat an, denkt
nach und sagt:
"Das ist der Charme, den wir zu bieten haben:
Stillstand! Unsere Dörfer, unsere Städte
Stillstand! Ihr kommt her und findet ein verwittertes
Museum, aber die Menschen, die darin leben müssen,
wollen raus!"
Später lernen wir s e i n e DDR-Nische kennen: Ein
umgebautes Bauernhaus mit Apfelbaum-Garten, Kamin innen
und außen, ein Swimmingpool, ein Maler-Atelier. Dorthin
zieht der Facharzt sich zurück, wenn er von der Arbeit
kommt. An diesem Nachmittag kommt seine Frau zum letzten
Mal von ihrer Arbeit heim, vom Lehramt an der Universität
sie ist suspendiert. Beide haben einen Antrag zur
Ausreise aus der DDR gestellt, wollen ganz von vorne
anfangen warum?
"Will ich mit meiner Forschung weiterkommen, brauche
ich internationale Kontakte mit Kollegen, auch bei
Fachkonferenzen im Westen. Ich darf nicht reisen
ich bin nicht in der Partei." Der Freund zeigt auf
die Wände voller Bilder. "Ich will nach Paris
fahren können, den Louvre sehen, nach Florenz ich
verkümmere hier. Mein Gott, ich will noch etwas sehen
von der Welt!"
Es ist schon Nacht als wir Richtung Magdeburg fahren. Der
Vollmond schiebt sich über den Horizont und beleuchtet
eine bizarre Schnee- und Eislandschaft, nur Kerzenlicht
hinter den Fenstern in den Dörfern Stromsperre in
weiten Teilen der DDR. In drei Jahrzehnten haben es die
sozialistischen Staatsplaner nicht vermocht, die Abhängigkeit
von dem einen Energieträger zu verringern.
Im Autoradio hören wir Berichte von der
Braunkohlenfront, Soldaten der Volksarmee sind im
Einsatz, um die gefrorene Kohle von den Halden auf
Eisenbahnwaggons zu laden.
Kurz vor Mitternacht treffen wir in Helmstedt ein, erste
Anlaufstelle für Bürger der DDR, die knapp drei
Jahrzehnte nach dem Aufbruch der Schmidts aus Bernsdorf
noch immer wegmachen.
Zwei Jahre später werden wir zusammen mit unserer
Tochter Verwandte besuchen, die aus der Bundesrepublik
wegmachten als Auswanderer nach Australien, auf
der Flucht vor politischer und militärischer
Unsicherheit in Mitteleuropa!
In der Sylvesternacht 1988/89 hören die Schmidts und
ihre Verwandten bei einer Live-Fernsehübertragung vor
dem Rathaus zu Brisbane als erstes Lied im neuen Jahr
John Lennons' "Imagine". In diesem Jahr 1989
verändert sich die Welt in Europa unvorstellbar. In der
Nacht vom 9. zum 10. November erlebt die Tochter in
Berlin die Öffnung der Mauer. Ihren Eltern schickt sie
in einem Brief nach Harare ein selbst herausgehauenes,
kleines Mauerstück. Am Anfang ihres Architekturstudiums
stand der Abbruch einer Mauer und die Lektion: Um
etwas neues zu bauen, müssen oft alte Mauern eingerissen
werden.
Als nach vier Jahrzehnten real existierendem Sozialismus,
auch die Menschen in der DDR plötzlich den aufrechten
Gang wiederentdeckten, vermochten die Staatsplaner in
meiner gegenwärtigen Wahlheimat Zimbabwe die
Konsequenzen der Grenzöffnung in Osteuropa für den
eigenen politischen Weg nicht zu erkennen. Trotzig halten
sie zu Beginn des neuen Jahrzehnts das rote Banner
aufrecht, unter dem sie im Kampf um schwarze Unabhängigkeit
angetreten waren. Sie begriffen nicht, daß ja dieses
Banner ebenfalls von Weißen genäht worden war, die
in Erkenntnis eines historischen Irrtums
nun jenes rote Tuch zerrissen, das sie einst mit den
unabhängig gewordenen Völkern in der sogenannten
Dritten Welt verband!
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