Erbaut im Kriegsjahr 1940
von Edmund Horst u. Frau Anna geb. Binder

 

Das Haus
an der Brücke

 
Die Schrift ist in den Gründerbalken geschnitzt, der irgendeinmal Nachbesitzern, vermutlich bei Ausbauarbeiten, als Träger beim Einsetzen eines Kellertürchens im feldsteinumfassten Innenhof diente.

"Im Kriegsjahr 1940" - erst vier Jahre später wurde ich geboren, immer noch im Krieg. Dreiundvierzig Jahre später führt uns eine Maklerin in`s winterliche Dolldorf. Wir wollen weg aus Bremen, weg aus der Tretmühle, die mich schon zu viele Jahre auf journalistischen Reisen in die Südwelt fernhielt von zu Hause, nur gelegentlich unterwegs mit der Familie, häufiger ohne Elsa und ohne die heranwachsende Conny. Wohnen auf dem Lande, ein bisschen Gartenarbeit, ein Buch schreiben über "Leben im Reisfeld", Reporter-Erfahrungen in Vietnam, Laos, Kambodscha - während des Krieges und danach...

Das Haus Dolldorf 27 steht zum Verkauf. So einsam, überpudert mit Watte aus Schnee, wir sind hingerissen und entscheiden uns innerhalb von vierundzwanzig Stunden, ohne langes Feilschen. Der spontane Entschluss verschuldet uns für die nächsten 25 Jahre, aber ich bleibe standhaft, wenn uns später in Afrika immer `mal wieder der Rat erreicht, angesichts nicht endend wollender Hiobsbotschaften von Mieter-Katastrophen das Objekt zu verkaufen. Als die grosse Reise nach Afrika noch gar nicht auf der Agenda stand, hatte schon ein Freund im Sender prophezeiht: Das hältst du nicht ein Jahr aus. Das wollen wir `mal sehen!
  Und ich mache im Sommer1983 zum ersten Mal die Bekanntschaft mit Bauer Möhring.
Der ist mit seiner Kartoffel-Lege-Maschine einmal um`s Riesenfeld herumgefahren, da habe ich `mal grade eine vielleicht 15 Meter lange Reihe mit dem Spaten umgegraben, mit den Händen frischen Pferdemist und Saatkartoffeln eingelegt. Jedesmal, wenn er oben vorbei fährt, winkt er freundlich vom Traktor. Dann kommen ein paar ungewöhnlich heisse Sommermonate. Mein Mist hält die Feuchtigkeit im Boden, mit Tochter Conny entsorge ich die Kartoffelkäfer-Plage in leere Marmeladengläser - Erinnerung an eigene DDR-Kindheit: Walter Ulbricht (himself) hatte uns Junge Pioniere in den Fünfzigern zum Kampfeinsatz gegen eine landesweite Kartoffelkäferplage antreten lassen. Vermutet wurde der Abwurf durch CIA-gesteuerte Flugzeuge über dem sozialistischen Kartoffelgebiet...

Ha! Die geometrischen Reihen von Bauer Möhrings Kartoffelpflanzen lassen die Köpfe hängen. Ich aber habe die tollsten Knollen von Dolldorf, Frühkartoffeln, die ich im feldsteinumfassten Innenhof zum Trocknen auslege. Nachts wache ich auf, merkwürdige Mampfgeräusche dringen durch`s geöffnete Fenster. Monster im Sternenlicht, Wildsäue! Noch heute behaupten die lokalen Jäger, es gäbe in ihrem Revier gar kein Schwarzwild, vermutlich hätten Säue von Kirchmanns naher Weide den nächtlichen Ausflug zum Kartoffelschmaus unternommen. In diesem Sommer rannte allerdings ein Schwarzkittel in der Umgebung nächtens gegen einen PKW, einem Jäger kam er später vor die Flinte.
 

"Im Kriegsjahr 1940" - wie mutig müssen Edmund und Anna Horst gewesen sein, sich mitten in Kriegswirren ein Häuschen zu bauen, das auf alten Bauzeichnungen gerade `mal etwas katenhaftes hat.

