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  TROMMELN IM ELFENBEINTURM

© 2005 Klaus Jürgen Schmidt


Historischer Hintergrund: 1989
… das Jahr, in dem die roten Fahnen verbrannten, das Jahr, in dem Afrikas Hoffnungen schwanden. In Simbabwe beginnt die Spur einer internationalen Konspiration, die von Afrika über Europa bis nach Asien reicht. Simbabwe steht stellvertretend für die Heimat afrikanischer Menschen, die mühsam versuchen, die Fremde zu verkraften, die als Ideologien und materielle Strukturen über ihr Denken und Fühlen hereingebrochen ist. Bei ihrer Spurensuche sehen sich die Simbabwerin Lainet Musora, eine Häuptlingstochter aus dem Sambesi-Tal, und ihre deutsche Freundin Gertrud Steiner, eine ehemalige KBW-Anhängerin mit Berufsverbot, konfrontiert mit ideologischen und spirituellen Verirrungen von Lebenswegen, die im Geflecht ihrer jeweiligen Kultur auf unterschiedliche Weise gebrochen sind. Vor dem afrikanischen Hintergrund spielt dabei eine wesentliche Rolle der mentale Konfikt zwischen Signalen aus alter und neuer Zeit, den Trommelzeichen aus afrikanischer Geisterwelt und den digitalen Chiffren globaler Computer-Kommunikation.


LESEPROBE



Prolog

Nur für fünf Minuten waren die sechs Schleusen im mächtigen Betondamm geöffnet, aber in diesen 300 Sekunden donnerten fast drei Millionen Kubikmeter Wasser in die Schlucht, mit einer Gewalt, die im Laufe der Jahrzehnte ein sechzig Meter tiefes Loch in den Felsgrund am Fuß des Dammes spülten. Mit diesem Loch hatten die Erbauer des Dammes nicht gerechnet, als sie 1955 die ersten Aufträge zur Zähmung des Sambesi vergaben. Das Loch gefährde nicht den 128 Meter hohen und 633 Meter langen Damm, behaupten die Experten, aber sie kontrollieren nahezu wöchentlich mit komplizierten Meßgeräten die Veränderungen am Grund des Flußbettes. Hinter dem Damm sind fast 180 Tausend Millionen Kubikmeter Wasser gestaut im damals größten von Menschen geschaffenen See der Welt!

Die Experten lächeln über die Warnungen der Tonga, die vor fünf Jahrzehnten aus dem Tal von den steigenden Fluten des Sambesi vertrieben wurden und seither auf die Rache ihres Schlangengottes Nyaminyami warten, der nach ihrem Glauben beim Bau des Dammes von seiner Gefährtin getrennt wurde und nun unablässig an der mächtigen Betonsperre rüttelt.
Amüsiert beobachten die Experten das Feilschen von Touristen um die kunstvoll aus einem Stück geschnitzten Wanderstäbe, die von der Geschichte der verarmten Tonga erzählen, als Knauf der züngelnde Kopf von Nyaminyami, darunter Szenen aus dem Leben damals am ungezähmten Fluß, mit den traditionellen Rasseln und der Pfeife, aus der sie noch heute mit einer speziellen Erlaubnis der Behörden in religiösen Zusammenhängen Cannabis rauchen, das sie hier Mbanje nennen. Der im Damm erzeugte Strom geht an ihren Hütten vorbei, die Planer des Dammes von Kariba hatten an tausend Jahre weiße Vorherrschaft gedacht und die Stromleitungen in die städtischen Zentren und in die Industriereviere von Nord- und Südrhodesien geführt.

Mitte der Achtziger Jahre dementierten die Experten entrüstet britische Presseberichte über ein millimeterweises Verrücken der Damm-Mauer.
Das Bauwerk hatte doch im März 1958 — ein Jahr vor Vollendung — einer gewaltigen Flut standgehalten. Und welche Mühe sich die weißen Planer gemacht hatten, im steigenden See auf Inseln gestrandete Elefanten, Nashörner, Raubkatzen und Gazellen in einer Operation Noah mit Booten und Hubschraubern an die sicheren Ufer neugeschaffener Nationalparks zu retten! Der Dammbau von Kariba war seinerzeit Afrikas ehrgeizigstes Industrieprojekt — im Spülloch an seinem Fuß aber nagt Nyaminyami am Glauben, Menschen und Tiere könnten mit einer Arche noch einmal dem Desaster einer aus dem Gleichgewicht gebrachten Natur entkommen!

Operation Noah — die Weissen hatten doch nur Ausgewählte an Bord geholt: nicht nur die Natur, der Charakter schwarzen Strebens nach selbstbestimmtem Leben kam am Kariba-See ins Taumeln. Und als sich diese schwarze Frustration — überall auf dem Kontinent — in Aufruhr und Guerillakrieg entlud, kam eine neue Farbe ins Spiel. Nach den weissen Missionaren kümmerten sich jetzt Missionare einer anderen Lehre um die schwarzen Seelen — mit roten Fibeln und Waffen. Doch als die sicher geglaubten Mauern der roten Welt-Kirche zusammenkrachten, bewahrte auch afrikanische Menschen nichts mehr vor der Flut von Profiteuren und Spekulanten.




