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Mit diesem
für das Internet neu aufgelegten Text geht KJS
der Frage nach:
Weshalb ist es so schwierig, daß Menschen in
Nord und Süd sich verstehen?
Dies ist eine elektronische Version seines 1990
erschienenen und inzwischen vergriffenen Buches.
Die Lektüre erlaubt einen Werkstatt-Zugang zu
allen späteren Buch-, Internet- und CD-Projekten
von KJS vor allem gilt dies für den
Polit-Thriller TROMMELN IM
ELFENBEINTURM, dessen fiktive Handlung im Herbst 1989
angesiedelt ist. Dafür wird auch das
unverändert übernommene Zimbabwe-Dossier im
Anhang empfohlen. |
EIN ZUGVOGEL UND SEIN NACHWUCHS
"Wieso, weshalb, warum wer nicht fragt
bleibt dumm!"
Diese Sesam-Straßen-Weisheit für Vorschulkinder war
noch nicht weltweit verbreitete TV-Botschaft als der
kleine Klaus in die Schule des Lebens eingeführt wurde,
damals in Bernsdorf und später in Bremen.
Die Welt zumal in jener Zeit des Kalten Krieges
bestand aus guten und aus bösen Mächten. Zwei
der bösen Mächte waren farblich gekennzeichnet
rot und gelb. Vor "Rot" war die Familie gerade
davongemacht, jetzt las der heranwachsende Klaus von der
"Gelben Gefahr", hörte später die warnenden
Worte eines Bundeskanzlers: "Ich sage nur China,
China, China!"
Im Rückblick erschrickt mich die manipulative Kraft der
Medien, weil ich sie in diesem Zusammenhang im eigenen
Kopf zu spüren bekam mit einer fürchterlichen
Konsequenz: Ich g l a u b t e, was Politiker und
Publizisten prophezeihten, glaubte die Gefahr, die von
diesem unheimlichen, abgekapselten, fernöstlichen Reich
m e i n e r Welt drohen könnte, und ich verfolgte mit
heißem Herzen die Diskussion um präventive
Abwehrmaßnahmen eine Atombombe! Warum wirft
keiner eine Atombombe auf diese gelbe Gefahr, bevor sie u
n s vernichtet? Abstrus? Nicht doch noch Ende der
Sechziger Jahre veröffentlichte der Chefredakteur einer
westdeutschen Rundfunkanstalt und langjährige
Moskau-Korrespondent einen Artikel, dessen Überschrift
jene "Gelbe Gefahr" beschwor. Daß in seinem
China-Bild historische Wahrheiten auf dem Kopf standen,
wurde mir erst viel später bei eingehendem Studium von
Quellenmaterial und dessen bewußter Verkehrung auf dem
Weg durch westliche Medien deutlich.
Diese erste autodidaktische Beschäftigung mit einem
fremden Volk, ausgelöst durch Angst und Unsicherheit
später gegen den Strom der veröffentlichten
Meinung, hat mich für alle Zeiten verdorben für den
Markt schnell konsumierbarer Information, für einen
korrumpierbaren Medienapparat, dessen Intendanten,
Direktoren, Chefredakteure und Hauptabteilungsleiter ihre
Mäntel im Wind des Zeitgeistes flattern lassen, mit der
einzigen Sorge, dabei ihr Parteibuch nicht zu verlieren.
Heruntergekommen wirkt aus der Ferne der mächtigste
Informationsapparat der Bundesrepublik, das Deutsche
Fernsehen, in seinem unverfrorenen Bemühen,
einflußreiche journalistische Posten mit willfährigen
Bürokraten aus der Provinz zu besetzen und umgekehrt,
rare Journalisten, die draußen die Welt reflektiv und
mit großer Lernanstrengung zu begreifen suchten, in die
Provinz zu schicken.
Ich glaube, diese erste Auseinandersetzung mit einem Haß
gegen ein Volk, der mir ins Herz gepflanzt wurde, der
mühsame Lernprozeß, bei dem mir eine Frau half, die
unter diesem Volk ihre Heimat fand, waren der Beginn
meiner Lösung vom herkömmlichen Heimatbegriff. Zu Hause
fühle ich mich nun unter Menschen, die mir Zweifel
erlauben, die zum Austausch von Meinungen bereit sind,
die akzeptieren, daß Rot und Gelb, Schwarz und Weiß
Farben der Natur, nicht Kennzeichnung von Böse und Gut
sind. Zum Teufel mit der politischen Farbenlehre!