 
Fachwerk und Feldstein-Mauern, ja - das lieben wir heute, ein Brunnen im Keller, eine offene Feuerstelle, ein Abort mit Sickergrube. Elektrischer Strom? Natürlich ist heutzutage alles auf neuesten Stand gebracht, niedersächsische Wirtschaftsförderungsmassnahmen lassen nichts aus, um uns dem Standard bundesdeutschen Wohnkomforts anzupassen - und dafür zahlen zu lassen: unter den Weiden herangelegte Stromleitung löste Freiluft-Kabel ab, Trinkwasser-Anschluss durch ein ebenfalls unter der Erde herangetriebenes Plastikrohr, computer-lesbare Mülltonne, normgerechte Kleinkläranlage mit Pflanzenbeet, und schliesslich noch die vom Rathaus der Samtgemeinde in Marklohe erzwungene Einführung neuer Strassennamen! Aus "Dolldorf 27" wird "Alter Schulweg 5".
Aber vor dem Eingang, verborgen hinter Rhododendron-Büschen, bleibt dem Haus ein Erbe aus der Nachkriegszeit, aus einer Zeit also, da es einem Gemeindedirektor noch möglich war, sich über Normen hinwegzusetzen, um einer Familie einen Herzenswunsch zu erfüllen.
Kürzlich sah ich im Fernsehen einen Beitrag über einen neuen deutschen Bürokratenstreit: Waldbesitzer haben sich eine neue Einnahme-Quelle ausgedacht - und liegen darüber prompt mit den Verwaltungen von Kommunen und Kirchen über Kreuz. Die beharren darauf, dass der leibliche Abgang von dieser Welt ordentlich auf einem Friedhof endet. Dagegen steht die neue Idee, sich noch vor dem Abgang selber das Wurzelwerk eines Patenbaumes in einem "Friedwald" als letzte Ruhestätte einer biologisch abbaubaren Urne auszusuchen. Neue Idee? Wir haben einen solchen Friedwald auf dem Grundstück. Die Urnen von Herrn und Frau Sievers, Nachfolger von Edmund Horst und Frau Anne als Hauseigentümer, ruhen unter einem Feldstein hinter den Rhododendron-Büschen. Der Bestattungsunternehmer kam seinerzeit mit einer der Urnen in der Hand auf winterlichem Eis am Hang in's Rutschen. Der Deckel sass nicht fest.
  Der Sohn - so erzählte er es mir, als er eines Tages unangekündigt mit seinem Moped zu einer Visite am Stein hinter den Rhododendronbüschen herunterrollte - kehrte am Hang die Asche zusammen. Ein bisschen Ordnung musste sein.
Man wirft keine Dosen weg im Wald. Ich spreche nicht mehr von vollen Urnen, sondern von leeren Dosen. Als in Deutschland das Dosenpfand noch nicht eingeführt war, traf ich bei meinen Erkundungsgängen im Dolldorfer Umland allenthalben auf diese bunten, oft zerknautschten Getränke-Container. Auf dem Weg zum nahen Kurbad Blenhorst sammelte ich einmal an einer Bus-Haltestelle aus einem Waldstück 31 solcher Dosen.
Dass mir dieser Zivilisationsabfall einmal positiv auffallen würde, habe ich dem Brückenschlag meiner afrikanischen Medienorganisation zu verdanken, die zur Weltausstellung "EXPO 2000" nach Hannover eingeladen war. Das machte zugleich die Rückkehr nach Dolldorf erforderlich.

Die Plakette, die ich oben an`s Tor schraubte, und die das Haus am Hang nun als vorübergehende Zentrale eines "Weltweiten Projekts" der EXPO auswies, hat irgendein Lump geklaut ...

 

... vermutlich einer, der auch leere Dosen in den Wald schmeisst. In der Afrika-Halle der EXPO bauten wir die Präsentation des Projektes "Global Village Voices" von Radio Bridge Overseas in den Nationen-Stand von Simbabwe ein. Gegenüber entstand am Lesotho-Stand ein merkwürdiges Gebilde, das im Archiv von Radio Bridge Overseas so beschrieben ist:

Der aus Stuttgart stammende Michael Hönes lebt in Afrika und baut Möbel und Häuser aus Dosen. Er motiviert den Betrachter zu anderen Wahrnehmungen und zum Sprung in eine andere Welt. Er baut Vorurteile ab. Die Dose lebt in allen globalen Ebenen und Schichten und sie verkörpert den Gegensatz von Nutzen und Abfall. Es gibt keine vollen Dosen ohne leere Dosen. Der Schlafende sieht allerdings nur die vollen Dosen, der Wache hingegen sieht die vollen und die leeren Dosen. Hönes sagt, seine Arbeit soll helfen, Schlafende aufzuwecken. Es werden jene sein, welche die zukünftigen Wege bereiten und Brücken bauen, um jeder Person die positive Erfahrung des Gegensatzes zu ermöglichen.