LESEPROBE


Erstes Kapitel

Gertrud Steiner wischte sich die blonde Strähne aus der schweißnassen Stirn, zog das Paddel über den Rand des Schlauchbootes und klatschte sich mit der freigewordenen Hand lauwarmes Sambesi-Wasser ins Gesicht. Erschöpft lehnte sie sich gegen die dicke Gummiwulst, zuckte aber sofort zurück, als die in der schwarzen Gummihaut gespeicherte Sonnenhitze durch den Stoff der Khakibluse ihren Rücken versengte. Dabei stieß ihr Fuß nach vorn und traf unsanft das pralle Hinterteil der Freundin.
»Hey!« Lainet blickte sich erschrocken um, grinste dann und fragte: »Hast du dir das Fell verbrannt? Ich hab dir doch geraten, dich hinzuknien!«
»Verdammt! Das halten meine Knie solange nicht aus!«
Gertrud versuchte, die angeratene Position einzunehmen und brachte dabei das Gummiboot gefährlich ins Schwanken.
»Paß auf!« schrie die Freundin und lehnte sich rasch auf die andere Seite. »Wenn wir über Bord gehen, sind zwanzigtausend Mark futsch! Wir hätten doch nur eine Fotoausrüstung mitnehmen sollen.«
»Ich hätte aus Deutschland kein schwarzes Schlauchboot mitbringen sollen, helles Gummi hätte diese verdammte Hitze besser reflektiert!«
Gertrud hockte unkomfortabel auf den Knien. »Und wieso schwitzt du eigentlich nicht so sehr wie ich?« Seufzend nahm sie die alte Position ein.
Lainet Musora strich sich über die Stirn, wo im Ansatz der dichten, drahtigen Wolle Schweißtropfen glitzerten.
»Der liebe Gott — würde meine Mutter sagen — hat sich schon ´was dabei gedacht, als er uns schwarz machte. Natürlich schwitze ich! Bloß kann meine Haut die Sonne besser ab als deine weiße.«
Gertrud besah sich die rosafarbenen Fußsohlen der Freundin und sagte: »Hat mich immer schon gewundert, weshalb du so helle Fußsohlen hast — und auch deine Handflächen ...«
»Rosa wie Babyspeck!« Lainet zog jetzt ihr Paddel ebenfalls ins Boot, hockte sich vorsichtig mit dem Rücken zum Bug und streckte die Beine aus bis ihre Fußsohlen die von Gertrud berührten. Dann hielt sie beide Hände vor die Augen, besah sich intensiv die Innenflächen. Durch die hochgehaltenen Hände grinste sie hinüber zu Gertrud.
»Sag bloß, du hast die Geschichte noch nicht gehört?«
»Welche Geschichte?«
»Na wie wir Negerlein zu den hellen Handflächen gekommen sind!« Lainet griff ins Flußwasser und spritzte Gertrud eine Ladung ins Gesicht.
»Der Segen kam von ganz oben, meine Liebe! Hat uns ´mal der alte MacGregor beigbracht. Das war der Lehrer meines Bruders in der Ibwe Munyama Mission. Die liegt da drüben irgendwo auf der sambischen Seite. Ich hab ihn gelegentlich zusammen mit dem Vater besuchen dürfen, an hohen Festtagen — christlichen natürlich. Und einmal, zu Weihnachten, hat er´s uns gesagt.«
»Hat euch was gesagt?«
Gertrud blickte hinüber zur sambischen Flußseite. Der Strom floß hier träge durch eine langgestreckte Rechtsbiegung.
»Wir treiben übrigens rüber nach Sambia«, Gertrud richtete sich auf, »macht das ´was?«
»Laß uns ruhig ´mal einen Moment verschnaufen. Ich erzähl dir jetzt, wie wir laut MacGregor zur hellen Haut in den Händen gekommen sind — und dann packen wir wieder die Paddel — okay?«
»Ich hab´ schon Schwielen«, stimmte Gertrud zu, »also erzähl schon!«
Lainet besah sich wieder ihre Handflächen.
»Wie hießen die Heiligen Drei Könige?«
»Soll das ein Bibel-Quiz werden?«
»Eher eine gemeinsame Erinnerung an unsere Ausflüge nach Köln.«
»Was hat denn Köln mit den drei Weisen aus dem Morgenland zu tun?«
»Ja, ja — es war schon gut, daß uns die Weißen was Ordentliches beigebracht haben«, seufzte Lainet. »Ihr würdet ja sonst eure eigene Ge-schichte vergessen!«
»Na sag schon!« Gertrud klopfte ungeduldig auf die Gummiwulst. »Köln? Kölner Dom — da hattest du dich doch besonders lange aufgehalten. Und fotografiert, stundenlang!«
»Das war meine MacGregor-Erinnerungsstunde, meine Liebe! Wie du dich vielleicht dunkel erinnern wirst, bekamen die in der Bibel erwähnten drei Weisen erst im neunten Jahrhundert ihre Legende weg. Der gute alte Matthäus hatte noch keine Namen für sie, als er von ihrer Begegnung mit Herodes erzählte — auf ihrer Wanderung nach Bethlehem, wo sie dann dem Jesu-Kind huldigten.«
»Sag ´mal«, fragte Gertrud verblüfft, »hat euch das alles damals der Missionar erzählt?«
»Oh nein — zu dessen Geschichte komme ich gleich. Jetzt bin ich in Köln. 1146 brachte ein Ritter namens Rainald von Dassel vom Kriegszug im Morgenland ein paar Knochen mit, angeblich die Gebeine der Heiligen Drei Könige! Und die liegen seitdem im Kölner Dom in einem Reliquienschrein. Ihre Namen seit dem neunten Jahrhundert: Kaspar, Melchior und Balthasar.«
»Sicherlich nicht Objekt der von der UNESCO geforderten Rückgabe geraubter Kulturgüter«, bemerkte Gertrud sarkastisch. »Ist einer von den dreien nicht schwarz?«
»Hundert Punkte für die Kandidatin. Kaspar ist schwarz — nach einer im zwölften Jahrhundert entstandenen Legende! So — und nun stell dir den alten MacGregor vor, beim Erzählen der Weihnachtsgeschichte für die kleinen Mohrenköpfe da drüben in der Mission. Wie andächtig wir lauschten vor der niedlichen Krippe im Kerzenschein! Der erlosch zwar bald, weil sich die Wachskerzen in der Hitze verneigten, aber seine kleine Geschichte blieb eingebrannt in den jungen Heidenseelen!«
Nachdenklich stützte Lainet den Kopf in beide Hände, schwieg eine Weile, betrachtete dann wieder ihre Handflächen.
»Kaspar, der Mohr — so erzählte es uns der Missionar — durfte als letzter der drei Könige das weiße Jesuskindlein berühren.«
Auf die Balance des Schlauchbootes achtend kniete sich Lainet jetzt vor ihre Freundin.
»So!« Ihre Hände legten sich um Gertruds Wangen und verharrten dort.
»Und dann?« Gertrud faßte behutsam um Lainets Handgelenke und zog sie auseinander. Die Handflächen wendeten sich ihr zu.
»Schau! Gott in seiner Gnade hat den schwarzen Kaspar ein bißchen weiß gemacht!«
»Wowwh!«
Lainet lehnte sich zurück und schwieg wieder.
»Und du hast diesen Stuß geglaubt?«
»Liebste Gertrud — dir kann ich´s ja verraten: Noch kurz bevor ich zum Studium nach Deutschland ging, hab ich jeden Cent gespart, um in der Drogerie alle möglichen Sorten Hautaufhellungscremes zu kaufen! Die gibt es heute noch in den Läden, fast zehn Jahre nach unserer Unabhängigkeit — ein blendendes Geschäft, bloß daß das Zeug eher Pickel und Ausschlag verursacht!«

Lachend wollte sich Lainet gerade das Paddel greifen, als das Boot auf Grund stieß.
»Wir sitzen fest!«
»Mist!« Gertrud stieß ihr Paddel am Heck ins Wasser. »Eine Sandbank! Keine Sorge, wir sind gleich wieder flott ...«
»Bist du verrück?!« Lainet griff hastig nach der Freundin als diese Anstalten machte, ins Wasser zu steigen.
»Wir sind viel zu dicht am Ufer!«
»Was?«
»Da ... nimm den Fuß rein!« Lainet hob ihr Paddel und schlug aufs Wasser.
»Krokodile!«
»Krokodile?«
»Was sonst? Oder denkst du, das ist ein Baumstamm, der da im Wasser treibt?«
»Oh — mein Gott!« Gertrud starrte auf den langsam durchs Wasser gleitenden hornigen Höcker und ließ sich auf die Matte plumpsen.
»Können ... können die durch das Gummi beißen?«
»Hau auf´s Wasser und laß uns das später diskutieren!«
Gertrud kniete sich hastig neben Lainet und platschte das Paddel in die Flut.
»Und jetzt gleichzeitig vorn und hinten abstoßen! Weg von hier! — Da drüben kriechen noch mehr Baumstämme ins Wasser!«
Schwerfällig drehte sich das Gummiboot in die Strömung, kam frei — und die beiden jungen Frauen paddelten furios zur Flußmitte.
»Rüber auf die simbabwesche Seite?« fragte Gertrud.
»Ist noch zu früh für´s Nachtlager«, antwortete Lainet, »Und sieh ´mal, da drüben wäre es wohl auch nicht besonders gemütlich!«
Gertrud folgte dem Blick Lainets. Aber sie sah nur einige dunkle Huckel im Wasser.
»Was ist das? Das sind doch keine Krokodile?«
»Hippos! — Da, nimm das Fernglas!«
Gertrud zog das Paddel ins Boot und justierte das Okular.
»Flußpferde! Tatsächlich — das wimmelt ja! Aber schau doch ´mal — da steht ja ein kleines auf dem Wasser! Wie kann das denn angehen? — Jetzt bewegt es sich sogar, und geht nicht unter!«
Lainet nahm das Teleskop und inspizierte die Szene.
»Hol´ die Kamera raus! Wunderbar! Das ist ein Hippo-Junges, das es sich auf dem Rücken der Mutter bequem macht. Die stapft auf dem Grund des Flusses und trägt das Junge spazieren.«
»Können wir nicht näher ran?« Gertrud wechselte die Optik ihrer Kamera und nahm das Tier durch die Telelinse ins Visier. »Es ist genau das richtige Licht!«
Lainet blickte prüfend über das Wasser.
»Der Sambesi ist hier ziemlich seicht — das ist gefährlich. Die meisten Hippos sind weggetaucht. Sie können über den Grund laufen. Und jetzt, wo sie Junge haben, sind sie besonders aggressiv, wenn man ihnen zu nahe kommt!«
Zwanzig Meter vom Boot rauschte es plötzlich im Wasser, ein riesiger Kopf tauchte aus der trägen Flut.
»Der Bulle!« schrie Lainet. Gertrud riß die Kamera herum und ließ sie vor Schreck beinahe fallen. Bildfüllend sah sie in das weitaufgerissene Maul des wütenden Hippo-Bullen, rosig, glitschig, mit bedrohlich aufragenden Hauern an den weit auseinanderklaffenden Kiefern.
Lainet klatschte das Paddel ins Wasser.
»Laß die Kamera!« schrie sie, aber Gertrud ließ noch den halben Film durch die Automatik jagen, bevor sie der Freundin half, das Boot aus der Gefahrenzone zu bringen.
»Mensch — ein Happ, und das Boot wäre hingewesen«, keuchte Lainet, »und du spielst Fotoreporter!«
»Irgendwann müssen wir ja ´mal anfangen, und die Krokodile haben wir schon verpaßt.« Gertrud packte die Kamera erst in einen Plastikbeutel und dann in ihre Fototasche. Das Boot trieb nun wieder mit der Strömung in der Flußmitte.
»D i e haben u n s verpaßt, glücklicherweise! — Wir sind hier in Afrika, meine Liebe, und nicht mehr beim Foto-Studium in Essen!«
»Na, hatten wir da etwa keine wilden Tiere? Denk´ bloß an den Gruga-Park!«
»Da half deine Kamera, den tollwütigen Hund k.o. zu schlagen, der mich von hinten angefallen hatte — sicher! Aber probier´ das ´mal bei so einem Riesenvieh! Happ — und du hast ´mal ´ne Kamera gehabt!«
Lainet prüfte den Sonnenstand, wandte sich dann wieder zur Freundin.
»Im Ernst: Wir müssen verdammt vorsichtig sein. Ich hab´ dir schon gesagt, solche Sambesi-Touren werden sonst nur unter der Führung von erfahrenen Leuten in Konvois von drei, vier Kanus organisiert. Ich hab´ versucht, mich schlau zu machen — und immerhin hab´ ich hier ´mal gelebt. Das ist zwar eine Weile her ...«
»Wann warst du das letzte Mal in deinem Dorf, Lainet?«
»Mein Gott, das war — vor ... vor über zehn Jahren!«
»Und gehen wir ´mal hin?«
Lainet blickte nachdenklich über den Fluß in den Busch.
»Ich weiß nicht.«