Ich abonnierte die PEKING RUNDSCHAU, und geriet zu jener
Zeit vermutlich das erste Mal in die Karteien des
Verfassungsschutzes.
Als ich viele Jahre später die deutsche Botschaft in der
philippinischen Hauptstadt Manila fernschriftlich um die
Vorbereitung offizieller Kontakte für einen Besuch bat,
reichte mir ein argloser Beamter bei meiner Ankunft den
Stapel der Telex-Korrespondenz. Darin fand ich eine Kopie
meines ersten Fernschreibens mit handschriftlicher
Bearbeitung: Ein Kringel um meinen Namen, ein Pfeil und
das Wort "Vorsicht" mit Ausrufezeichen.
Und den Namen jener Frau, die mir die Angst vor den
Chinesen nahm, fand ich zum ersten Mal in einem Buch, das
mit geheimdienstlicher Mithilfe unter dem Titel
"MAOS FILIALEN" Ende der Sechziger Jahre
deutschen Spießbürgern Adressen zum Scheibeneinwerfen
feilbot.
Monatelang lese ich mich durch das hölzerne Deutsch der
wöchentlich auf Luftpostpapier gedruckten Pekinger
Selbstdarstellung. Zettelkästen füllen sich mit Zitaten
und Quellenhinweisen.
Erste Widersprüche werden mir klar, als ich die
Originale von Erklärungen, Stellungnahmen,
Einschätzungen mit den Interpretationen der mir
zugänglichen westlichen Presseartikel und Kommentare
vergleiche.
Dann lasse ich mir aus Peking die ersten deutschen
Übersetzungen der Werke Mao Tse-tungs schicken. Das
Deutsch ist nicht mehr hölzern, die Gedankengänge
faszinieren mich in ihrer Klarheit:
"Willst du Kenntnisse erwerben, mußt du an der
die Wirklichkeit verändernden Praxis teilnehmen. Willst
du den Geschmack einer Birne kennenlernen, mußt du sie
verändern, das heißt sie in deinem Mund zerkauen.
Willst du die Eigenschaft des Atoms kennenlernen, mußt
du physikalische und chemische Versuche durchführen, um
den Zustand des Atoms zu verändern. Willst du die
Methoden der Revolution kennenlernen, mußt du an der
Revolution teilnehmen."
("ÜBER DIE PRAXIS", Vier philosophische
Monographien, Mao Tse-tung, 1968 Peking, S. 9)
"Durch die Praxis die Wahrheit entdecken und in
der Praxis die Wahrheit bestätigen und weiterentwickeln;
von der sinnlichen Erkenntnis ausgehen und diese aktiv
zur rationalen Erkenntnis fortentwickeln, sodann wieder,
ausgehend von der rationalen Erkenntnis, aktiv die
revolutionäre Praxis anleiten, die subjektive und die
objektive Welt umzugestalten; Praxis, Erkenntnis, wieder
Praxis und wieder Erkenntnis diese zyklische Form
wiederholt sich endlos, und der Inhalt von Praxis und
Erkenntnis wird bei jedem einzelnen Zyklus auf eine
höhere Stufe gehoben. Das ist die ganze
Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus, das
ist die dialektisch-materialistische Theorie der Einheit
von Wissen und Handeln." (ebenda, S. 22/23)
"Glasnost" "Perestroika" waren
noch Fremdworte im Vokabular der erstarrenden Russischen
Revolution als Mao Tse-tung im August 1937 (!) schrieb:
"Ständig kommt es innerhalb der Partei zur
Gegenüberstellung und zum Kampf verschiedener Ansichten,
und das ist eine Widerspiegelung der in der Gesellschaft
vorhandenen Widersprüche zwischen den Klassen, zwischen
dem Alten und dem Neuen in der Partei. Gäbe es in der
Partei keine Widersprüche und keinen ideologischen Kampf
zur Lösung dieser Widersprüche, dann würde das Leben
der Partei aufhören." ("ÜBER DEN
WIDERSPRUCH", Vier philosphische Monographien, Mao
Tse-tung, 1968, Peking, S. 37)
Hat Gorbatschow Mao Tse-tung wiederentdeckt?
