Doch wenn sie nicht
aufgeschrieben werden, diese Geschichten,
wird niemand von ihnen erfahren, und
niemand wird aus ihnen lernen! ... Ich
kann das, ich kann sie aufschreiben
Wort für Wort ich brachte
dieses Wissen nach Afrika ...
Bis dahin konnte alles, was gesagt wurde,
nur weitererzählt werden, in immer neuen
Varianten zuerst von denen, die
dabei gewesen waren, dann von denen, die
davon gehört hatten immer
aufs Neue ausgeschmückt,
verkürzt, erweitert, je nach
Interessenlage oder Erinnerungsvermögen
...
Als ich Europa verliess 1882
funktionierte die Methode, eine
wörtliche Rede unmissverständlich für
alle Zeiten festzuhalten, ohne Strom und
ohne Maschine!
Ich brachte sie in meinem sechzehn Jahre
alten Kopf nach Afrika, zuerst über See
mit der Drummond Castle von
England, dann über Land mit der
Eisenbahn nach Natal.
Die Bahnlinie zwischen dem Hafen von
Durban und Natals Hauptstadt
Pietermaritzburg war damals die längste
auf dem Kontinent vierundfünfzig
Meilen!
1
Mit acht Jahren hatte ich meine Eltern
verloren. Das brachte meinen Grossvater
auf den Plan, der mich in eine Welt
einführte, die nach Druckerschwärze
roch und die Fleet Street hiess.
Grossvater schaffte es irgendwie, daß
mich die Gilde der Londoner
Zeitungsdrucker nach Brügge in Belgien
schickte, wo ich in einem Konvent nicht
nur Flämisch und Französisch lernte,
sondern mein Interesse geweckt wurde,
alles was ich sah und hörte, grafisch im
Kupferstich festzuhalten nicht als
Künstler, nein als Reporter!
Als ich vier Jahre später nach London
zurückkehrte, war dort gerade die
neueste Erfindung zum Festhalten des
gesprochenen Wortes das grosse Wunder
innerhalb der Geschäftswelt.
Die Schreibmaschine war noch nicht
eingeführt, in den Druckereien gab es
noch keine Setzmaschinen, ganz zu
schweigen vom Phonographen oder anderen
mechanischen oder elektrischen
Aufzeichnungsgeräten. Aus dem
Gedächtnis oder aus ein paar
aufgeschriebenen Stichworten mussten
Reporter zusammenfassen, was in den
handgesetzten Druck ging.
Ich lernte Pitmans Shorthand
und machte die Erfahrung, daß diese neue
Fertigkeit so begehrt war, daß mich
den blutjungen Protestanten
ein katholisches Wochenblatt als Reporter
einstellte, The Tablet. Und bald war ich
ausersehen für die ehrenvolle Aufgabe,
die Reden der Parlamentsabgeordneten
aufzuzeichnen was mich
schliesslich ans andere Ende der
Welt bringen sollte!
Von dort war der Ehrenwerte Mr. Harry
Escombe zu Gast in London. Eines Tages
stand er hinter mir als ich gerade aus
den Strichkürzeln einen Redetext
rekonstruierte.
Was, um Himmels willen, sollen
diese Kritzel, mein Junge? fragte
er.
Pitmans Kurzschrift-Symbole,
mein Herr, antwortete ich.
Ich übertrage eine Rede, die an
diesem Nachmittag im Parlament gehalten
wurde.
Du musst fix sein im
Zusammenfassen!
Oh nein, mein Herr. Ich fasse nicht
zusammen. Das macht später der
Redakteur. Ich notiere nur das, was der
Redner sagt, und später schreibe ich
alles säuberlich auf.
Aber doch nicht Wort für
Wort?
Doch, mein Herr, Wort für
Wort!
Bemerkenswert, murmelte der
Fremde, höchst bemerkenswert
...