Gertrud beobachtete die Freundin, die plötzlich verstummt war. Während sie im gleichen Takt mit ihr das Paddel ins Wasser stieß, ließ sie Revue passieren, was sie vom Leben der Freundin wußte und wie sich dieses Leben mit dem ihren verbunden hatte.

Bilder aus Norddeutschland kamen ihr in den Sinn, das Studium bis zur Lehramtsanwärterin in Bremen, daneben die Arbeit in sogenannten K-Gruppen, die sich nach der Universitätsgründung in der Hansestadt zu tummeln begannen. Die Uni hatte 1971 den Lehrbetrieb aufgenommen und bald ihren Schmähnamen weg: Rote Kaderschmiede. Der Gründungsrektor hatte der Berufung eines Dozenten zustimmen müssen, dessen Leistung sich mehr oder weniger auf ein Pressefoto reduzieren liess, das ihn als Träger eines roten Banners zeigte. Dahinter schritten würdige Lehramthalter im hergebrachten Ornat eine Saaltreppe herab. Der Bannertext reduzierte das Objekt der Studenten-Demonstration auf den Slogan: Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren.

Im Juni 1970 hatte das baden-württembergische Innenministerium die letzte aktive Hochschulgruppe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes in Heidelberg verboten. Aus ihr war dort die Kommunistische Gruppe/Neues Rotes Forum entstanden. Im Mai 1972 hatte diese sich mit verschiedenen anderen örtlichen kommunistischen Zirkeln in Bremen getroffen, um zu beraten, ob und wie eine einheitliche nationale Organisation zum Wiederaufbau einer kommunistischen Partei in Westdeutschland geschaffen werden könne. Im September 1972 fand eine weitere abschließende Arbeitskonferenz zu diesem Thema statt, und auf der Gründungskonferenz im Juni 1973 wurden Programm und Statut verabschiedet. Die neue Organisation erhielt den Namen Kommunistischer Bund Westdeutschland - KBW.
Drei Jahre später hatte sie bei einer Veranstaltung des KBW den Namen »Simbabwe« zum ersten Mal bewusst wahrgenommen — »Simbabwe« für »Rhodesien«. Auf dem Bildschirm irgendwann spät abends im Dritten Programm ein langes Interview mit einem schwarzen Brillenträger namens Robert Gabriel Mugabe, der die Vision eines Zusammenlebens von Schwarz und Weiß entwickelte. Das hatte sie beeindruckt. Da war endlich ein neues Ziel für ihren solidarischen Anspruch — nach Ende der vermeintlich nicht mehr notwendigen Solidaritätsbewegung für Vietnam, die Amerikaner hatten ja das gequälte Land verlassen. Ein neuer revolutionärer Funke, um den es sich zu kümmern lohnte: SIMBABWE! Spendensammlungen, diesmal aber ordentlich! Waffen für die unterdrückten Schwarzen — mit Geldern, die sie sammeln half.

Auf der Suche nach einem lohnenswerten Engagement hatte Gertrud Steiner seinerzeit verächtlich auf jene herabgeblickt, die ihr privates Seelenheil bei Gurus fernöstlicher Sekten suchten. Daß die maoistischen K-Gruppen ihre Mitglie-der an deutschen Universitäten mit ähnlichen Methoden psychischen Terrors manipulierten wie die Gehirnwäscher jener Sekten, war ihr Mitte der 70er Jahre noch nicht aufgegangen.
Bleichgesichtig und übellaunig sahen sie aus, weil sie nach dem abendlichen Pflicht-Studium der Schriften ihrer Führer entgegen sonstiger studentischer Gewohnheiten schon morgens um vier Uhr aufstanden, um sich am Werkstor Prügel bei der umworbenen Arbeiterklasse abzuholen. Von allem, was sie verdienten, blieb ihnen ein Bruchteil, der Rest wurde an die Kasse der Organisation überwiesen. Von Freunden, von den Eltern sowieso, aber auch etwa vom (Ehe-)Partner hatte man sich fernzuhalten oder besser zu trennen, sofern diese nicht von der Organisation für clean befunden wurden. Kontakte nach außen waren abzubrechen. Mindestens einmal im Monat musste man sich nach Art der Schauprozesse vor der örtlichen Führung selbst anklagen und Verfehlungen zugeben. Etwa, wenn man etwas Falsches gedacht hatte. Intimste Details mussten in Gruppengesprächen erläutert und auf ihre Kompatibilität mit den Ideen hin abgeglichen werden.
Als der KBW sich 1985 auflöste, hinterließ er zwar jede Menge gescheiterter Existenzen und gebrochener Biographien, seine Führer kassierten jedoch noch schnell 30 Millionen Mark für den Verkauf einer verrotteten Frankfurter Immobilie an die Commerzbank. Acht Jahre zuvor hatten sie sie für ein Zehntel dieses Preises erworben. Unter dem launigen Motto Wir waren die Jeunesse dorée feierte die KBW-Elite — getreu ihrer alten Parole Die Kapitalisten mit dem Geldsack schlagen! — auf diese Weise mit Champagner und Kaviar ihren Abschied von der Revolution. Außer für die Hetze und Schadenfreude der antikommunistischen Bundesliga taugte der Abgang eines linken Vereins für nichts etwas.
Doch Gertrud Steiner war in den folgenden Jahren eines besseren belehrt worden: Der enttäuschte linke Charakter, der gestern noch gegen Resignation gewettert hatte, weil er Erfolg für ein Argument hielt, packte nicht einfach ein. Ein echter linker Charakter möchte, wenn dann die Kinder kommen, die Frau ein Bäumchen im Hof pflanzt, ein Freund zu einem Schwätzchen vorbeikommt und nach einem guten Buch fragt, auch einmal von sich erzählen, nachdenken, philosophische Brüche rekonstruieren, sagen können, was er schwer erfahren und gelernt hat und was er bereut. Es gehört zu seinem Charakter, daß ihn das nicht einmal ankotzt.