Zaghaft beginne ich, meine neuen Informationen zu ordnen,
sie in eigenen Gedanken zusammenzufassen, in Arbeiten
über die Erfahrungs- und Vorstellungswelt Maos wie sie
sich im Verständnis chinesischer Außen- und Weltpolitik
niederschlägt, auch in der drastischen Umorganisierung
der Gesellschaft. Zu meiner Überraschung werden viele
meiner Manuskripte zur Sendung akzeptiert, was im
Nachhinein betrachtet wohl auch der Tatsache zu
verdanken war, daß die 68-ger Generation sich gerade
anschickte, ihren Marsch durch die Funkhäuser
anzutreten.
Nach einer dieser Sendungen, ausgestrahlt über den
Kurzwellendienst der Deutschen Welle, bekomme ich eines
Tages Post aus Peking, eine Hörerzuschrift. Es ist eine
kritische Auseinandersetzung mit meinem Thema, der
schleppenden Modernisierung im chinesischen
Industriebereich.
Lisa Niebank ist damit in mein junges journalistisches
Leben getreten, sie war die Absenderin.
Ich treffe sie, Monate später, während ihres
Heimaturlaubs im elften Stock eines Hochhauses in
Hamburg, in dem sie ein winziges Appartement gemietet hat
ihre kleine Freiheit, jederzeit zurückkehren zu
können aus der Wahlheimat China.
Ich lerne eine ungewöhnliche Frau kennen, die absolut
nicht in das Bild der Mao-Jünger paßt, die in jenen
Jahren unter roten Fahnen durch Europas Straßen
marschieren und schwer lesbare Pamphlete verteilen.
In ihrer Wohnung kommt es zu einer vorsichtigen
Annäherung zwischen zwei Generationen und einer
verblüffenden Erfahrung: Der junge Mann wirft alte
Gedanken über Bord, die alte Frau hat neue Gedanken bei
einem fremden Volk e r l e b t, in hellen und in dunklen
Zeiten. Und sie hat, im Alleingang und ohne Aufsehen,
ihrer Wahlheimat Expertendienst geleistet, bevor die
offizielle Bonner Entwicklungshilfe die "gelben
Teufel" als Partner im Welthandel den USA auf
dem Fuße folgend an die Brust zog. Nicht Caritas
war Lisa Niebanks Ziel, sie hat sich nie an den
Diskussionen über Entwicklungshilfegroschen aus den
Ländern der Reichen für die Völker der Armen
beteiligt. Westliche Entwicklungshilfe erkannte sie früh
als Instrument der Aufrechterhaltung von Abhängigkeit in
einer Weltordnung, in der elektronisch vernetzte,
multinationale Konzerne die Rolle der alten
Handelshäuser in der kolonialisierten Welt mit eben
demselben mächtigen Einfluß auf politische und
militärische Entscheidungen übernommen haben.
"Wenn wir etwas wahrgenommen haben, können wir
es nicht sofort begreifen; erst wenn wir begriffen haben,
können wir es tiefer wahrnehmen. Die sinnliche
Wahrnehmung löst nur das Problem der äußeren
Erscheinung; das Problem des inneren Wesens wird erst
durch die Theorie gelöst. Die Lösung dieser Probleme
kann keinesfalls von der Praxis getrennt werden. Kein
Mensch kann ein Ding erkennen, wenn er nicht mit ihm in
Berührung kommt, das heißt, wenn sein eigenes Leben
(seine Praxis) nicht in dem Milieu dieses Dinges
verläuft."
("ÜBER DIE PRAXIS"; Vier philosophische
Monographien, Mao Tse-tung, 1968 Peking, S. 7/8)
Das ist ein Gedanke Mao Tse-tungs, ausgedrückt in der
Sprache Lisa Niebanks. Sie war im Übersetzerkollektiv
des Fremdsprachen-Instituts in Peking verantwortlich für
die deutsche Version der "AUSGEWÄHLTEN WERKE"
Maos. Und dies w a r die Praxis ihres Lebens: "Kein
Mensch kann ein Ding erkennen, wenn er nicht mit ihm in
Berührung kommt...wenn sein eigenes Leben nicht in dem
Milieu dieses Dinges verläuft."