Ein paar Tage später war er wieder da,
fragte mich aus, über meine Familie,
über das, was ich gelernt hatte, und
dann sagte er: Wie fändest du es,
mein Junge, wenn du für uns in Natal
arbeiten würdest?
Oh, mein Herr ... stotterte
ich, das würde ich sehr
gerne!
Gut! Es ist ein tolles Land für
einen Burschen wie dich. Ich bin sehr
beeindruckt von deiner Shorthand-Kunst.
Es ist ganz wichtig, eine wörtliche
Aufzeichnung von Regierungsverhandlungen
zu haben. Ich möchte, daß du nach
Südafrika kommst, um als Reporter im
Legislative Council von Natal zu
arbeiten. Ich gehöre diesem Rat an ...
Du musst dich nicht gleich entscheiden,
geh nach Hause, denk darüber nach!
Im Jahr 1882 war Durban noch im Wachsen
begriffen, verstreute Ansiedlungen zogen
sich von den grünen Berghängen hinunter
zum sandigen Küstensaum. Die
Hafenanlagen wurden erst angelegt. Die
Drummond Castle ankerte in
der Bucht, und wir Passagiere wurden in
einer Art Wäschekorb hinuntergelassen
auf das Deck einer Dampfbarkasse namens
Melrose.
Ich hatte kein Geld für eine
Übernachtung, es reichte gerade noch
für den Zug ans Ende der Welt, wie
ich sie bis dahin kannte.
Vom schmalen Küstenstreifen wand sich
der Schienenstrang bald in die Berge,
gelegentlich entlang von Nestern
bienenkorbählicher Grashütten, den
Behausungen der Zulu, die nach
verlustreichen Kämpfen ihr Heimatrecht
an die vom Kap kommenden weissen Voortrekker
verloren hatten. Am Fluss Umsindusi,
an einem Platz, den die Zulus Umgungundhlovu
Besieger des Elefanten
nannten, hatten die Trekker vor
fünfundvierzig Jahren jenes
Pietermaritzburg gegründet, in das ich
nun einzog, um auf Einladung eines ihrer
Mitglieder die Reden in der Ratgebenden
Versammlung Wort für Wort zu notieren.
Zu jener Zeit endeten mit der Eisenbahn
in Pietermaritzburg die Errungenschaften
der modernen Zivilisation, Reisende, die
weiter wollten in den Norden des
Kontinents, konnten dies nur per Kutsche,
mit dem Ochsenkarren, zu Pferde oder zu
Fuss.
Die Fahrt mit der Eisenbahn von Durban an
den Ort meines künftigen Wirkens am
Rande der Wildnis Afrikas war es, die
mich jener Grenze bewusst werden liess,
die Ehrgeiz überwinden kann, wenn er
sich des Erfindergeistes bedient.
Erst als es zu spät war, machte ich die
Erfahrung, daß grenzenloser
Erfindergeist grenzenlosen Ehrgeiz nach
sich zieht und daß alles Wachstum
Grenzen hat.
Ich schaue mich um, hier in dieser Halle
voller Staub und voller Rost, und ich
erinnere mich: Eisenbahn und Kurzschrift
waren die Schlüssel für meine
persönliche Entwicklung und für alle
Entwicklung, die ich half, der Wildnis
abzuringen.
Das Ergebnis von Denken und Handeln war
dabei bestimmt von dem, was Kopf und Hand
tatsächlich leisten können, von dem
also, was jedermann verstehen und
mit ein bisschen Übung selber
nachvollziehen konnte.
Wer wollte, konnte sich schlau machen aus
zuverlässiger Aufzeichnung des
gesprochenen Wortes und den kurzen
Beinen von Lügnern selber auf die
Schliche kommen.
Oder er konnte das Prinzip des
Dampfkessels in der Eisenbahn-Lokomotive
für den Antrieb eigener Räderwerke
erkunden für Traktoren im
Zuckerrohrfeld, für Pumpen im Bergbau,
für Mühlen oder für Schmieden
alles Maschinen, deren Funktion
begreifbar blieb im Wortsinne: mit
der Hand (und einem geeigneten Werkzeug)
war jedes Teil ersetzbar oder zu
verbessern.