Getrud Steiner hatte für ihr Engagement teuer bezahlt, lange bevor der KBW sich auflöste: Ihr Name unter Spendenaufrufen, ihr Name drei Jahre später in einer Gerichtsakte! Ein Prozeß, den sie in jenem Jahr verlor, als Simbabwe unabhängig wurde und Bonn mit den ehemaligen Terroristen Diplomaten austauschte: Berufsverbot! Verweigerung des Beamtenstatus wegen Unterstützung der Waffenhilfe!

Gertrud reiste nach Simbabwe — sie hatte gehört, dort würden Lehrer gebraucht. So hatte sie Lainet kennengelernt.

Von der Weser zum Sambesi, dachte sie — ein Entwicklungsroman!
»Von der Weser zum Sambesi!« sagte sie laut. »Wäre das nicht ein toller Titel?«
»Bitte?« Lainet tauchte aus ihren eigenen Gedanken auf.
»Ich dachte gerade, das wäre doch eine spannende Geschichte für einen Film, oder für ein Buch: Die Geschichte zweier Frauen von zwei Kontinenten, die sich in dem Moment treffen, als für beide der Ofen aus ist! Ich ohne Aussicht auf einen Job — du ohne Aussicht auf eine Ausbildung, und beide im blühenden Alter von fünfundzwanzig!«
Lainet rieb sich die breite Nase und grinste.
»Wenn schon, dann Vom Sambesi an die Ruhr! Von der Weser zum Sambesi — das war die Flucht einer einzelnen jungen Dame. Vom Sambesi an die Ruhr — das war schwarz-weiße Entwicklungsplanung, oder?«
Beide Frauen paddelten lachend drauflos — und Gertrud versank wieder in Erinnerungen an ihr erstes Treffen in der Stadt, die damals noch Salisbury hieß — und wenige Monate später Harare.

Sie hatte sich für fünf Dollar pro Nacht in einer miesen Lodge hinter dem Queens-Hotel eingemietet und abends mit müden Füßen der Live-Musik in Queens Garden nur noch zuhören können — während schwarze Frauen und Männer vor der kleinen Bühne tanzten, getrennt — gelegentlich mit einer Bierflasche in der Hand, und schon etwas schwankend. Die schrille Musik klang nur anfangs eintönig — von einem hageren Typen, dessen Rasta-Strähnen von einer bunten Strickmütze zusammengehalten wurden, hingehauen auf der Elektrogitarre in seltsamen Tonfolgen (die sie erst viel später im leisen Spiel der traditionellen, in ausgehöhlten Kürbissen gespielten Mbira wiedererkannte), und der seine Shona-Lieder in das übersteuerte Mikrofon brüllte.
In der dritten oder vierten Woche hatte sie sich — nach einem weiteren Tag frustrierender Behördengänge — gerade am belagerten Tresen eine Flasche Lions erkämpft, da passierte, was sie bis dahin hatte vermeiden können: Eine schwarze Hand kam irgendwo aus dem Gewühl und griff fest um ihre linke Brust. Sie schlug sofort danach und erntete Gelächter. Und dann war sie umzingelt von betrunkenen, aber freundlich kichernden Männern. Nach dem ersten Schreck wirkte die Situation nun nicht mehr bedrohlich — sie hatte schon früher bemerkt, daß Trunkenheit selten in Aggression umschlug und die Männer in Queens Garden waren ihr bislang immer mit Respekt begegnet. Umso überraschter war sie von diesem plötzlichen Angriff. Dann spürte sie eine andere Hand auf ihrem Arm und wandte sich um, eine junge schwarze Frau begann — in Shona schimpfend — sie aus dem Kreis der verstummenden Männer zu ziehen. Abseits vom Gewühl der Tanzfläche, fanden sich zwei unbesetzte Drahtsessel.
»Sie haben gewettet. Und wenn sie betrunken sind, werden sie mutig!«
Die junge Schwarze drehte die Sessel zueinander und lud Gertrud mit einer Handbewegung zum Sitzen ein.
»Sie haben gewettet?« fragte Gertrud und bot der Frau ihre Flasche Bier an.
»Danke — ich hatte gerade eine Cola.« Die Frau schüttelte den Kopf, dann griente ihr ganzes Gesicht. »Einer hat gewettet, daß du keinen Büstenhalter trägst, die anderen haben dagegen gehalten — und dann hat er sich ein Herz gefaßt und zugelangt.«
»Er hat gewonnen«, sagte Gertrud und nahm einen Schluck aus der Flasche. Dann hielt sie die freie Hand hin und sagte: »Ich bin Gertrud Steiner aus Deutschland und suche einen Job.«
Die Frau erwiderte den Handschlag. »Und ich heiße Lainet Musora und suche einen Beruf!«

So waren sie nach dem Mißgriff in Queens Garden Freundinnen geworden — und viele Wochen später Verschwörerinnen mit einem gemeinsamen Ziel: Das sich in Salisbury versammelnde Establishment westlicher Hilfsagenturen davon zu überzeugen, ein paar Funds für Lainets Ausbildung abzuzweigen. Auf diese Idee war Gertrud nach ihrer ersten Begegnung mit Vertetern Bonner Stiftungen gekommen, die gemeinsam mit Bonner Diplomaten nach Möglichkeiten fahndeten, durch Bonner Projekt- und Trainingsofferten einen Bonner Fuß in die Tür zur neuen simbabweschen Politik zu bekommen.
Der Plan war simpel: Gelänge es, Lainet in diese pilzartig wuchernden Angebote für eine Ausbildung in der Bundesrepublik — etwa als Presse-fotografin — einzuklinken, müßte eigentlich von den dann zur Verfügung stehenden, durchaus üppigen Geldern genug abfallen, um ihr einen Neustart an Lainets Seite zu ermöglichen. Fotografieren!
Das war ein alter Traum Gertruds — und diese neue Perspektive verwandelte sie in eine enthusiastische Lobbyistin überfälliger Frauenförderung in einer postkolonialen afrikanischen Gesellschaft, unter besonderer Berücksichtigung kommuni-kationsorientierter Frauenaufgaben vor dem Hintergrund autonomer u n d demokratischer Ausdrucksformen im Prozeß einer sich verändernden globalen Informationsordnung. So hieß es in Lainets Antrag.
Ein halbes Jahr später landeten sie in Frankfurt. Lainet begann, ausgerüstet mit einem wohldotierten Stiftungsstipendium, zunächst einen sechsmonatigen Deutsch-Intensivkurs und Gertrud nutzte diese Zeit, um den Beginn des eigenen Studiums so zu organisieren, daß es mit dem ersten Semester der simbabweschen Freundin an der Essener Folkwang-Hochschule zusammenfiel. Das PROJEKT STIFTZAHN, wie Gertrud den gelungenen Stiftungs-Coup fortan nannte, konnte vor einem Jahr erfolgreich abgeschlossen werden. Lainet fand sofort Anstellung bei einer ebenfalls mit Bonner Stiftungsmitteln geförderten Nachrichtenagentur in Harare, und Gertrud hatte sich nun — nach ersten, mißlungenen Versuchen, in Deutschland eine alternative, kooperative Bild-Agentur aufzubauen — von den über Konzept und Buchhaltung zerstrittenen Kollegen zur Freundin nach Simbabwe in einen »kreativen Arbeitsurlaub« abgesetzt.