Das "Ding" wurde ihre Heimat: China.
Lisa Niebank war einer der wenigen Menschen, die ich
kennengelernt habe, der einsam und konsequent lernte u n
d seiner überprüften Wahrnehmumg folgend
einem fremden Volk diente, ihm half, sich der Welt zu
öffnen. Durch ihre knapp zehnjährige Arbeit in der
deutschsprachigen Abteilung des Fremdsprachen-Instituts
Nummer Eins in Peking ist bis heute unerkannt
eine Basis gelegt worden für die erst seit
wenigen Jahren florierende deutsch-chinesische
Zusammenarbeit in Handel, Wissenschaft und Kultur.
Am formalen Anfang dieser Kooperation stand ein von Lisa
Niebank geprägtes Detail, eine unbeachtet gebliebene,
aber ihrer Überzeugung entsprechende Geste der
Völkerverständigung: Als Walter Scheel als erster
Bundespräsident seine Reise nach China vorbereitete, bat
mich Lisa Niebank aus Peking zum ersten Mal
um materielle Hilfe. Die erste Bitte reichte ich an das
Präsidialamt weiter deutsche Sprachlehrbücher
(mit Dank für den Hinweis aus dem Scheel-Stab), die
zweite konnte ich selber erfüllen Gesangsnoten
für das deutsche Volkslied "Hoch auf dem gelben
Wagen"; ein chinesischer Kinderchor hat es dem
Walter Scheel bei dessen Ankunft gesungen.
Gedanken- und Kulturaustausch, das war Lisa Niebanks
Erkenntnis im Leben unter einem fremden Volk, ist
Voraussetzung für gegenseitiges Verstehen. Sie hat
dafür den Bann in ihrer alten Heimat in Kauf genommen,
der sie von zwei Seiten traf sie verlor ihren
Beamtenstatus als Hamburger Lehrerin, und sie gewann nie
das Verständnis der dogmatischen Maoisten, die von
Hamburg aus ihre ideologischen Fraktionskämpfe bis zur
späteren Selbstaufgabe führten.
Dabei war der Grundstein für ihre Weltoffenheit in einem
privaten Hamburger Institut gelegt worden, das schon vor
dem Zweiten Weltkrieg mit unorthodoxen sozialistischen
Verhaltensformen experimentierte. Der Rest der
Niebank-Familie ordnete sich nach dem Weltkrieg in die
politische und wirtschaftliche Restauration der
Bundesrepublik Deutschland ein mit Mode-Boutiquen.
Lisa dagegen verbrachte ihre Lehrerferien in der
Gesellschaft von Menschen, die über die Grenzen des
Kalten Krieges Begegnungen suchten und früh das
Blockdenken zu überwinden suchten. Als Mitglied des
"Weltfriedensrates", von Geheimdiensten
argwöhnisch beobachtetes internationales Gesprächsforum
und in westlichen Medien gewöhnlich als
"Moskau-orientiert" bezeichnet, reiste sie auf
eigene Kosten zu Konferenzen und "fact finding
missions" über die Kontinente. Bei einer solchen
Veranstaltung in Tokio kam es zu einem schicksalhaften
Zwischenfall.
Es war Mitte der Sechziger Jahre. Das Bündnis mit der
Sowjetunion, die China zwischen 1950 und 1960 beim Aufbau
des Landes unterstützt hatte, war zerbrochen. Im
sogenannten "Kampf zweier Linien" setzte Mao
Tse-tung noch einmal seine Idee von der
Volksmobilisierung durch, die "Große Proletarische
Kulturrevolution" hatte begonnen. Der ideologische
Streit zwischen Moskau und Peking wurde erstmals auf
einer internationalen Konferenz ausgetragen. Lisa Niebank
hörte dem chinesischen Vertreter interessiert zu, seine
Argumente beschäftigten sie noch, als alle Delegierten
der Moskautreuen Parteien geschlossen den Saal
verließen. Sie saß plötzlich allein auf ihrem Rang.
