Vorwort des Autors
(Auszug)
Bremen, im Juni 1984
Als Nachrichtenredakteur hatte ich es nur mit Meldungen
von Kriegsschauplätzen und Verhandlungstischen zu tun.
Das reichte mir nicht. Ein Journalistenpreis von
"Terre des Hommes" gab mir Gelegenheit, selber
Erfahrungen mit den Menschen in Vietnam zu machen —
vor allem mit Kindern, ihr Leiden und ihr kleines Glück
standen in den Jahren danach immer wieder im Mittelpunkt
von Reisen nach Vietnam, Laos, Kampuchea. Ich lernte zu
unterscheiden zwischen professioneller Nachrichtensuche
und persönlicher Betroffenheit. Dabei hat mir besonders
Michael Geyer geholfen, der ab 1976 mit mir zusammen
unterwegs war…
... Unter
anderem habe ich mit Michael Geyer den hier
vorgelegten Text für ein Buch-Kapitel aus einem
gemeinsamen Radio-Feature entwickelt. Ich widme
diese Bearbeitung für das Internet meinem Freund
— Michael Geyer starb im Januar 2003 in
Bremen.
"Samaki" —
das heißt Solidarität (1980)
— Hindernisse und Chancen, Kampuchea wieder
auf die Beine zu helfen |
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... Wir hatten in den Tagen vorher oft
darüber gesprochen, was uns wohl in diesem Land erwarte.
Wir hatten überlegt, wie wir es drei Wochen aushalten
würden in einem Land, von dem wir gehört hatten, daß
nach vier Jahren einer beidpiellosen Terrorherrschaft
jetzt Totenstille herrschen soll. Ein ganzes Volk hungert
aus, und die Welt sieht zu, war den spärlichen
Nachrichten über Kampuchea zu entnehmen. Nun wollten wir
uns selbst Nachrichten verschaffen, zu begreifen
versuchen, wie das kleine Volk der Khmer — Nachbar
der Vietnamesen, Thailänder und Laoten — in die
hoffnungslose Lage geraten ist.
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Es sind bange Erwartungen, mit
denen wir die politische Erkundungsreise nach
Südostasien antreten. Auch Ängste — wir
haben Elendsbilder im Kopf, jetzt werden wir der
alltäglichen Wirklichkeit des Elends selbst nahe
kommen, nicht mehr bequem auf Distanz gehen
können, werden betroffen sein, wollen
nichtsdestoweniger journalistisch vorgehen,
prüfen, registrieren. Kampuchea — die
Zustände in dieser Ecke der Welt gehen uns an.
Auf dem Flug lesen wir einen Brief, den uns Petra
bei der Abreise zugesteckt hat. Von Bert Brecht
hat sie uns was aufgeschrieben ... |
Über
die Berge
Fliegt der Mensch wie nichts
Groß sind seine Werke
Doch am Brot für alle, da gebrichts,
Menschenskind!
Daß nicht alle satt sind!
Über die Kontinente
Spricht der Mensch von Haus zu Haus
Hunderttausend Hände
Strecken sich zueinander aus
Menschenskind!
Wenn sie erst beisammen sind! |
Journalisten aus einem der reichsten und geordnetsten
Länder auf Reportagebesuch in einem Weltnotstandsgebiet.
Wir haben uns fest vorgenommen, nicht nur politische
Umstände, ökonomische Daten und historische Fakten
abzufragen. Die Absicht ist, unmittelbaren Zugang zu
finden zum alltäglichen Leben der Menschen, die
Existenzbedingungen und Lebensumstände irgendeiner
Familie ganz aus der Nähe kennenzulernen. Also nicht
sich zufrieden geben mit der Beschreibung des
Allgemeinen. Aufmerksam werden für banale Einzelheiten,
unterscheiden lernen, was sensationell erscheint, was
normal ist. Ungewiß, ob das möglich sein wird.
Zweifelhaft, ob die politischen Vorkehrungen der
Behörden das zulassen werden, wenn wir uns in den
Wohnquartieren unter die Leute mischen wollen. Dann die
erste Fahrt vom Flughafen in das Zentrum von Phnom Penh.
Durch die Scheibe eines fabrikneuen "Lada"
Einsammeln von Eindrücken.