Gertrud ließ das Paddel ruhen und bemerkte erst jetzt, daß Lainet mit dem ihren die träge Flut wie mit einem Bajonett bearbeitete — viel heftiger als es für die Fortbewegung mit dem Strom nötig gewesen wäre.
»Hey! — Willst du den Stichtag für deinen Bausparvertrag nicht verpassen?« rief Gertrud der Freundin zu — in Erinnerung an ihre ersten gemeinsamen Experimente, in Deutschland mit Motiv-Vorschlägen für die Foto-Werbung einer Bausparkasse einzusteigen. »Wüstenrot schlägt Mädels tot! — Weißt du noch? Keine Chance gegen männliche Konkurrenz!«
Lainet antwortete nicht.
»Heh!« Gertrud holte das Paddel ein und stupste die Freundin ans Hinterteil. »Willst du neue Rekorde ...?« Gertrud brach ab, als sich Lainet erschreckt umdrehte.
»Ist dir nicht gut?« Besorgt betrachtete sie das Gesicht der Freundin. Es war wie versteinert, der Blick weit in die Ferne gerichtet — oder eher nach innen?
»Mensch, was ist los?« Gertrud faßte nach Lainets Arm. »Hab´ ich was Falsches gesagt?«
»Stoß mich nicht immer am Hintern!«
»Entschuldige!«
Beleidigt ließ Gertrud den Arm der Freundin los und blickte über das Wasser, das auf der simbabweschen Seite jetzt an weißen Sandaufspülungen vorüberzog.
»Das wäre doch ein Platz für die Nacht — oder? Weit und breit keine Krokodile!« Lainet ließ nichts von sich hören.
»Mensch, sei nicht eingeschnappt! Ich tu´s nicht wieder!«
Jetzt kam Bewegung in die Freundin, sie wandte sich um und über ihr Gesicht strahlte das vertraute Grinsen.
»Das war´s nicht! Okay, laß uns ...«
»Was dann?«
»Es ist so lange her ...« Lainet blickte hinüber zum Ufer. »Weißt du, ich hab´ da so meine Probleme mit der Annäherung an die Heimat.«
»Was für Probleme?«
»Vater weiß gar nicht, daß ich zurück bin.«
»Aber — du bist doch schon seit einem Jahr zurück!« Gertrud sah die Freundin verständnislos an. »Ich hab doch damals deinen Bruder getroffen, bevor wir zusammen nach Deutschland flogen. Was macht der jetzt eigentlich?«
»War beim Rundfunk, macht jetzt irgend´was anderes. Er weiß, daß ich zurück bin. Ließ sich nicht vermeiden. Als ich bei der Nachrichtenagentur anfing, kreuzten sich zwangsläufig unsere Wege. Wahrscheinlich hat er es Vater erzählt. Obwohl ...«
»Obwohl?«
»Vater hat ihn damals auch verstoßen ... als Paul nach Mozambik ging — du weißt schon — in die Lager der Befreiungskämpfer.«
»A u c h verstoßen? — Heißt das, dein Vater will von dir nichts mehr wissen?« Lainet wechselte das Paddel auf die andere Seite.
»Wenn wir uns nicht beeilen, können wir nach einem anderen Lagerplatz suchen!« rief sie und brachte das Schlauchboot näher zur Sandanspülung. Gertrud half beim Kurswechsel, ließ aber nicht locker.
»Sag schon, hast du Probleme mit deinem Vater?«
»Also paß auf«, antwortete Lainet, »laß uns erstmal hier anlegen und das Zelt aufschlagen. In einer Stunde ist es dunkel, dann ist noch genug Zeit zum Heulen!«

Der untergehende Sonnenball ließ in dieser knappen halben Stunde vor Einbruch der Nacht satte Farbtöne über dem ruhigen Wasser des Sambesi aufleuchten. Rotgold tropfte das Licht stromaufwärts in den Fluß, der es herabzutransportieren schien wie in einer zähen Kupferschmelze. Blauschwänzige Kingfisher stürzten sich pfeilschnell auf die nur für sie sichtbare Beute unter der Kupferfolie, die beim Eintauchen in einer Perlenkrone aufspritzte. In die plötzlich erwachten Stimmen der Wildnis mischte sich ein unangenehmes Sirren.
»Moskitos! Und ich hab´ vergessen, meine Tabletten zu nehmen!«
Gertrud schlug sich auf den Arm und zerquetschte das Insekt, das sich oberhalb des Ellenbogens zur Mahlzeit niedergelassen hatte. Zurück blieb eine Moskito-Leiche in einem hellen Blutfleck.
»Krieg´ ich jetzt Malaria?« …




LESEPROBE


Einunddreissigstes Kapitel

Gertrud war es gelungen, das Vertrauen von Lainets Bruder zu gewinnen.

Als sie Paul spät in der Nacht alleine am Feuer entdeckt hatte, wirkte er so verstört, daß die Fotografin zunächst längere Zeit hinter ihm stehen geblieben war. Dann hatte sie sich schweigend zu ihm gehockt. Und in diesem lastenden Schweigen wuchs in ihr der Drang, sich zum ersten Mal gegenüber einer Person vollständig zu öffnen.
Sie hatte zu sprechen begonnen, hatte allmählich ihre innere Zerrissenheit offenbart, die sie nur nach Erfolgen in ihrer beruflichen Karriere hatte suchen lassen, ohne zu bemerken, daß dabei die Wärme für den Menschen, den sie am meisten liebte, für Lainet, verloren zu gehen drohte.
Paul hatte sie kein einziges Mal unterbrochen. Das Feuer war längst heruntergebrannt, als er ihr — erst stockend, später mit panikerfüllter Stimme — davon berichtete, wie mühsam es für ihn gewesen sei, nach seinem Ausscheiden beim Rundfunk einen neuen Job zu finden.
Seine Entscheidung, sich im Umgang mit Computern vertraut zu machen, hatte ihm schließlich eine Stelle als Programmierer des National Archives verschafft. Von dort sei er dann illegal, aber regelmäßig mit der Organisation der Rainbow Warriors in Kontakt getreten, denen er zuvor eher sporadisch Informationen habe zukommen lassen.

Und dann — nach einer weiteren Pause — entschloß er sich, von der schlimmsten Erfahrung seines Lebens zu erzählen:

Lange, bevor Getrud bei ihm in Chitungwiza aufgetaucht und viele Monate bevor sie zusammen mit seiner Schwester in die Erlebnisse am Sambesi verwickelt worden sei — habe er eines Nachts d i e Trommel gehört, zum ersten Mal seit jenen grauenhaften Monaten im Busch vor mehr als fünfzehn Jahren — das geheime Signal, den Notruf eines Freundes!
Und dann habe er ihn entdeckt, in seiner heruntergekommenen Uniform, zwischen den glimmenden Abfällen des Müllplatzes am Rande der Township, wo er sich verborgen gehalten hatte bis weit nach Sonnenuntergang, um dann auf einem verrosteten Kanister dieses Signal zu schlagen, alle fünfzehn Minuten einmal. Paul hatte ihn gefunden und sich zu ihm gekauert in den Dreck mit ausgestreckten Armen, doch die Annäherung war beiden nicht leicht gefallen.

»Warum ... warum hast du nicht telefoniert?«
Der Freund blickte an ihm vorbei, mißtrauisch mit unruhigen Augen. Dann erhob er sich mühsam, versetzte dem Kanister mit dem Fuß einen Stoß.
»Dein Telefon im Archiv, vielleicht wird es schon abgehört ... Ich werde gesucht, Paul ... Sie sind hinter mir her. Es ist wie damals! Aber du hast dich erinnert, nicht wahr?«
Erst jetzt akzeptierte er die Berührung und Paul starrte in das hagere Gesicht des Mannes, der ihm seinerzeit mit einem Befehl das Leben gerettet hatte, mit dem Befehl wegzulaufen — nicht zu warten auf einen gerechten Ausgang des Militär-Tribunals, das am Ende ihrer gescheiterten Rebellion gestanden hatte.
Der spontane und deshalb schlecht organisierte Aufstand der Feldoffiziere gegen die als korrupt erkannte politische und militärische Führung der Exil-Partei Mugabes war in den Camps mit Massen-Exekutionen beendet worden. Die Widersprüche im Kampf waren ungelöst hinübergeschleppt worden in die ersten Jahre der Unabhängigkeit und sie vergifteten noch immer das politische Klima des neuen Staates zwischen Sambesi und Limpopo.