Gegensätze wie ökonomisch-ökologisch, hell-dunkel, voll-leer, arm-reich sind ein Teil des Lebens und der Betrachter identifiziert sich immer zuerst mit dem ihm Vertrauten. Der Betrachter in Europa identifiziert sich mit: ökologisch, hell, voll, reich. Der Betrachter in Afrika identifiziert sich mit: ökonomisch, dunkel, leer, arm. Europa - Afrika. Ein ideales Bild des Gegensatzes und doch ein Ganzes.  
http://www.radiobridge.net/www/archive090.html


         

Die kleine Brücke oberhalb unseres Häuschens verbindet uns mit der Welt, eine Brücke von Süd nach Nord, oder umgekehrt. Als er noch durfte, war sie für Bauer Möhring ...

    ... der kürzeste Weg zu seinem Feld. Wir erreichen darüber die Strasse von Blenhorst nach Nienburg an der Weser, wo es den nächsten Bahnhof gibt.
 
Nachts gehen wir öfter noch `mal hin, warten am oberen Ende der Brücke, bis im Norden, drüben in Blenhorst, pünktlich um 23 Uhr die Strassenlaternen abgeschaltet werden, und im Süden der Mars klar auszumachen ist. Vor 59.619 Jahren werden die frühen Menschen das orangerote Gestirn am Nachthimmel in ihrem alltäglichen Überlebenskampf kaum wahrgenommen haben. Damals war das magische Licht des Mars der Erde zuletzt so nah wie im August 2003.
 
http://www.abendblatt.de/daten/2003/08/16/197161.html
Mars, der rote Planet. Astrophysiker sagen, das oxidierte Gestein auf seiner Oberfläche unter einer dünnen Kohlendioxid-Hülle mache den Mars zum Farbwunder am Abendhimmel... Er ist eine rostfarbene Kugel, mit einem Durchmesser von 6794 Kilometern gerade halb so groß wie die Erde...
Die feurige Farbe des Mars verbanden seine frühen Beobachter mit Krieg und Verderben. Bei den Sumerern hieß er vor 5000 Jahren Simbutu, der Tiefrote. Erst die Römer nannten ihn Mars nach ihrem Kriegsgott - wohl aus Furcht und in Erinnerung an blutgetränkte Schlachtfelder. In China war er Huoxing, der Stern des Feuers. Die Perser nannten ihn Pahlavani Siphir, den Himmlischen Krieger. Bei den Babyloniern hieß er Nergal, Gott des Todes - von dort stammen auch die frühesten Aufzeichnungen auf Tontafeln, etwa 2.700 Jahre alt. Wenn der Nergal nicht am Himmel sichtbar war, hütete er die Feuer der Unterwelt. Der US-Astronom Asaph Hall griff die martialischen Begriffe 1877 auf, als er zwei winzige Marsmonde entdeckte, und nannte sie Phobos (Furcht) und Deimos (Schrecken). Die Römer verehrten den Mars gleich in mehreren Funktionen: als Mars Gradivus, den Kriegsgott, Mars Silvanus, den Gott des Ackerbaus, Mars Quirinus, den Schutzgott des Staates, und Mars Ultor, den Rachegott.

In dieser sternenklaren Oktober-Nacht bin ich alleine zur Brücke gegangen. Elsa ist vor zwei Wochen vorausgflogen, um unsere afrikanische Basis auf Vordermann zu bringen - Pendeln zwischen Nord und Süd, zwischen Dolldorf in der norddeutschen Tiefebene und Borrowdale in Harare auf der simbabweschen Hochebene. Der "Grosse Wagen", das Sternenbild am Dolldorfer Nordhimmel, hat seine Deichsel schon tief gesenkt. Wenn Elsa jetzt in Borrowdale nach Norden schaut, wird sie ihn tief am Horizont auftauchen sehen, nur umgekehrt, die Deichsel nach oben weisend. Ich stehe auf der Brücke, und die Strassenlichter in Blenhorst verlöschen, es ist 23 Uhr. Ich werde zurückschlendern und noch ein bisschen schreiben.