Wie im Kino
Vorbeifahrt an Kulissen, das Auge sucht
Bestätigung für die jüngste Geschichte dieser
totgesagten Stadt, findet Anhaltspunkte in
zerstörten Gebäuden, leerstehenden Häusern, am
Straßenrand kampierenden Menschen. Ausgestorbene
Wohnquartiere, Straßensperren, aber auch Bezirke
großer Geschäftigjeit, Menschen unterwegs mit
Bündeln bepackt, reger Verkehr auf Fahrrädern
und Fuhrwerken, provisorische Verkaufsstände
hier und da, ein Verkehrspolizist in nagelneuer
Uniform, buntbemalte großflächige
Propagandatafeln, LKW’s mit UNICEF- und
Rot-Kreuz-Emblemen, irgendwo wird ein
Zebrastreifen auf die Straße gepinselt.
Flüchtige Eindrücke voller Gegensätze —
Zusammenhänge erschließen sich nicht.
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Es wird noch Tage dauern, bis sich die
Eindrücke ordnen, Verständnis für das
widersprüchliche Leben in dieser kaputten Stadt
allmählich wächst.
Gespräche im Hotel vermitteln Orientierung. Hier treffen
wir Leute, die geschickt wurden, dem Land zu helfen.
Gäste wie wir, aber schon vertraut mit den
Verhältnissen, Experten, die den ganzen Katalog der
fatalen Probleme Kampucheas abrufbereit im Kopf haben.
Ihr Job ist es, den Notstand beherrschbar zu machen. Das
Hotel "Samaki" ist ihr Quartier und ihre
Einsatzzentrale.
Es ist ein altes französisches Hotel, Holzgiebel, rote
Dachziegel, kleine Balkone mit Steinsäulen in der
Brüstung — innen viel dunkles Holz
Kolonialatmosphäre. Früher hieß es "Royal",
Luxusquartier für betuchte Ausländer...
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... in der Nähe stand die
katholische Kathedrale, von der gibt es heute
nicht einmal mehr ein Trümmerstück, stattdessen
nur noch ein leerer, öder Platz. In den Jahren
unter Pol Pot ist diese Kathedrale als Symbol
für das Eindringen und den Machtanspruch
europäischen Kolonialismus abgetragen worden bis
auf den letzten Stein. Das Hotel, wenige hundert
Meter entfernt, ist unversehrt geblieben. Eine
neue Sorte Ausländer ist jetzt hier eingezogen. |
Weil es das einzige Hotel mit
Küchenbetrieb in Phnom Penh ist, treffen sie sich hier
zu den Mahlzeiten, zum wöchentlichen
Koordinationsgespräch jeden Freitag. Die meisten wohnen
auch hier in den hohen Zimmern, mit Visitenkarten an den
Türen, mit Aufklebern der internationalen
Hilfsorganisationen: UNICEF, die Kinderhilfsorganisation
der Vereinten Nationen, World Food Programme, das
Welternährungsprogramm der UN, die Leute vom Komitee des
Internationalen Roten Kreuzes. Wenn abends der Strom
ausfällt, taste ich mich als Neuankömmling die
Holztreppen hinauf, muß aufpassen, daß ich in den
dunklen Korridoren nicht über Kisten stolpere,
irgendwelche Geräte, Medikamente, gerade mit einem
Flugzeug oder einem Schiff hereingekommen, vorübergehend
hier abgestellt.
Wenn die air-condition nicht läuft, stehen Fenster und
Türen offen, um die feuchten 40 Grad ein wenig in
Bewegung zu halten. Die Zimmer sind Schlafstätte und
Büro zugleich Spezialkarten an den Wänden, farbige
Statistiken, Tabellen über Transportbewegungen. Wie ist
das Monat um Monat auszuhalten? Einer schleppt jeden
Morgen eine ganze Batterie mitgebrachter
Marmeladengläser in den Frühstücksraum, nach einer
Woche Frühstück im "Samaki", bestehend aus
zwei Scheiben Weißbrot mit zwei harten Butterklecksen
mal mit Salz, mal mit Zucker bestreut, wissen wir den
Luxus zu erkennen, würden gern ‘mal teilhaben, aber
soweit geht die Solidarität nicht.
Ein anderer hat sich klammheimlich unten in der Bar ein
Bier-Depot angelegt, vorweg bezahlt. Er hat abends immer
noch eine Flasche russischen Biers vor sich stehen, wenn
der offizielle Vorrat leergetrunken ist. Und einer ist
selten in der Bar, er entspannt sich allein hinter seiner
verschlossenen Zimmertür. Wenn er vom Schreibtisch zum
Bett wechselt, dann greift er zum Kopfhörer, wählt aus
seiner umfangreichen Kassettensammlung eine aus und hört
Barock-Musik.
Für die meisten ist es ein Job, viele Male schon in
anderen Teilen dieser sogenannten Dritten Welt
ausgeführt. Es war nicht der eigene Wunsch, nach
Kampuchea zu gehen, die Organisation hat es so bestimmt.