Paul hatte endlich im National Archive eine Nische im Elfenbeinturm des schwarzen Managements gefunden, wo allerdings keine Fleischtöpfe anzuzapfen waren in diesen Jahren anhaltender Akkumulierung von raschem Reichtum in wenigen schwarzen Händen. Vielleicht war es diese mangelnde Gelegenheit gewesen, die ihn in eine kritische Distanz zu den Unabhängigkeitsverwaltern in Regierung und Partei hatte geraten lassen, begleitet von einer dumpfen Frustration in seinem Kopf und in seinem Herzen.
Er hatte einmal versucht, mit einer Frau zusammenzuleben, aber ihre ständigen Vorhalte, nichts aus seinem Leben zu machen, sich nicht wie die anderen an der Jagd nach Pfründen zu beteiligen, hatten aus dieser Verbindung ein Fiasko werden lassen. Die Frau hatte ihn schließlich aufgegeben. Paul mußte lernen, wieder alleine zu leben.

So hatte er in jener Nacht den Freund unbemerkt in die kleine Wohnung schleppen können.

»Bist du ... desertiert?«
Er hatte Wasser aufgesetzt in großen Pötten auf dem Herd, um die Wanne zu füllen, hatte Bier aus dem Kühlkasten geholt, in dem das vor Tagen gekaufte Eis zu einer lauwarmen Suppe zerschmolzen war. Jetzt saß er vor der auf dem Sofa zusammengekrümmten Gestalt, den Freund hatte ein offenbar lange entbehrter Schlaf übermannt.
»Was ist mit dir geschehen, Bothwell?« flüsterte Paul und die alte Angst kroch ihm in den Nacken. Die Angst von damals — als Verräter in den eigenen Reihen Oberhand gewannen. Ihre Truppen hatten Jagd auf die Dissidenten gemacht. Die blieben, wurden standrechtlich erschossen — es gab nichts zu verhandeln.

Bothwell war sein Kommandeur gewesen und der einzige nachdenkliche Freund in dieser verwilderten Gesellschaft halbwüchsiger Buschsoldaten.
Bei ihrer Flucht hatten sie das Trommelsignal vereinbart. Für den Fall, daß einer in eine Falle lief, sollte er — wo immer es möglich war — dieses Signal trommeln. Paul hatte es nie gebraucht und es auch nie gehört — bis zu diesem Abend, zehn Jahre nach Erreichen der Unabhängigkeit.
Er löschte das Feuer unter dem Badewasser und trank das lauwarme Bier.

Das Trommelsignal auf dem rostigen Kanister inmitten glimmenden Mülls!
Es hatte ihn zurückgeworfen in die Zeit von Hoffnung und Glauben, schon damals angenagt durch Angst und Zweifel.
Paul betrachtete das erschöpfte Gesicht des Freundes, der sich nach der Unabhängigkeit auf das waghalsige Experiment der Versöhnung mit den Weißen eingelassen hatte und nun in der aus Kolonialisten und Guerillakämpfern zusammengeführten Armee diente.
»Willkommen, Bothwell — in der Hütte eines Veteranen des Befreiungskampfes.« Paul sah hinauf unter das nackte, verrußte Asbestdach.
»Wir sind wieder da, wo wir hergekommen sind, nicht wahr?«
Uns fehlt das Prinzip der Liebe, hatte kürzlich ein Marxist an der Nationalen Universität in einem ketzerischen Artikel konstatiert.
Wir sind unfähig, uns Armut, Entwürdigung und Leid zuzuwenden. Offensichtlich fehlt uns eine grundsätzliche Liebe für unsere Menschen, und deshalb sind wir nicht in der Lage, für sie Opfer zu bringen. Dies steht in scharfem Gegensatz zu den Kolonisten, die alles aus Liebe zu ihren weißen Mitmenschen entwickelten. Wir sollten zuerst lernen, unsere Menschen zu lieben, bevor wir etwas entwickeln. Es gibt kein Prinzip der Liebe in unserer Politik und in unserer Ökonomie ...
Paul trug den Zeitungsausschnitt seit Wochen in der Jackentasche.
»Das würde dir gefallen, Bothwell!«
Er leerte die Bierflasche, schloß Fenster und Tür und legte sich auf den Boden.


Paul wendete den Speck und die Eier in der Pfanne. Im grauen Licht der frühen Morgenstunde hatte er die Insignien auf der verschmutzten, abgelegten Uniform erkannt: Sein Freund hatte es in der neuen Armee bis zum Hauptmann gebracht — im Guerillakampf war er bereits Feldkommandeur gewesen!
Bothwell kam, ein Tuch um die Hüften, aus dem dampfenden Baderaum. Als er sich umwandte, glänzte die faserige Narbe unter seinem Schulterblatt. Nach einem Bombenangriff hatte Paul Kräuter auf der Wunde plaziert, mit Bindfäden um den Leib befestigt — sie hatten nichts anderes zur Hand gehabt, damals im Busch.
»Du bist desertiert?«
»Sie haben mich für verrückt erklärt!« sagte Bothwell und senkte den Blick auf die Hände, die jetzt müde im Schoß lagen.
»Ich bin dahinter gekommen, Paul ... Es ist wie damals, nichts hat sich geändert!« Er blickte auf als der Freund ihm Teller und Löffel reichte. »Und wie ist es bei dir?«
Dann sah er sich um in der Hütte, in der er vor zwanzig Jahren den Schulfreund überredet hatte, mit ihm über die Grenze zu gehen, in die Guerilla-Lager des Nachbarlandes am Meer.
»Das ist also dein Profit als alter Kämpfer, Paul?«
Dieser ballte den kalten Sadza-Klumpen in der Hand und tunkte schweigend das Fett von seinem Teller.
»Drüben in Mozambik kannst du jetzt reich werden, Paul — wußtest du das?« Bothwell lachte böse und schlug die Hand auf den Tisch. »Reich, mein Lieber! Oder wofür hast du damals dein Fell hingehalten?«
»Wir hatten anderes im Sinn! Bothwell — du hast mir das erklärt. Du warst doch zugleich unser politischer Kommissar ...«
»Wir haben geträumt, mein Lieber ... wir haben einen Traum gehabt, jawohl. Und schon damals haben sie uns hintergangen!«
Paul würgte an dem fettigen Sadza-Kloß.
»Es ging immer nur um Macht und um Geld. Und du und ich — wir beide sind bis heute das Fußvolk geblieben! Ich hab´ gewußt, daß ich dich nicht in irgendeinem noblen Vorort suchen mußte, Paul ... daß du hier hängen geblieben bist. Du bist immer viel zu anständig gewesen, nicht wahr?«
Paul zog den Zeitungsartikel aus der Jacke. Seine Finger verursachten einen Fettfleck als er die Stelle suchte, die er dann mit leiser Stimme vorlas: Der ehrliche, hart arbeitende, sich selber aufopfernde Simbabwer wird jetzt als naiv, sogar als dumm angesehen. Was also wird aus einem Land, wenn die ´Respektablen´ und ´Cleveren´, die ´Schnellreichen´ soziale Gangster sind? Solch ein Land kann nur in den Abgrund stürzen!
Bothwell riß ihm den Ausschnitt aus der Hand und zerknüllte ihn.
»Noch ein Verrückter!« schrie er. »Nichts stürzt in den Abgrund, wenn weiße Ausbeuter durch schwarze Betrüger ersetzt werden. Die Lektion kam bloß nicht vor in unserem Politunterricht! Ich hab´ sie gerade gelernt, drüben in Mozambik, wo wir solidarische Hilfe leisten zum Schutz unserer Transportwege zum Meer. Ich war da, Paul! Ich Idiot hab´ gemeldet, was ich sah!«
Paul glättete den auf den Tisch geworfenen Zeitungsausschnitt, bevor er ihn wieder sorgfältig in der Jackentasche verstaute.
»Was hast du gesehen?«


