Nein, die Lok ist nicht kaputt ...
Ich brauche Zeit zum Nachdenken, hier in
meiner Halle ...
Was brachte mich dazu, die Viehwaggons
anzukoppeln?
Was brachte mich dazu, ihren Insassen das
Lautsprecher-System zu überlassen?
Was hatte mein Leben mit deren zu tun?
Damals, als unser Kriegsheld Felder und
Heime des Feindes anzünden liess ...
Damals, als unser Kriegsheld Kinder und
Frauen des Feindes in Lagern sterben
liess ...
Damals, als es ihm nicht bloss um Sieg,
sondern um Unterwerfung des Feindes ging
...
Damals gehörte ich zu denen, die davon
nichts wussten.
Es war mir eine Ehre, daß der Held am
Ende des Krieges mein altes schönes Haus
im Oval des Johannesburger Stadtteils
Jeppestown requiriert hatte.
Meine aus dem sicheren Durban
zurückgekehrte Familie zog weiter in ein
ebenso feines Haus in der Saratoga Avenue
im etwas besseren Stadtteil Doornfontein.
Ich eröffnete mein altes Anwaltsbüro in
den Primrose Buildings in der Fraser
Street, gleich gegenüber der Warenbörse
und in der Nähe zahlreicher Wettbüros
von Tattersalls ...
Von den Konzentrationslagern unseres
Kriegshelden glauben Sie mir doch
hatte ich damals keine Ahnung!
Wir sind da alle irgendwie ...
reingeraten ...
Halt! Ich sollte ab sofort präziser
formulieren ... Vielleicht schreibt noch
jemand mit?
1 1896 hatte ich
mein dreissigstes Lebensjahr erreicht und
ein nicht unerhebliches Ansehen unter den
Menschen, unter denen ich lebte. Ich
protokollierte nicht mehr Reden von
Politikern, ich war selber einer
geworden.
Als der jüngste Abgeordnete in dem von
mir gegründeten Gesundheitskomitee am
White Waters Ridge hatte ich geholfen,
Wasser in die Goldgräberstadt
Johannesburg zu bringen. Es reichte für
die Wasserpumpen in den Minen, aber nicht
für unsere Obst- und Gemüsegärten, und
schon gar nicht für den Anbau von
dringend benötigtem Futter für unsere
Zugtiere.
Alles, was Menschen und Minen in
Johannesburg brauchten, mussten Mulis und
Ochsen heranschleppen, alles, was
Menschen und Minen produzierten, mussten
Mulis und Ochsen wegschleppen. Und hin
und zurück brauchten sie Riesenmengen
von Futter, das immer weniger
erschwinglich wurde.
Als die Diamanten- und Goldvorkommen 1869
in Kimberley und 1886 in White Waters
Ridge Witwatersrand
nennen es die Buren also auf dem
Gebiet ihrer Republik entdeckt worden
waren, hatte es nicht lange gedauert, bis
die weissen Wasser in den
Schürfgruben versickerten.
Kaum ein Bure gab seine gottgefällige
Landarbeit auf, um selber zu schürfen,
hier und da wurde ein Stück Farmland an
einen spekulierenden Uitlander, einen
Fremden verkauft gewiss, aber bald
stellten Uitlanders schon zwei Drittel
der Bevölkerung in der Burenrepublik des
Präsidenten Paulus Ohm
Kruger, und in der Mehrheit waren wir
Uitlanders Briten. Denen wurde nur ungern
verkauft, was auf Buren-Feldern wuchs.
Als wir anfingen, Raketen in den Himmel
zu schiessen, um Regenwolken zu
melken, da sprang
Oompje Taaljaard im Volksraad
von seinem Sitz und schimpfte: Wie
lange soll es diesen gottlosen Menschen
in Johannesburg erlaubt bleiben, Tag und
Nacht ihre Finger in das Auge des
Allmächtigen zu stecken?
Wenn wir also die Technik beherrschten,
Raketen zum Regenmelken in
den Himmel zu schiessen, warum bauten wir
dann nicht eine Eisenbahn, um die
Vierzig-Meilen-Lücke von Johannesburg
bis zur Südgrenze von Transvaal zu
schliessen?
Weil Buren-Präsident Ohm
Paul uns die politische und rechtliche
Gleichstellung versagte, und weil sein
mächtiger britischer Kontrahent
der in zwanzig Jahren vom kränkelnden
Jungen zum Giganten gewachsene Cecil
Rhodes schon eine Eisenbahnline
vom Kap bis nach Transvaal bauen liess.
Unterdessen hatte Ohm Paul
seine eigenen wie er meinte
cleveren Eisenbahnpläne, für die er
eine niederländische Firma als
alleinigen Konzessionär unter Vertrag
nahm. Von Johannesburg bis Kapstadt waren
es 1.000 Meilen, bis Durban nur 482
Meilen und am kürzesten war es
bis zur Bucht von Delago in Portugiesisch
Ostafrika: 349 Meilen! Natürlich wäre
die kürzeste Route die billigste, dachte
Ohm Paul ... und Rhodes
könnte sich an der Transvaal-Grenze die
Haare raufen.