Bei einigen ist inzwischen persöniche Betroffenheit
hinzugekommen, für sie ist "Samaki" nicht mehr
bloß Name eines Hotels, das eine Zwischenstation in
ihrer internationalen Laufbahn markiert, Sprosse auch auf
ihrer persönlichen Karriere-Leiter, Solidarität ist zum
Inhalt ihres Jobs geworden.
Eines Abends geraten wir in das Sreitgespräch zweier
Experten. Malcolm Harper, Leiter der Delegation von
Oxfam, einer privaten britischen Hilfsorganisation, die
als erste aus dem Westen sich hier engagierte,
koordiniert die Arbeit der inzwischen über 30
Organisationen in Phnom Penh. Nach einem langen Tag
diskutiert er an der Bar mit einem ihm zugeteilten
westdeutschen Experten dessen erste Eindrücke nach
vierzehntägigem Aufenthalt, und er gerät über dessen
arrogante Art, die vorgefundenen Problemstellungen mit
der Distanz eines Technokraten zu diagnostizieren, in
Rage: Was wir jetzt brauchen, sind keine Pläne für ein
technisch perfektes Entwicklungsprogramm, Elektrizität
bis ins letzte Dorf, sagt Malcolm Harper. Mein Gott, die
Leute hier verhungern. Ich habe ein Kind sterben sehen so
alt wie mein Sohn. Ich wollte dieses Kind fotografieren,
ich konnte es nicht, ich habe geweint. Was wir hier
durchzuführen haben, ist das absolute Notprogramm!
Uns interessiert, wie es dazu gekommen ist, daß Oxfam
hier als erste Hilfsorganisation zur Stelle war. Malcolm
Harper berichtet: "Wir hatten schon kleinere
Hilfsprojekte hier vor dem April 1975. Und als wir die
schrecklichen Geschichten hörten über das, was hier
passiert war, also nach der Machtübernahme des Pol
Pot-Regimes, haben wir uns gleich nach der Befreiung des
Landes im Frühjahr 1979 mit den vietnamesischen
Botschaften in London und in Paris in Verbindung gesetzt
und uns erkundigt, wie wir mit der neuen Regierung ins
Gespräch kommen könnten, um zu erfahren, wie die
Situation ist und welche Hilfe gebraucht wird.
Im August konnte dann einer meiner Kollegen für zehn
Tage nach Phnom Penh reisen. Er hat sich einen Überblick
verschafft und es wurde ihm gesagt, daß unsere Hilfe
willkommen sei.
Im September haben dann drei Leute hier mit der Arbeit
begonnen. Im Oktober wurde ein Vertrag mit der Regierung
Kampucheas unterzeichnet, das war die Gründung eines
Konsortiums von Hilfsorganisationen. Sie wissen, ich bin
jetzt Leiter eines Teams, dem 32 nicht
regierungsabhängige Agenturen angehören. Wir haben
seitdem auf verschiedenen Gebieten Programme entwickelt,
Landwirtschaft, Gesundheit, und so weiter, um den
Menschen zu helfen."
"Ich heiße Niels Ohlsen und bin als Mitarbeiter
einer dänischen Organisation angestellt vom
Welt-Luther-Bund und dem Oxfam-Team hier in Phnom Penh
zugeordnet. Ich bin Landwirtschaftsexperte und habe
hauptsächlich in Afrika gearbeitet. Mit tropischen
Anbaukulturen habe ich mich ungefähr seit sechs Jahren
beschäftigt."
"Was meinen Sie, warum das hier so langsam
vorangeht, und was meinen Sie, ist der Grund für die
Riesenprobleme bei der Verteilung der Hilfsgüter?"
"Da muß ich beginnen mit meiner Ankunft hier im
vergangenen Dezember. Das Landwirtschaftsministerium, mit
dem ich hauptsächlich zu tun habe, hatte damals ganze
zwölf Mitarbeiter. Für diese zwöf gab es nur acht
Stühle, kaum Schreibtische, keine Bleistifte, kein
Papier — überhaupt alle Unterlagen jeglicher
Verwaltung fehlten! Das heißt also, daß man ganz aus
dem Nichts wieder neu anfangen mußte. Und da 95 Prozent
der Leute hier in der Landwirtschaft arbeiten und leben,
ist das eine ungeheure Schwierigkeit. Und ich meine, der
Minister hat eine beachtliche Arbeit geleistet,
überhaupt erst einmal herauszufinden, wieviele Menschen
in den Provinzen leben, wieviel Reissaat sie brauchen
usw.