Er hörte die Trommel zum zweiten Mal, viele Abende später, nachdem er die Paraffin-Funzel angezündet hatte.
Der alte Freund, der nach so langer Zeit in sein tristes Leben eingebrochen war, hatte ihn nur zwölf Stunden später wieder alleine gelassen, mit einer neuen Unruhe im Kopf und mit dem Drang, sich einzumischen — gegen die ausdrückliche Warnung Bothwells, die Finger davon zu lassen.
Paul starrte durch die geöffnete Tür in die Nacht. Er wartete fünfzehn Minuten, aber das Signal kam nicht wieder. Dennoch machte er sich auf den Weg.
Er fand auf der Müllhalde den rostigen Kanister, dort, wo ihn vor einer Woche der Fuß des Freundes hinbefördert hatte. Niemand hatte getrommelt!
»Wenn du die Trommel wieder hörst, wird es kein Hilferuf sein, Paul!«
Er hockte sich auf den Kanister und dachte über die Weisung des Freundes nach: »Sie wird dich warnen, Paul — dich nicht in Gefahr zu bringen! Es ist mein Kampf ... vielleicht mein letzter ... und niemand kann mir helfen!«

War das ferne Geräusch nur eine Imagination gewesen? Oder doch ein Warnsignal, das ihn über eine spirituelle Beziehung zum flüchtenden Freund erreicht hatte — weil er seit dem Treffen mit ihm schon zu weit gegangen war, bei seinen vorsichtigen Recherchen?
Paul schüttelte den Gedanken ab. Es gab zu viel Geisterglaube, gewuchert in den Seelen schwarzer Menschen. Er war bei seiner Arbeit im National Archive dieser allmählichen Pervertierung traditionellen Glaubens auf die Spur gekommen.
An die Stelle des althergebrachten Vertrauens gegenüber Geistermedien, die den Rat der Ahnen für die Nachgeborenen eingeholt und dafür in einer hierarchischen Sippen-Ordnung Gehorsam verlangt hatten, war jetzt in das tägliche Leben eine Angst getreten, die bedingungslose Unterwerfung auch gegenüber Vorgesetzten und politischen Führern forderte.
In der unbewältigten Konfrontation mit der modernen Welt schien dieser Rückgriff auf längst verlorengegangene, schwarze Identität zur Manipulation von Aberglauben verkommen, zum Kontrollinstrument beim immer rascheren Auseinanderdriften von Oben und Unten.
Paul war überzeugt, daß dabei die überfällige Anpassung an Erfordernisse einer demokratischen Entwicklungsgesellschaft schon auf der Strecke geblieben war. Mit Bitterkeit erinnerte er sich daran, wie viele der jungen Rekruten in den Buschcamps an das Muti, das Amulett geglaubt hatten, das sie vor feindlichen Kugeln schützen sollte — bis die ersten Kameraden gefallen waren!
Er hatte an das rote Banner geglaubt, Bothwell war sein Lehrer gewesen, und Paul hatte die Empörung in sein Herz sinken lassen, die Empörung darüber, daß es zweierlei Recht gab — für Weiße und für Schwarze, für oben und für unten! Aber sie konnten es alleine nicht schaffen, und sie stellten fest, daß die Welt der Weißen auch unterteilt war — in oben und in unten. Sie nannten es die Erste und die Zweite Welt — die kapitalistische und die sozialistische Welt.
»Wir gehören zur Dritten Welt — noch ein Stückchen weiter unten!« hatte Bothwell ihn aufgeklärt. »Also haben wir uns mit denen aus der Zweiten Welt zusammengetan. Sie helfen uns in unserem Kampf — mit Waffen und mit einem Modell!«
Mit einem Modell für eine neue Gesellschaft — davon hatte Paul geträumt, als die Kameraden fielen. Unter diesem roten Banner waren sie im Kampf um schwarze Unabhängigkeit angetreten — und hatten nicht begriffen, daß ja dieses Banner ebenfalls von Weißen genäht worden war, die jetzt gerade dabei waren — in Erkenntnis eines historischen Irrtums — jenes rote Tuch zu zerreißen, das sie einst mit den Völkern in der Dritten Welt verbunden hatte!
Der rote Stern war Pauls Muti gewesen, er hatte ihn längst auf den Müll geworfen und geschworen, sich niemals mehr manipulieren zu lassen.

Und dennoch hatte er an diesem Abend erneut die Trommel gehört!

Bothwell hatte nur für eine Nacht einen sicheren Platz zum Ausruhen ge-braucht, auf seiner Flucht vor den Häschern, die er mit einem sorgfältig ausgearbeiteten Report an die Armeeführung mobilisiert hatte. Sie hatten ihn sofort isoliert!
Sein Bericht über die heimlichen Geschäfte von Vorgesetzten mit gewildertem Elfenbein mußte — davon war Bothwell überzeugt gewesen — auf dem Weg zum Armee-Direktorat in der Hauptstadt abgefangen worden sein.
Paul hatte gleich widersprochen.
Zwar lebte und arbeitete er jetzt in einer politikferne Nische des schwarzen Elfenbeinturms, doch war ihm der Mechanismus des untergründigen Repressionsapparates durchaus vertraut geblieben.
»Sie hätten dich umgelegt, Bothwell, wenn es nur um die Machenschaften von ein paar Kriminellen gegangen wäre!«
Aber sie hatten das Netz viel feiner gesponnen.
»Siehst du das nicht? Irgendwer hat angeordnet, dich aufzubewahren ... als Verrückten, den man noch ´mal gebrauchen kann — als Zeugen, falls sich das Blatt wenden sollte!«
Aber Paul hatte den Freund nicht davon überzeugen können, daß er zur Figur in einem Schachspiel reduziert worden war — daß sein Report mit Sicherheit das Armee-Direktorat erreicht hatte, wo Zug um Zug ein wahrscheinlich viel größeres Intrigenspiel im Gange war.


Zwanzig Meter entfernt schwelte es im Müll. Paul erhob sich von dem Kanister und trat zu der Brandstelle, deren Glut von Zeit zu Zeit durch eine leichte Brise aufglimmte.
Aus der Brusttasche zog er das kleingefaltete Kuvert, in dem er die Notizen aufbewahrte, die das Ergebnis seiner bisherigen Recherchen zusammenfaßten. Er hatte gehofft, Bothwell werde sich noch einmal melden, um mit ihm die Fragen durchgehen zu können, die sich in seinem Kopf bewegten: A) Welche politischen Verbindungen waren mit dieser Konspiration verknüpft? B) Welche Kanäle nutzten die in Mozambik stationierten Offiziere, um gewildertes Elfenbein mit einem so großen Gewinn loszuschlagen, daß sich ihr immenses Risiko lohnte? C) Auf welchem Weg verließ die Konterbande das Land am Meer und mit welchem Markt als Ziel?

Misch dich nicht ein, Paul! Noch haben sie mich nicht!

Aber Paul hatte begonnen, sich einzumischen — und jetzt hatte er die Trommel gehört!
Er blickte zurück zu dem rostigen Behälter — und die Angst war da!
Bothwells imaginäres Signal begann seinen mit Daten und Fakten gefüllten Kopf zu durchdringen, fand Resonanz in jenem Teil seiner frühen Gefühlsprägung, die er verschüttet geglaubt hatte und die ihn doch — mehr als seine schwarze Hülle — Afrikaner bleiben ließ, Erbe einer spirituellen Welt, unerschüttert bis in die Gegenwart.
Impulse aus diesem verborgenen Inneren kommandierten nun seine Hand, mit weitgeöffneten Augen registrierte er die — seinem Verstand zuwiderlaufende — Bewegung: Zwischen schmorendem Gummi erfaßte die Glut das zerknäuelte Kuvert, dann erinnerte ihn der aufsteigende Rauch an die Zeremonien alter n´angas, die er als Knabe heimlich beobachtet hatte. Und schaudernd wurde er gewahr, daß er ein Opfer darbrachte — dem Willen seines fernen Freundes gehorchend!