Das blieb nicht unbemerkt. Die chinesische Delegation
meinte, sich bei ihr bedanken zu müssen. Im Gespräch
erfuhren die Chinesen auch, daß Lisa Niebank Deutsch
unterrichtete.
"Sie brauchten dringend Deutsch-Lehrer,"
erinnerte sie sich 1971 bei unserer ersten Begegnung in
ihrer kleinen Hamburger Wohnung, "und sie luden mich
ein, nach Peking zu kommen. Nach Peking! Als Hamburger
Beamtin! Ich flog und fand, daß ich gebraucht
wurde."
Die Hamburger Schulbehörde fand das nicht. Lisa Niebank
nahm zunächst unbezahlten Urlaub und das Risiko in Kauf,
daß ihr später die Rente verloren gehen könnte.
Andererseits machte sie ihren neuen Arbeitgebern von
vorneherein klar, daß sie sich jederzeit die
Möglichkeit offenhielt, nach Deutschland zurückzukehren
in ihr bescheidenes Hamburger Appartement.
Das verwandelte sich mit den Jahren in eine umfangreiche
Bibliothek des Wissens über China mit ihr im
Mittelpunkt, wenn ich in den wenigen Wochen ihrer
Heimataufenthalte, oft vom frühen Morgen bis zum späten
Abend, in spannenden Diskussionen Details aus ihrem
Alltag hinter dem damals sonst völlig undurchlässigen
"Bambusvorhang" erfuhr. Diese Erlebnisse wurden
von ihr mit einer erstaunlich wachen
Wahrnehmungsfähigkeit reflektiert und mit solidarischer
Distanz an der Theorie gemessen.
Es war die Zeit erwachenden Interesses in Zirkeln von
sogenannten "Old-China-Hands", Vertretern alter
Handelshäuser, Spähern moderner Konzerne, Sinologen
aller Schattierungen und Politikern an den Außenrändern
der Bonner Parteien, die sich zusammenzufinden begannen,
um die Perspektiven zu erörtern. Das Hamburger
"Haus Rissen", einst mit übriggebliebenen
CDU-Wahlkampfgeldern gegründet, war ab 1969 Forum
solcher nichtöffentlichen Debatten, zu denen später
auch Lisa Niebank Einladungen erhielt, die sie jedoch
voller Mißtrauen ablehnte, während ich voller
journalistischer Neugier kein Treffen dieser
"Old-China-Hands" ausließ.
Durchaus unterschiedliche Interessen brachte sie in jenen
Jahren zusammen: Nostalgie, Marktwitterung und die
"chinesische Karte", die Gegner der Annäherung
Bonns an Moskau spielen wollten. Alle drei Motive waren
Lisa Niebank suspekt, ganz besonders aber jene Sinologen,
die ihre Ideologie-Forschung in den Dienst politischen
und wirtschaftlichen Spekulierens stellten.
Abnehmer meiner allerersten analytischen Versuche waren
zwei Publikationen am Rande des linken Spektrums, die
Hamburger NEUE POLITIK und die Düsseldorfer DEUTSCHE
VOLKSZEITUNG, die erste herausgegeben von dem alten
China-Kenner Wolf Schenke, die zweite ein Organ der
Deutschen Friedensunion, das sich in der Tradition des
Reichskanzlers Joseph Wirth fühlte. Der hatte 1922 den
Rapallo-Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der
Sowjetunion abgeschlossen und war in den Fünfziger
Jahren gegen eine politische und miltärische
Westintegration der BRD zugunsten einer Verständigung
mit der UdSSR eingetreten. Beiden Organen war meine
unorthodoxe Sehweise der Vorgänge in der sogenannten
Dritten Welt recht, solange sie nicht mit eigenen Dogmen
kollidierte. Bei der DEUTSCHEN VOLKSZEITUNG war die
Grenze in dem Moment erreicht, als sich meine damaligen
Einsichten in Maos Widerspruchstheorien zu Ungunsten der
Moskauer Zentralismuspraxis verschärften. Im Falle Wolf
Schenke war die Trennung schmerzhafter, es wurde meine
erste Erfahrung mit journalistischer Unaufrichtigkeit.