Also ich kann sehr gut begreifen, warum sie hier so
langsam vorankommen."…
… Während wir mit den Experten aus dem
"Samaki"-Hotel reden, gelegentlich auch
unterwegs sind mit ihnen — im Hafen, am Flughafen,
in Büros kambodschanischer Ministerien, während wir
eingeladen werden zu politischen Feiern und privaten
Festen, und uns dauernd im Dunstkreis von westlichen
Fachleuten und kambodschanischen Funktionären bewegen,
wächst unser Unbehagen über unsere Unfähigkeit, jene
Menschen zu treffen, deren Geschichte wir doch erzählen
wollen. Die Informationsabteilung des Außenministeriums
bereitet für uns eine große Rundreise vor: Siem Reap
— rund um den Tonle Sap-See, Battambang, Angkor Wat,
alles Plätze, die wir schon gerne sehen wollen, aber
werden wir dort irgendwo den Alltag einer einfachen
kambodschanischen Familie kennenlernen können?
Die Zehn vom Floß
Eines Abends
haben wir gerade Tonaufnahmen am Ufer des Mekong
beendet, dort, wo der Tonle Sap-Fluß einmündet,
auf der Höhe des königlichen Palastes. Wir
sitzen auf den Stufen des steilen Uferhanges,
unten hat ein Bambusfloß festgemacht. Unter
einem halbrunden Dach aus Palmblättern hocken
Menschen in der Abenddämmerung. Wir steigen zu
ihnen hinab, unsere Dolmetscherin folgt uns. |
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Über einen Holzsteg dürfen wir an
Bord kommen. Es sind zehn Personen — eine große
Familie, denken wir. Seit zwei Tagen liegen sie hier mit
ihrem Floß, erfahren wir durch die Dolmetscherin, und
daß sie bis 1975, bis zur Vertreibung aller Bewohner
Phnom Penhs durch die Pol Pot-Truppen, in dieser Stadt
gelebt haben.
Wir versuchen, unsere Neugier zu erklären, versuchen ins
Gespräch zu kommen, und haben doch das Gefühl, zu
stören. Ein alter Mann hat sich von seiner Matte hinten
unter dem Dach erhoben und zu uns gesetzt, er fängt an,
zu erzählen:
"Im Rundfunk habe ich gehört, daß jeder nach Hause
zurückkehren konnte. Ich wollte auch gehen, aber wir
hatten keinen Reis, wir mußten erst welchen anpflanzen.
Dort, wo wir waren, in das Dorf kommen bis heute noch Pol
Pot-Truppen und verlangen Essen und Verpflegung. Sie
verlangen auch Steuern. Das ist ungefähr 15 Kilometer
von der Stadt Kratie entfernt, auf der anderen Uferseite.
Wir wollten zurück nach Phnom Penh, aber wir hatten
keine Möglichkeit, kein Geld. Da haben wir bei den
Leuten im Dorf um Bambus gebeten und dann dieses Floß
gebaut. In dieser Gegend haben viele Flößegebaut, wir
waren unter den letzten. Zusammen mit dem Sammeln des
Bambus hat es vier Wochen gedauert, bis das Floß fertig
war. Wir hatten noch etwa fünfzig Kilo Reis. Die Fahrt
hat dann noch ‘mal einen Monat gedauert.
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Wir hatten ein Dokument von
den Dorfbehörden, unterwegs gab es auf dem Fluß
öfter Kontrollen. Da wurde in die Luft
geschossen, damit wir anhalten. Aber wie kann man
mit einem Floß anhalten? Da war zum Glück ein
Boot, an dem wir festmachen konnten, und dort
konnten wir unsere Papiere vorzeigen. Und immer
mußte jemand am Ruder stehen, Tag und Nacht, die
Erwachsenen und auch die Kinder.
Als wir nach Phnom Penh zurückkamen, war unser
altes Haus schon belegt. Ich hoffe, daß das
Volkskomitee uns jetzt hilft, ein Haus zu finden
und auch Arbeit für die Kinder!" |
Wir möchten wissen, wie das
funktioniert hat, daß heute schon wieder ungefähr 300
000 Menschen in der Hauptstadt leben. Am nächsten Morgen
treffen wir wieder Malcolm Harper, den Mann von Oxfam,
der die Anfänge der Wiederbesiedlung Phnom Penhs
miterlebt hat:
"In den ersten Tagen konnte man nur in die Stadt,
wenn man irgendeine Beschäftigung hatte. Bei Kilometer
7, am Rande der Stadt, war eine Art Wartelager, und wenn
man sich Arbeit organisieren konnte, wurde man in die
Stadt gelassen. Die Regierung besorgte dann die Zuteilung
der Wohnungen. Das System dabei war — wenn ich es
richtig verstanden habe — daß, wenn zum Beispiel
einer beim Gesundheitsministerium angestelt war, dann
konnte er in der Nähe dieses Ministeriums wohnen.