Was die beiden Männer vor allem
unterschied, war das Verständnis
internationaler
Geschäftsgepflogenheiten.
Der Bure hatte übersehen, daß er die
niederländische Firma mit einem Monopol
ausgestattet hatte, das es ihr erlauben
würde, sich in erster Linie selber zu
bedienen.
Ohm Paul musste erleben, daß
Rhodes Eisenbahnlinie vom Kap nach
Transvaal im September 1892
fertiggestellt war, mehr als zwei Jahre
vor seiner Linie von Johannesburg nach
Delago, die im Oktober 1894 eröffnet
wurde; der Einrichtung eines Anschlusses
an die Strecke nach Durban ein Jahr
darauf konnte er sich nicht mehr
entgegenstellen.
Schlimmer: Rhodes schaffte es, Frachten
auf der tausend Meilen langen Strecke
nach Kapstadt und zurück preiswerter
transportieren zu lassen als es den Buren
auf der viel kürzeren Strecke nach
Delago gelang.
Johannesburg, die Gold- und
Diamantenstadt inmitten von Transvaal,
war nun angeschlossen an das wachsende
südafrikanische Eisenbahnnetz und
damit an das durch Cecil Rhodes
geknüpfte Würgenetz um Ohm
Paul und dessen Burenrepublik.
Mit dem immensen Vermögen aus der von
ihm kontrollierten südafrikanischen
Diamantenproduktion hatte Rhodes seinen
politischen Einfluss begründet. Diesen
Einfluss und sein Vermögen
stellte er ganz in den Dienst der Idee
von einer britischen Vormachtstellung in
Afrika.
Ab 1881 war er Parlamentsabgeordneter in
der Kapkolonie, 1885 hatte er die
britische Besetzung von Betschuanaland
bewirkt, vier Jahre später den Erwerb
des späteren Rhodesien durch seine
British South Africa Company.
Sein eigentliches Ziel, die Einkreisung
und Übernahme der gold- und
diamantenträchtigen Burenrepublik
Transvaal, hatte Rhodes uns Uitlanders in
Johannesburg vom Kap aus schmackhaft
machen wollen. Dort war er seit 1890 als
Premierminister am Schalthebel der Macht.
Die Idee war, uns Uitlanders zu bewegen,
nach einem Aufstand gegen das Joch der
Buren die Intervention regulärer
britischer Truppen anzufordern. Aber die
standen zwei Tagesritte entfernt in
Betschuanaland, und von dort gab es noch
keine Eisenbahnverbindung. Also übernahm
die Sache Rhodes Freund und
Berater, Dr. Leander Starr Jameson, der
zuvor schon äusserst erfolgreich im
Geschäftsinteresse seines Freundes den
Matabele-König Lobengula aufs
Kreuz gelegt hatte.
Unter dem Vorwand, für den Bau einer
Eisenbahnlinie Land zu benötigen, hatte
Rhodes einen Streifen in Betschuanaland
gekauft. Das Kolonialsekretariat in
London gab seine Zustimmung, zur
Sicherheit der Eisenbahnbauer
eine Schutztruppe zu rekrutieren. Das
waren die achthundert Männer, die Dr.
Jameson drei Wochen lang drillte,
während das sogenannte
Reform-Komitee in
Johannesburg und Cecil Rhodes selber
kalte Füsse bekamen.
Weshalb?
Nun, fast jeder in Johannesburg wusste
inzwischen Bescheid, und natürlich bald
auch die Autoritäten am Regierungssitz
in Pretoria, und sogar nach London war
durchgesickert, was Dr. Jameson mit
seiner
Eisenbahner-Schutztruppe
tatsächlich vorhatte
Während einerseits per Bahn erst noch
Waffen und Munition, getarnt als
Minen-Gerätschaft, für die
Revolutionäre in Johannesburg anrollten,
packten andererseits schon viele Familien
ihre Habseligkeiten, um aus Johannesburg
zu verschwinden. An einem einzigen Tag
standen am kleinen Bahnhof von
Braamfontein mehr als fünftausend Leute
an, um Tickets zu kaufen in jener
Zeit sicherlich ein Rekord für eine
Warteschlange an irgendeinem Bahnhof der
Welt.
Als Dr. Jameson am Abend des 29. Dezember
1895 die an ihn übermittelte Weisung von
Rhodes, den Coup aufzugeben, ignorierte
und mit seinen achthundert Mann losritt
badeten meine Frau und unsere drei
Kinder im Meer vor Durban.
Am Neujahrstag kehrten wir heim. Am
Knotenpunkt Glencoe traf nachts unser Zug
auf jenen, der aus Johannesburg kam.
Beide Züge standen für eine Weile seit
an seit, die Fenster waren geöffnet, und
wir, die von der Küste kamen, hörten
erstmals von Freunden und Bekannten
Einzelheiten der Kämpfe.
Der Trupp des Dr. Jameson war in eine
Falle der Buren geraten, erzählten sie
uns. Am nächsten Tag würde er sich
ergeben.