Schenke hatte ein Buch neu aufgelegt, das seine
Erlebnisse als junger Berichterstatter im China des
Umbruchs festhielt. Er gab es mir zur Rezension
aber er verschwieg, was ich Monate später in der Bremer
Staatsbibliothek in der zerfledderten Ausgabe seines
Original-China-Buches las. Wolf Schenke war während des
Dritten Reichs als Korrespondent des VÖLKISCHEN
BEOBACHTERS nicht bloß ein Verehrer Chiang Kais-heks
gewesen, des Gegenspielers von Mao Tse-tung, er hatte in
seinen Schilderungen auch die Nazi-Terminologie vom
"Untermenschen" verwendet. In der neuen Auflage
hatte Schenke schlicht alle entsprechenden Passagen
weggelassen, inclusive eines Fotos Chiangs mit
handschriftlicher Widmung. Nun hätte mir egal sein
können, welche Seite der junge China-Reporter damals
favorisierte, hätte Schenke nicht den Versuch
unternommen, seine eigene Vergangenheit zu fälschen
mit mir als arglosem Rezensenten. Ich begriff
lange vor dem Fall Werner Höfer daß die
Auseindersetzung mit eigenen Fehleinschätzungen, die
nachträgliche Reflektion von Urteilen daß
Selbstkritik allgemein nicht zu den stärksten
Eigenschaften von Journalisten gehört. Das schrieb ich
Wolf Schenke, er hat mir nie geantwortet.
Ich denke, es war Lisa Niebank, die im Umgang mit
dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort mich
diese Essenz journalistischer Existenzberechtigung
lehrte, Reflektion des eigenen Handelns, innehalten und
evaluieren wie ein Architekt: Stimmt mein Fundament noch?
Dies geschah 1971, dem Jahr unserer ersten Begegnungen in
ihrer kleinen Wohnung hoch über Hamburg. Manchmal saßen
wir wie im Wolkenkukucksheim, eingehüllt in Nebel, der
uns die Sicht auf die Hansestadt unter uns versperrte,
oft aber ging die Sonne, in roten Dunst gehüllt, hinter
dem fernen Hafen unter, glühend wie meine Sehnsucht,
endlich selber aus den Büchern, Seminaren, Manuskripten
in den Schoß fremder Völker zu tauchen.
Radio Peking, das ich fast jeden Abend mit einem guten
Kurzwellenempfänger hörte, hatte doch eine
deutschsprachige Abteilung!??
Lisa Niebank war weise genug, meinen Wunsch nicht zu
unterstützen. Sie berichtete von jungen deutschen
Maoisten, gescheiterten Pilgerern in einer Welt, in der
Meinungsterror und Richtungskämpfe zunehmend Opfer
forderten. Sie sprach von Freunden, die durch
Jugendbrigaden aus den Wohnungen geholt und nach
demütigenden Prozeduren zur Landarbeit gezwungen wurden,
darunter auch Ausländer, die, wie sie, zum Helfen nach
China gekommen waren.
Es war für mich eine Zeit der Desillusionierung.
"Warum gehen Sie zurück in dieses Land?"
"Ich werde gebraucht. Sehen Sie, die Zeit
Maos geht zu Ende. Was wir gerade in China erleben, ist
die Perversion seiner Ideen. Unter Berufung auf sein Wort
herrscht Menschenverachtung, herrscht Chaos. Es ist nicht
mehr die von Mao geforderte Überprüfung von Erreichtem
in immer neuen Zyklen der Weiterentwicklung, es ist keine
Mobilisierung des Volkes. Das Volk ist in die Hände von
Erbschleichern gefallen, die von Mao einen Kadaver übrig
lassen werden. Aber das chinesische Volk ist überhaupt
nicht vorbereitet auf eine Öffnung für die Welt, für
einen Austausch von Gedanken und Kultur. Ich habe da bei
chinesischen Freunden eine kleine Nische, die will ich
nicht freiwillig aufgeben."