Ich glaube, seit Januar dieses Jahres ungefähr sind die
Kontrollen der Leute, die in die Stadt wollen, gelockert
oder fast eingestellt worden. Danach sind viele Leute in
die Stadt gekommen, die ihre früheren Wohnungen oder
Häuser aufgesucht haben, oder Freunde finden konnten,
bei denen sie unterkamen, oder sich eine verlassene
Wohnung in der Nähe genommen haben. Das war
unterschiedlich, viele Menschen erhielten ihre
Unterkünfte von der Regierung, aber später — also
seit einigen Monaten — gibt es so etwas wie eine
Chance für alle bei der Wohnungssuche."
"Wissen Sie, wie das auf dem Land aussieht, in den
kleineren Städten und Dörfern?"
"Das scheint unterschiedlich zu sein. Ich war vor
einem Monat in Kompot, und da gibt es eine sehr strenge
Kontrolle beim Zugang in die Stadt. Man muß tatsächlich
bei der Regierung beschäftigt sein, wenn man mit der
Familie nach Kompot will und dort leben möchte. Auf dem
Land sind viele Menschen in ihre früheren Dörfer
zurückgekehrt, sie waren ja vom Pol Potzwangsweise
umgesiedelt worden. Und wenn ihre Häuser bei der
Rückkehr zerstört waren, haben sie sich neue -Regime
gebaut.
In einigen Dörfern gibt es jetzt Arbeitskooperativen,
sogenannte Solidaritätsgruppen, in anderen — wo die
Entwicklung noch nicht so weit ist — arbeiten die
Bauern noch jeder für sich im Dorf.
Es scheint derzeit also keine klare Linie zu geben. Die
Situation ist von Stadt zu Stadt verschieden, und von
Dorf zu Dorf.
Aber lange Zeit hat die Regierung den Rückstrom in die
Städte tatsächlich unter Kontrolle halten wollen., und
zwar auch wegen der riesigen Gesundheitsgefahren. Sie
haben ja sicher den Abfall gesehen, der noch überall in
Phnom Penh herumliegt. Wenn man in dieser Situation
unkontrolliert Menschen in die Stadt hereinläßt,
schafft man erhebliche gesundheitliche Risiken und auch
andere Probleme."
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Am selben Tag haben wir uns
entschlossen, die Rundreisepläne fallen zu
lassen. Wir wollen die Geschichte dieser zehn
Menschen auf dem Floß erfahren.
Als wir das zweite Mal zu ihnen kommen, ist aus
ihrer schwachen Hoffnung Verzweiflung geworden:
Sie sollen in den nächsten Tagen ihren
Liegeplatz verlassen, keine Chance, noch in die
Stadt hineinzukommen. |
Wir treffen die Frau des alten Mannes
und fragen sie, was sie unternommen hat: "Ich war
schon ‘mal dort bei der Behörde, aber ich habe den
Mann nicht getroffen. Dann war ich zusammen mit meiner
Tochter in einer leeren Wohnung, die haben wir schon
saubergemacht. Aber dann hat man uns gesagt: Es geht doch
nicht, die Wohnung wäre schon vorbereitet für
Angestellte eines Ministeriums. Jetzt weiß ich nicht
mehr, wohin wir noch gehen sollen… (sie schluchzt)
Der Mann hat mir gesagt, ich soll zurück aufs Land gehen
und Reis anpflanzen… Aber ich weiß doch nicht,
wohin…
Während der Pol Pot-Zeit hat man gesagt, nur wer
arbeitet, kriegt was zu essen, wer nicht arbeitet,
braucht nichts zu essen. Meine Kinder haben in diesen
Jahren auch gearbeitet, und bei der Reisverteilung haben
sie nur den halben Anteil bekommen! … Wir sind hier,
um Arbeit zu suchen, etwas, was meine Kinder tun
können…"
Sie haben noch einen halben Sack Reis. Hinten auf dem
Floß hockt immer einer der Söhne mit einer Angel. Fisch
und Reis kochen sie auf einer Feuerstelle auf dem Heck
unter offenem Himmel — eine Kiste mit Sand, einige
große Steine, ein Blech als Windschutz. Feuerholz ist an
beiden Seiten des Floßes aufgestapelt, mitgebracht von
unterwegs, ein kleiner Reichtum. Manchmal verkaufen sie
ein paar Scheite oben hinter dem hohen Ufer, dann haben
sie ein bißchen Geld für Gemüse. Dieses hohe Ufer ist
wie ein hoher Wall, den sie nicht überwinden können, um
endlich wieder in die Stadt zu kommen. Sie versuchen es
immer wieder. An einem Nachmittag begleiten wir zwei der
Frauen vom Floß. Auf dem Kopf tragen sie Körbe mit
gepreßtem Tabak, der zweite kleine Reichtum —
mitgebracht aus dem Ort, wohin sie vertrieben waren.