Der nächste Tag aber blieb für mich und
meine Familie verbunden mit einem ganz
privaten Entsetzen über eine zivile
Katastrophe, der wir in jener Nacht
entronnen waren. Wir waren im richtigen
Zug gewesen. Er hatte uns sicher nach
Hause gebracht.
Der Gegenzug auf dem Weg zur Küste war
von der Brücke über den Glencoe in den
Fluss gestürzt, zweiunddreissig Menschen
starben, mehr als fünfzig wurden
verletzt.
Das ganze Jameson-Abenteuer vom 29.
Dezember bis zum 2. Januar hatte auf
seiner Seite achtzehn Menschenleben
gekostet, etwa vierzig wurden verwundet.
Auf der Buren-Seite starben vier, fünf
wurden verwundet.
Kann ich das aufrechnen?
Ich kann, denn als einer der wenigen
Augenzeugen weiss ich, daß die Welt vor
Schlimmerem bewahrt blieb für
eine kleine Weile wenigstens ...
Ich spreche von der Konfrontation der
beiden Weltmächte Grossbritannien und
Deutschland. Historiker verweisen dabei
meistens nur auf die Kruger-Depesche, auf
jenes Telegramm, das der deutsche Kaiser
Wilhelm dem Sieger in Transvaal schickte,
die Gratulation, die in London so sehr
für Ärger sorgte.
Der Plan zur Invasion musste sich schon
lange vorher sogar bis nach Deutschland
herumgesprochen haben.
Eine ganze Weile vor den
verhängnisvollen fünf Tagen hatte mein
Gesundheitskomitee die Einladung zu einer
Reise nach Lourenço Marques an der
Küste Portugiesisch Ostafrikas
angenommen. Der über Johannesburg hinaus
bekannte Finanzier Solly Joel, ein Freund
der Familie, sorgte für ein paar
angenehme Abende am Meer, die wir
hauptsächlich mit Pokern verbrachten.
Der eigentliche Anlass für die Einladung
war in den Tropennächten bald vergessen.
Doch in einer dieser Nächte fragte mich
Joel: Warum gehst du nicht
mal runter zum Kai und guckst dir
die Männer des Krieges an?
Ich fand das seltsam, aber ich ging. Und
wie auf einer See-Bühne erschloss sich
mir die Vorbereitung für einen
erstklassigen internationalen
Zwischenfall.
Vor Anker im Hafen lagen deutsche
Kriegsschiffe. Viel später erfuhr ich,
daß der Kaiser angeboten hatte, deutsche
Marinesoldaten nach Pretoria zu schicken,
falls dort Unterstützung gegen einen
britischen Angriff gewünscht würde.
Die Welt konnte sich glücklich
schätzen, daß der Aussenminister
Portugals, Marquis de Soveral, den
Deutschen ein Passieren portugiesischen
Überseeterritoriums strikt untersagt
hatte. Anderenfalls ... am Horizont hatte
ich die Silhouetten eines britischen
Flottenverbandes ausgemacht ...
Nach dem schnellen Ende des
Jameson-Abenteuers dampften die deutschen
und die britischen Schiffe in
unterschiedlichen Richtungen davon ...
Neunzehn Jahre später fuhren sie
gegeneinander in die Seeschlachten des
Ersten Weltkrieges.
An unserem Ende der Welt war ein erneuter
Krieg zwischen Buren und Briten nur für
wenige Jahre aufgeschoben.
Schon vor dem Jameson-Überfall hatte
Ohm Kruger die
wirtschaftlichen Schrauben gegenüber uns
Uitlanders angezogen. Die Bereitschaft,
sich an einem Umsturz zu beteiligen, war
unter anderem ausgelöst worden durch die
Vergabe einer Dynamit-Konzession an einen
mit Kruger befreundeten deutschen
Finanzier. Murrend zahlten Minen-Besitzer
dem Deutschen weit überteuerte Preise.
Unmittelbar nach dem Jameson-Überfall
gab es in der Stadt nicht genügend
Lagerungsmöglichkeiten für Bahnfracht.
So blieben an der Station Braamfontein
Güterwaggons abgestellt, deren brisante
Ladung tagelang heissem Sonnenschein
ausgesetzt war.
Am Nachmittag des 19. Februar 1896 flog
der ganze Zug in die Luft.
Eine Rangierlok hatte Wagen abkoppeln
wollen.
Die Erschütterung entzündete das darin
gestapelte Dynamit.
Fast hundert Tote wurden identifiziert,
die ums Leben gekommenen Eingeborenen
blieben ungezählt.
In weniger als vier Jahren würde der
zweite Buren-Krieg beginnen.
Am Ende dieses Krieges würde ich an den
Kriegsgewinner mein Haus verlieren ...
Der TAZARA-Express wird bald auf den
Spuren dieses Mannes fahren, der wie kaum
ein anderer die koloniale
Militärgeschichte des britischen Empire
geprägt hat und in Afrika einen
Eisenbahnbau erstmals zu reinen
Kriegszwecken voran trieb.
Deswegen bleiben die Viehwaggons
angekoppelt ...
Die Stimmen der Wissenden werden nicht
schweigen.
Es gilt das gesprochene Wort!
Klick!
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