Mitte der Sechziger Jahre veröffentlichte der britische
Journalist Felix Greene eine vernichtende Analyse
westlicher Berichterstattung über die chinesische
Revolution. Die deutsche Ausgabe erschien in einem
Einband, der als Farbwiedergabe den Backsteingiebel eines
dörflichen Gebäudes mit chinesischen Parolen zeigte,
links und rechts das Porträt Mao Tse-tungs. Das Foto
erinnerte mich an irgendetwas, in meinem Archiv wurde ich
fündig ein in Peking gedruckter Farbband über
die seinerzeit ausländischen Besuchern gerne
vorgeführte Muster-Kommune von Dadschai zeigte exakt das
gleiche Motiv: Derselbe Backsteinbau, die Parolen, rote
Fahnen nur links und rechts fehlten die
Mao-Bilder. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich nun
schwache Konturen Mao war vor dem Druck des in
mehreren Sprachen erschienenen Propagandawerkes
wegretuschiert worden. Wer hatte da noch mitten in
der "Kulturrevolution" für die Welt ein
Signal gesetzt? Ich zeigte Lisa Niebank meinen Fund, und
sie machte mich auf weitere Merkmale des untergründigen
Machtkampfes aufmerksam, die nur Kennern chinesischer
Denkweise auffallen konnten: Das Titelblatt von
"CHINA IM BILD" mit einem ungewöhnlichen Foto
Lin Piaos, des Herausgebers jener zusammenhanglosen
Mao-Sprüche in der weltweit verbreiteten roten Fibel
porträtiert als Glatzkopf, eine nach
traditionellem chinesischem Verständnis herabwürdigende
Darstellung.
Wenige Monate später, im September 1971, stürzte Lin
Piaos Militärmaschine auf dem Flug in die Sowjetunion
ab; er soll sich nach dem mißglückten Versuch
eines Staatsstreichs auf der Flucht befunden
haben. Fünf Monate später, im Februar 1972, landete auf
dem Pekinger Flughafen der Präsident der Vereinigten
Staaten von Amerika, Richard Nixon...
Fälschungen, Intrigen, Täuschung, Geheimdiplomatie
Egon Erwin Kisch erhielt als junger Volontär bei
der BOHEMIA in Prag einen journalistischen Rat seines
Chefredakteurs: "Merken Sie sich, Herr Kisch, die
Dinge sind nie so, wie sie sich der kleine Fritz
vorstellt!"
Schon wenig später erkannte Kisch, daß die Dinge in der
Regel genauso sind, wie der kleine Fritz sie sich
vorstellt und begann seine Erfolgslaufbahn als
Reporter im Milieu der kleinen Leute, wo er die Spuren
der großen Weltereignisse aufnahm.
Meine Spurensuche konzentrierte sich zunächst auf die
Sprachmuster von Informationsvermittlung während einer
Zeit von Unruhe und Umbruch überall auf der Welt:
Kulturrevolution in China, Studentenrevolten in Europa
und Nordamerika, Frühling und Frost in der
Tschechoslowakei, Zuspitzung des Befreiungskampfes in
Vietnam. In der Zeit zwischen 1965 und 1975 veränderten
sich Fühlen und Denken der Menschen derart rasant, daß
im Rückblick oft gemeint wird, das enger und
elektronisch schneller gewordene Medien-Netzwerk habe
diesen qualitativen Sprung bewirkt. Ich habe da meine
Zweifel!
Sie begannen in der kleinen Wohnung von Lisa Niebank in
der Auseinandersetzung mit einer Frau, die gegen den
Strom der veröffentlichten Meinung ihren eigenen Weg zu
Menschen in einer fremden Kultur fand, unter ihnen lebte
wie ein Zugvogel mit seiner Heimat in zwei Welten,
zwischen denen er pendelt, um zu brüten und zu
überwintern. Ornithologen haben herausgefunden, daß
Zugvögel Kommunikationsträger von Informationen aus der
jeweils anderen Heimat sind. Aus Afrika heimkehrende
Vögel imitieren in Europa Verhalten und Gesang von
afrikanischen Vogelkolonien, unter denen sie
überwinterten, afrikanische Nachbarn übernehmen
Eigenarten der europäischen Sommergäste.