Sie machen
sich auf den Weg zum Markt, dieser Markt von
Phnom Penh, auf dem schon wieder fast alles zu
kaufen ist, bunte T-Shirts und fette Nudelsuppen,
geschmuggelte Waren aus Thailand und Früchte aus
der Provinz. Dazwischen hocken sie sich, und
sicherlich macht es unsere Anwesenheit, die
Anwesenheit zweier Europäer mit all ihrem
technischen Aufnahmegerät, daß sich rasch
Menschen ansammeln, auch Kunden, sogar
Großhändler, wie sich herausstelt. Einer dreht
sich vom Tabak eine Probezigarette, dann kauft er
das gesamte Angebot — auf einen Schlag, und
ein Geldbündel wechselt den Besizer.
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Und am nächsten Morgen ist
wieder ein klein bißchen Hoffnung gewachsen:
Oberhalb des Floßes auf dem hohen Ufer haben sie
im Schatten einer Kokospalme einen kleinen Stand
aufgebaut, ein alter Schreibtisch aus einem
Trümmerhaus, darauf in Körben Melonen, Mangos,
Ananas, Früchte zum Verkauf, besorgt für das
neue Geld bei einem der vielen Bauern, die
morgens mit Ochsenkarren übrer die einzige
Mekong-Brücke vom Land hereinkommen.
Ist das das erste Stück vom wiederaufgenommenen
Lebensfaden? |
Die alte Frau vom Floß erzählt:
"Ich bin in Phnom Penh zu Hause und habe früher auf
dem Markt als Gemüseverkäuferin gearbeitet. Mein Sohn
hat damals hier sein Abitur gemacht. Ich habe außerdem
zwei Töchter, die eine ist in Batambang verheiratet, die
andere hat in Phnom Penh bei der Post gearbeitet. Sie war
während der Pol Pot-Zeit bei mir und der Familie,
getrennt von ihrem Mann. Der ist Betriebsleiter und war
während der Pol Pot-Zeit bei seinen Eltern in Pursat.
Als wir Phnom Penh verlassen mußten im April 1975, waren
viele aus der Familie auf dem Marsch dabei, ich glaube,
wir waren zwanzig, mein Schwiegersohn auch, eine Nichte
und ein Neffe, der bei der Militärpolizei war.
Einen Monat lang sind wir von Phnom Penh bis nach Kratie
zu Fuß unterwegs gewesen. Als wir in Speu ankamen, in
der Provinz Kompong Tscham, kamen Pol Pot-Soldaten und
wollten wissen, wer von uns beim Staat gearbeitet hätte.
Die Leute würden gebraucht, sie müßten zurück.
Wir haben gar nicht erst versucht, uns herauszureden.
Mein Neffe gab gleich zu, er sei von der Militärpolizei.
Und meine Tochter sagte, daß sie bei der Post gearbeitet
hat. Beide bleiben hier, wurde erklärt, die anderen
gehen weiter.
Meine Mutter, die schon achtzig ist, hat das auch alles
mitbekommen. Sie konnte nicht mehr, die Füße wollten
nicht. Wir mußten sie in Speu zurücklassen, die Tochter
blieb bei ihr. Wir anderen mußten weiterlaufen.
Die Verpflegung mußten wir uns unterwegs irgendwie
organisieren. Das Essen war miserabel, meistens nur eine
dünne Suppe mit Reis. Zu trinken hatten wir auch nichts.
Das kleine Kind meiner Tochter aus Battambang wurde jeden
Tag schwächer. Es bekam Fieber und ist dann gestorben.
Was soll ich Ihnen noch erzählen?
Irgendwann haben wir dann an einer Stelle übernachtet
unter Bäumen — da verlangten die Pol Pot-Soldaten
am anderen Morgen, wir sollten unsere Sachen da liegen
lassen, die würden uns später gebracht, wir könnten
jetzt mit Ochsenkarren weiterfahren. Wir waren aber
mißtrauisch und wollten uns nicht darauf einlassen. Das
haben wir denen auch gesagt, daß wir uns weigern,
mehrfach. Aber die blieben hart. Meine Tochter hat dann
noch versucht, ein paar Sachen an sich zu nehmen. Dann
wurden wir alle mit dem Fuhrwerk weitergeschafft.