Immer weniger Menschen kennen sich aus in
der Matrix stromgetriebener Maschinen.
Immer mehr Menschen sind gezwungen, sie
zu nutzen ohne sie zu begreifen.
Mit dem Strom kam nicht bloss die
Entmachtung des Rades, sondern auch die
Einschränkung der persönlichen
Freiheit, zu überprüfen und
nachzuvollziehen.
Die Spuren digitaler Chiffren auf
flickernden Bildschirmen führen in eine
Scheinwelt, manipuliert durch
spezialisierte Handlanger altersloser
Nutzniesser von Konflikten in der
wirklichen Welt.
Jetzt, da der Strom das Rad degradiert
hat zum stumpfen Lasten-Roboter, haben
Eisenbahnen bald ausgedient als Symbole
imperialen Strebens; Industriemagnaten
und Devisenspekulanten nehmen Besitz von
den digitalen Chiffren, die in der
Erscheinung des Internet bloss
vorgaukeln, sie dienten der Freiheit
individueller Kommunikation.
Oh, ich folge ihren Spuren, sie werden
mir nahekommen als meine nächtlichen
Gäste auf dieser rollenden Bühne. Ich
werde ihnen zuhören, und ich werde alles
notieren, mit diesem Bleistift hier,
während meine spezialisierten Handlanger
im globalen Archiv des strombetriebenen
Netzes mit erstaunlichen Erfolgen nach
Zitaten ihrer aufgeschriebenen Geschichte
suchen.
Doch ich traue diesen käuflichen Surfern
nicht. Ich traue nicht ihren Funden, die
mir vielleicht ein X für ein
U vormachen.
Wenn ich den Computer abschalte, spiegelt
der dunkle Monitor mein eigenes Gesicht,
alterslos ... dann beuge ich mich wieder
über meinen Schreibblock und notiere ...
Oh nein, mein Herr. Ich fasse
nicht zusammen. Das macht später der
Redakteur. Ich notiere nur das, was der
Redner sagt, und später schreibe ich
alles säuberlich auf.
1
Mit dem Zug von Durban war zwölf Jahre
vor mir, im September 1870, ein anderer
Junge in Pietermaritzburg angekommen, der
Sohn eines Pfarrers im englischen
Bishops Stortford. Zu der Zeit war
er siebzehn, nur ein Jahr älter als ich
bei meiner Ankunft.
Er war aus gesundheitlichen Gründen zu
seinem Bruder nach Südafrika geschickt
worden, schon als Kind hatte er unter
Tuberkulose gelitten. Doch Südafrika
schien seiner Gesundheit nicht
weiterzuhelfen, zwei Jahre nach seiner
Ankunft erlitt er einen leichten
Herzinfarkt.
Wäre der Junge damals, im Jahr 1872,
dieser Herzschwäche zum Opfer gefallen,
nicht bloss Afrikas Geschichte wäre
anders verlaufen, und der grosse
imperiale Traum von einer durchgehenden
Eisenbahnverbindung vom Kap bis nach
Kairo wäre nicht einmal im Ansatz
geträumt worden.
Doch der Junge war kein Träumer, der
Junge war Cecil John Rhodes ...
TEST TEST TEST!!!
Die Afrikaner
aus Faulheit und Müßiggang
herauszuholen und ihnen freundliche
Anreize zu geben, um hervorzukommen und
die Würde der Arbeit zu erkennen.
Ein Rhodes-Zitat vom flackernden
Bildschirm!
Die Internet-Verbindung steht!
Das Arrangement ist getroffen!
Regie und Helfer sind bereit!
Mein Bleistift ist gespitzt!
Der Zug ist abgefahren!
Es gilt das gesprochene Wort!
Klick!
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