Bei Lisa Niebank lernte ich unter anderem den Umgang mit
chinesischen Eßstäbchen und die Bedeutung einiger
Schlüsselcharaktere der chinesischen Schrift, deren
früheste Zeugnisse bis in die Mitte des zweiten
Jahrtausends v.Chr. zurückreicht und die noch heute
verstanden werden können, weil die Zeichen einzelne
Begriffe symbolisieren und von der Aussprache unabhängig
sind. So läßt diese faszinierende Erfindung
Kommunikation über Zeit und Raum zu, eine in Peking
gedruckte Zeitung kann auch von Menschen in Schanghai
gelesen werden, die die Pekinger Sprache nicht verstehen.
Mißverständnisse bleiben in der modernen Zeit
allerdings nicht aus:
Beim ersten Besuch des chinesischen Energieministers in
der Bundesrepublik, der ihn auch nach Norddeutschland
führte, wollte eine Bremer Umweltschutzgruppe gegen
Pläne einer deutsch-chinesischen Zusammenarbeit in der
Atomindustrie demonstrieren, ein Protestplakat mußte
her: "NIEDER MIT DER KERN-SPALTUNG!" und
das auf chinesisch. Der Koch eines China-Restaurants
zückte seinen Schreibpinsel, der Erfolg war verblüffend
Beifall des Ministers, als ihm die Demonstranten
auf dem Bremer Marktplatz das Plakat vor die Nase
hielten. Der überraschende Erfolg wurde im nächsten
chinesischen Restaurant gefeiert, wo das Plakat nun aber
bei der sprachkundigen Bedienung eine ganz andere
Reaktion auslöste die Serviererin kicherte
verschämt hinter vorgehaltener Hand. Mißtrauisch
geworden baten die Protestler jetzt um Aufklärung, die
bekamen sie endlich: Der Koch hatte wohl mit dem Begriff
"Kernspaltung" nichts anfangen können und
wahrscheinlich den gesamten atomaren Zusammenhang nicht
verstanden. Um dennoch hilfreich zu sein, identifizierte
er ein anderes "Kern"-Problem chinesischer
Entwicklung und fand dafür ein geläufiges Symbol: Die
reife weibliche Eizelle. Die Bremer Umweltschützer
hatten mit dem seltsamen Slogan "NIEDER MIT DEM
EISPRUNG" neue Maßstäbe beim Kampf um verbesserte
chinesische Geburtenkontrolle gesetzt.
Lisa Niebanks letzte Briefe aus Peking sind von ihrer
großen Sorge geprägt, welche Rolle die Volksrepublik
China nach Abkehr vom originalen, analytischen Denken Mao
Tse-tungs in ihrer neuen Partnerschaft mit den USA
spielen werde, in der sogenannten Dritten Welt und vor
allem bei der Bewältigung des Indochina-Krieges.
Als zu Weihnachten 1972, nach Abbruch der Pariser
Indochina-Verhandlungen, amerikanische Bomber in Hanoi
ein Arbeiterviertel und ein Krankenhaus in Schutt und
Asche legten, schickte sie mir den Augenzeugenbericht
einer chinesischen Freundin, die mit ihrem Kader in der
nordvietnamesischen Hauptstadt arbeitete. Noch existierte
in Praxis die chinesisch-vietnamesische Solidarität
während zurselben Zeit ein bis heute nur zu
vermutender, geheimer Pakt zwischen Peking und Washington
zu wirken begann, der die Machtkontrolle nach einem Abzug
der Amerikaner aus Indochina regeln sollte.
Spätere Briefe Lisa Niebanks erreichten mich mit großer
Verspätung, der Kontakt wurde sporadischer, sie
konzentrierte sich auf ihre Aufgaben am Pekinger
Fremdspracheninstitut ich war mittlerweile unterwegs in
Indochina, Mittelamerika, Südostasien, Nordafrika, und
ich schaffte es nicht mehr, sie in ihrer Wahlheimat zu
besuchen. Bei Rückkehr aus den Flüchtlingslagern der
Sahrauis in der algerischen Wüste im Frühjahr 1980
sagte es mir auf dem Weg vom Flughafen meine kleine
Tochter: "Lisa Niebank ist tot!"
Sie wurde in Peking Opfer einer Meningitis-Epidemie.
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