Mein Sohn wurde krank, er war sehr erschöpft, wir hatten
keine Medizin… Er ist gestorben.
Sie brachten uns in ein Dorf an der Grenze der Provinz
Totonakri. Wir wurden sofort eingeteilt zur Arbeit an
einem Wasserkanal. Die Kinder kamen in eine mobile
Brigade und wurden losgeschickt. Die hatten immer
woanders zu arbeiten und waren meist weg. Die älteren
Leute blieben im Dorf. Die Arbeit ist uns sehr schwer
geworden. Wir hatte ja auch nicht genug zu essen.
Für meine
Familie, wir waren noch zehn Personen, gab es zu
jeder Mahlzeit so eine Milchbüchse voll Reis,
das war ungefähr ein halbes Pfund für alle
zehn!
Wir haben uns dann immer grüne Bananen besorgt
und in den Reis gekocht.
Viele waren krank. Mein Mann auch. Die Kinder
haben wir nur alle drei oder vier Monate einmal
gesehen. Sie waren dann für einen Tag im Dorf.
Am nächsten Tag mußten sie wieder los.
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Wir mußten nicht nur am Tag arbeiten,
auch einige Stunden in der Nacht. Sie schickten uns immer
wieder auf die Reisfelder. Wir mußten kämpfen, um
überhaupt weiter leben zu können. Hier, mein Junge, der
hat sich gequält bei der Arbeit, der mußte schuften.
Irgendwann hat er sich den Arm gebrochen. Jetzt hat er
nicht mehr viel Kraft in dem Arm, kann ihn nicht mehr so
gebrauchen wie früher. Als er krank wurde, haben die
Aufpasser von Pol Pot geagt, er soll nicht so tun, als ob
er krank wäre, er soll mal kräftig arbeiten, sonst
gäbe es nichts zu essen.
Mein anderer Sohn, der konnte schreiben, der konnte sogar
etwas Englisch und Französisch. Den haben die Pol
Pot-Leute in die Verwaltung geholt. Der sollte ihnen bei
der Verteilung helfen im Dorf. Dabei hat er natürlich
immer genau gesehen, daß die Leute im Dorf zu wenig zu
essen bekamen. Und deshalb hat er angefangen, heimlich
mehr zu geben. Als das herauskam, haben sie behauptet, er
wäre ein Agent. Er sei vom CIA oder KGB. Und da war es
aus für ihn. Sie haben ihn mit elektrischem Strom
gequält und gefoltert. Immer wieder wurde er geschlagen.
Am Ende haben sie ihn eingegraben, lebendig in der Erde
eingegraben. Er war 22 Jahre alt…
Mein Sohn war ein aufrichtiger Junge, er hatte Mitgefühl
mit den Menschen, er hat ihnen geholfen. Deshalb ist
meine Trauer nicht so schwer. Ich weiß ja, daß er
vorbildlich gehandelt hat.
Als das alles passierte, war ich auf einer Arbeitsstelle
weiter weg vom Dorf. Als ich hörte, daß sie meinen Sohn
bestrafen wollten, wollte ich von der Arbeit weg. Ich
habe gesagt, sie sollen mich zu meinem Sohn lassen, ich
wollte ihn sehen. Das wurde mir verboten. Da habe ich
gesagt, wenn sie mich nicht lassen, werde ich mich
umbringen. Da haben sie nachgegeben. Ich durfte gehen. Im
Dorf habe ich die Leute gefragt, wo mein Sohn ist. Einige
wußten, was passiert war und haben mir alles erzählt.
Weinen durfte ich da nicht, weil nicht alle wissen
durften, daß er aus unserer Familie war!
Zwei Jahre später habe ich erfahren, daß meine Mutter
noch lebte, die war schon über achtzig, und meine
Tochter war noch bei ihr mit ihrem Kind. Ich habe alle
drei auch in unser Dorf geholt. Die Pol Pot-Leute haben
aber erklärt, daß sie nicht bleiben dürfen. Sie haben
befohlen, daß sie woanders hin müssen. Sie wurden dann
in eine Kautschuk-Plantage gebracht. Wir haben nichts
mehr von ihnen gehört. Später habe ich erfahren, daß
sie nicht mehr leben."