Im Sommer 1983 dampfte gelegentlich noch eine Lok mit einem Güterzug an Dolldorf vorbei, dabei unterquerte sie die kleine Brücke, `mal in östlicher, `mal in westlicher Richtung. Der Güterverkehr ist seit vielen Jahren eingestellt. Die Geleise sind überwuchert, die Schwellen verrotten seit die letzte, ziemlich eigenwillige Nutzung der Schienen polizeilich untersagt wurde. Wir hatten ihn den "Schwarzen Reiter" getauft und ihm von der Brücke aus gelegentlich amüsiert zugewunken, dem Fahrer eines schwarz gestrichenen Renault 4, wenn er auf blanken Felgen herangedonnert kam, man hörte das Gefährt schon aus grösserer Entfernung. Wenn es eine halbe Stunde später zurückkehrte, war es umgedreht, Scheinwerfer wieder voran, wir haben nie herausgefunden, wo und wie es wendete.

Nach der deutschen Vereinigung gab es viele tausend Kilometer verrotteter Eisenbahnlinien, vor allem in der ehemaligen DDR, und vermutlich ein paar Millionen von Eisenbahnschwellen, die dort auszuwechseln waren. Südlich der kleinen Brücke in Dolldorf, nicht dort, wo sich `mal gerade 200 Schritte entfernt unser Häuschen an den Hang duckt, sondern ungefähr 10.000 Kilomter hinter`m Horizont, wäre es seinerzeit beinahe zur Vermittlung eines Exports deutscher Eisenbahnschwellen nach Afrika gekommen. Ein Autor von Radio Bridge Overseas hatte zusammen mit jungen Journalisten-Kollegen aus Deutschland eine hübsche Radio-Geschichte produziert, die Erfolgsstory pfiffiger Unternehmer im simbabweschen Harare, die aus dem Tropenholz afrikanischer "railway sleepers", also aus Eisenbahn-Schwellen, exotisch-massive Möbel zum gewiss nicht billigen Verkauf in die Nordwelt herstellten.
Ihr in der ganzen Region aufgekaufter Vorrat von Teak-Schwellen aufgegebener Bahnstrecken ging gerade zu Ende.  

Da erzählte ich Geschäftsleuten bei einem G&T (tropischer Sundowner = Gin & Tonic beim Sonnenuntergang), die (damals noch so genannte) Deutsche Bundesbahn hätte in der Ex-DDR tausende von Kilometern Eisenbahnlinien zu erneuern, die seit Kaiser Wilhelms Zeiten dort nie ausgewechselt worden seien. G&T beflügelte den folgenden Kurzschluss: Kaiser Wilhelm = deutsche Kolonialzeit = Eisenbahnschwellen aus afrikanischen Kolonien für die deutsche Reichsbahn = knapp 100 Jahre später Rücktransport des tropischen Holzes aus Deutschland nach Afrika = Veredelung in exotisch-massive Möbel = Re-Export aus Afrika nach Europa! Eine phantastische Gedanken-Brücke, zumal jedes Stück Möbel mit dem zutreffenden Zertifikat zu versehen wäre, massives afrikanisches Tropenholz zu sein, aber nicht geraubt aus lebenden Tropenwäldern! Und welche Symbolik!
Beflügelt von dieser Symbolik, vielleicht auch noch ein bisschen vom G&T, liess ich mich darauf ein, dem Chef der Deutschen Bundesbahn von der Interessenlage afrikanischer Möbel-Hersteller zu berichten, die bereit wären, für den Holzrücktransport von Deutschland nach Afrika umgehend Frachtschiffe zu chartern.
Pech im Wortsinne enthielt dann der Antwortbrief: Nix mit verwittertem Tropenholz! Gift war das, was da unter den Schienen gelegen hatte, teergetränkt mit dioxin-haltigen Zusätzen aus 40 Jahren Chemie-Gebräu in DDR-Kombinaten!
Beim nächsten Vermittlungsangebot durch jemanden mit guten Beziehungen zu Ex-DDR-Funktionären liess ich dann alle Alarmglocken schrillen: auf Simbabwes Strassen sollte eine qualmende Trabbi-Flotte rollen...

Es gibt auch Brücken, die in Sackgassen führen.

 
Eine Brücke für unsere Tochter

Die Brücke zum Worldwide Web

Die Brücke zum eigenen Leben

Die Brücke in die Vergangenheit

Die Brücke als Kreuzweg

Die Multimedia-Brücke

Titel