Bothwell Nyandoro, Hauptmann der Nationalen Armee, starb in jener Nacht. Seine verweste Leiche wurde drei Monate später von Spaziergängern auf einem Hügel in der Nähe einer Militärbasis im Matabeleland gefunden.
Eine Notiz in der Hauptstadtzeitung erwähnte, der Hauptmann habe angeblich gedroht, einen großen Skandal in der Armee zu enthüllen. Vorgesetzte hätten bei einer ersten Befragung vermutet, Nyandoro müsse Selbstmord begangen haben. Es sei allgemeine Auffassung unter seinen Kameraden gewesen, daß er unter geistigen Störungen gelitten habe ...


Paul dröhnte es in den Ohren — das Trommeln verfolgte ihn jetzt bis in den unruhigen Schlaf. Doch diesmal hatte er sich widersetzt: Er war es Bothwell schuldig! Und seine Trommel-Warnungen konnten ihm gestohlen bleiben!
Verbissen hatte er die Recherche wieder aufgenommen. Zunächst war es ihm gelungen, die geheimgehaltene Kommandostruktur zu erkunden, unter der Hauptmann Nyandoros Einheit im Nachbarland eingesetzt gewesen war. Als er alle Namen der vorgesetzten Offiziere beisammen hatte, meinte er plötzlich ein Raster erkennen zu können.
In der Mehrzahl waren es ehemalige Feldkommandeure der ZAPU, jener konkurrierenden Exil-Partei, die seinerzeit von Moskau umworben worden war. Die massive Unterstützung mit Geld, Waffen und ideologischem Rüstzeug für diese Partei des Minderheitsstammes, der Ndebele, hatte sich jedoch nicht ausgezahlt: In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit hatten die Russen einen schweren Stand gehabt; die Konkurrenz aus Peking war erfolgreicher gewesen!
Wie Fische im Wasser hatten sich die Partei-Kader des Mehrheitsstammes, der Shona, unter der Landbevölkerung bewegt. Als sie dann in der ersten freien Wahl an die Oberfläche tauchten, war noch nicht abzusehen gewesen, daß sich einige zu Haien entwickeln würden.
Und sieben Jahre lang hatten sie sich weiter bekämpft — die beiden Stammesparteien — mit entsetzlichen Greueln unter den Menschen in den Dörfern und Städten der ethnischen Minderheit.
Und dann war es zur Vereinigung beider Parteien gekommen. Paul hatte es als Chance begriffen, endlich zu einer nationalen Identität zu finden, sich endgültig von jenem roten Tuch zu trennen, das die schwarzen Köpfe auf andere Weise kolonialisiert hatte — von Marxismus, Leninismus, Maoismus.
In diesem Moment aber war die alte Weltordnung zusammengebrochen — die Solidarität der Zweiten Welt mit der Dritten Welt hatte sich als fauler Zauber erwiesen, sie beeilte sich, Teil der Ersten Welt zu werden.
Diese Erkenntnis hatte Paul auf eine Spur gebracht!

Er wußte, daß er der Lösung näher kam, denn die Trommel ließ ihm keine Ruhe mehr. Bothwells Geist warnte den Freund, doch Paul ahnte, daß SIE wieder da waren, diesmal ohne Maske. Ihre Ideologien waren verrottet, ihr Atem ließ alles verrotten, Tiere, Menschen, Moral ... Bothwell war verrottet!
Es lag auf der Hand, Paul hatte viele Wochen später die Nachricht in der Zeitung gelesen. Das zuständige Provinzgericht hatte über die Todesursache zu entscheiden gehabt und war zu einem außergewöhnlichen Spruch gelangt:
HERALD-Correspondent: ... In der Begründung seiner Entscheidung sagte Mr. Masimba, der Hauptmann habe bis zu seinem Tod unter illegaler Beobachtung gestanden. Er sagte, Hauptmann Nyandoros Verhalten in diesem Zeitraum sei normal gewesen und er wies damit Vermutungen bestimmter Kreise über geistige Störungen zurück.
Wörtlich heißt es in der Begründung: ´Vor seinem Verschwinden teilte er in einem Brief seiner Ehefrau die Befürchtung mit, von Mitgliedern des Geheimdienstes oder von Staatssicherheitsagenten abgeholt zu werden. Nach allem Augenschein, den wir haben, befand sich der Verstorbene nicht in irgendwelchen finanziellen, ehelichen oder persönlichen Problemen.´
Mr. Masimba stellte fest, Hauptmann Nyandoro habe, vor allem in den letzten beiden Monaten vor seinem Tod, Schrecklichstes erlebt; wörtlich sagte der Richter: ´Er ist gejagt und gefoltert worden. Für die meisten Menschen ist das Leben, das er zu jener Zeit führen mußte, nur vergleichbar mit Fiktionsromanen,´ und er fügte hinzu: ´Es ist dieser Mafia-Stil, der seinen Weg in unser Leben gefunden hat. Es ist äußerst unglücklich, daß die Verantwortlichen nicht identifiziert und zur Verantwortung gezogen werden können!´

Agenten hatten Bothwell umgebracht! Agenten, die außerhalb des Zugriffs von Gerichten handeln konnten! Gedeckt aber von welchen ungeheuerlichen Interessen?

Paul hatte sich weit entfernt von Bothwells einschüchternden Trommelsignalen, die ihn mit immer stärkerer Intensität aus der ihm unbegreiflichen Geisterwelt zu erreichen suchten.
Er hatte sich modernste Elektronik zunutze gemacht und in einsamen Nachtstunden begonnen, den mit Wissenschaftszentren in aller Welt vernetzten Computer des National Archives zu mißbrauchen.
Ihm war längst klargeworden, welche Kontakte die in Mozambik stationierten Offiziere bei der Vermarktung des gewilderten Elfenbeins benutzten — es mußten die alten Kontakte sein, die Verbindungen ehemaliger Kommandeure des Minderheitsstammes zu ihren Finanziers in der russischen Armee! Da würden sich auch die Interessen treffen.
Generale in Moskau — zutiefst verunsichert durch dramatische Veränderungen in der Sowjetunion, in der gesamten sozialisitischen Welt — würden Verbündete suchen, die — wie sie — nicht zulassen wollten, daß ihre Ordnung zusammenbrach!
Die Reformen konnten ja nur gelingen, wenn die sowjetische Rüstungsmaschine abgebaut würde. Sie aber war seit fast siebzig Jahren der mächtigste Apparat, sie war eine Weltmacht! Generale dieser Roten Armee — würden sie sich das Ruder ohne weiteres aus der Hand nehmen lassen?
Paul ging davon aus, daß sie keineswegs diese Absicht hatten, sondern vielmehr an der Wiederbelebung bewährter Kontakte in der ehemals Dritten Welt arbeiteten, die sich wie Metastasen des alten Krebsgeschwürs in den Organismus von Politik und Militär einlagern sollten, um aktiviert zu werden, sobald die Zeit gekommen war, das Rad der Geschichte zurückzudrehen!

Hier aber war für Paul der blinde Fleck erreicht, der es nötig machte, illegal das Computer-Netzwerk zu benutzen.
Das Stichwort hieß Elfenbein!
Was konnten russische Militärs angesichts des bevorstehenden internationalen Elfenbein-Banns mit der Konterbande anfangen?
Paul hatte über das Rainbow-Network herausgefunden, daß es in der Gorbat-schow-Ära auch einen Datenaustausch mit sowjetischen Wissenschaftlern in der International Foundation for the Survival of Humanity gab, der über den amerikanischen San Francisco/Moscow-Teleport koordiniert wurde.
In einer fingierten Anfrage des National Archives hatte er um Hinterlegung eines sowjetischen Ivory-Files im elektronischen Postfach des amerikanischen Teleports gebeten. …



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