Es ist Nacht, auf dem Floß brennt nur eine Fackel. Wir
haben die Dunkelheit für diesen Versuch gewählt, das
Schicksal der Zehn zu erfahren. Wir wissen jetzt, daß es
nicht die Überlebenden einer großen Familie sind —
es sind die Reste von drei Familien.
Es entwickelt sich kein Gespräch, es sind Monologe, ab
und zu durch Erinnerungen eines anderen aus dem Kreis um
uns ergänzt. Der alte Mann und die Gemüsefrau, beide
verwitwet, heirateten 1965. Er brachte seinen heute 34
Jahre alten Sohn in die Ehe, dessen Frau hat am Morgen
auf dem Markt eine Tante getroffen und von ihr erfahren,
daß ihre Eltern tot sind. Sie ist mit der Tante
mitgegangen, um mehr zu erfahren über ihre Angehörigen
— wir treffen sie erst am Ende unseres Aufenthaltes
wieder.
Von der Marktfrau sind noch vier halberwachsene Kinder
auf dem Floß — drei Jungs und ein Mädchen. Und
dann lebt hier noch eine Mutter mit ihrer kleinen
Tochter, die auch aus Phnom Penh stammt, die anderen acht
aber erst beim Floßbau kennengelernt hat.
Das sind zehn von vier Millionen Menschen, die die Pol
Pot-Zeit überlebt haben, und den Krieg, der das Land
zuvor schon zum Opfer fremder Interessen gemacht hatte.
"Ich glaube, Kampuchea ist das klassische Beispiel
eines Landes, das in den letzten zehn Jahren Spielball in
einem großen Machtkampf gewesen ist."
Malcolm Harper hat sich täglich mit der
Hinterlassenschaft dieser Großmachtpolitik
auseinanderzusetzen. Er hat sich Gedanken gemacht, und er
hat eine politische Meinung:
"Zuerst unter Sihanuk, da gab es den französischen
Einfluß. Sihanuk hat dann versucht, eine Neutralität
aufzubauen. Und dann war da die amerikanische
Intervention nach dem Staatsstreich von 1970. Unter Pol
Pot schließlich gab es den chinesischen Einfluß, und
jetzt haben wir den Einfluß des Sowjetblocks.
Ich glaube, Kampuchea hat jetzt mehr Aussicht auf Frieden
als es jemals in den zehn Jahren der Fall war.
Mir liegt daran, zu sagen, daß die Regierungen der Welt
die jetzige Regierung von Kampuchea anerkennen sollten
und auf diese Weise den Menschen helfen sollten, die so
unglaublich gelitten haben, damit sie eine Chance haben,
sich wieder Bedingungen zu schaffen, die das Leben in
diesem Land erträglich machen. Im Augenblick kann man
hier eigentlich gar nicht leben, Mangel in jeder
Hinsicht, und die Menschen auf der Suche nach einer
Perspektive, um wieder in ihren Dörfern leben zu
können."
Die junge Frau vom Floß erzählt:
"Mein Mann war bei mir, als die Pol Pot-Leute kamen.
Sie sagten, wir müßten raus aus der Stadt, für
ungefähr drei Tage. Wir wollten nicht gehen. Da hat der
eine seine Pistole gezogen, damit gedroht und gesagt:
Dann müßt ihr hierbleiben! Wir haben Angst gehabt, daß
er uns erschießt und sind gegangen.
Wir waren unterwegs mit unseren drei Kindern und noch
einem Baby. Mein Bruder war auch dabei. In einem Vorort
von Phnom Penh wollten wir übernachten, aber die Pol
Pot-Leute haben gesagt, wir dürfen da nicht bleiben, wir
sollten immer weitergehen.
An einer anderen Stelle wollte ich Reis kochen für die
Kinder, aber sie haben uns weitergetrieben. Wir kamen in
die Berge von Tuol Kong in der Provinz Kratie. Am ersten
Tag hatte jeder 250 Grammm Reis bekommen, am nächsten
Tag war es nur noch die Hälfte, später haben wir für
uns sechs insgesamt nur noch 250 Gramm Reis erhalten. Das
war nicht genug — wir mußten ihn mit viel Wasser
kochen.
Mein Mann arbeitete im Wald, er mußte Holz hacken. Eines
Tages bekam er starke Kopfschmerzen. Er blieb fünf Tage
weg von der Arbeit. Da kam eine Krankenpflegerin von den
Pol Pot-Leuten und fragte, was er hätte. Er sagte, ich
habe Kopfschmerzen. Sie gab ihm eine Spritze. Danach
konnte er nicht mehr sprechen, es ging ihm schlechter
— und ein paar Stunden später starb er …
Meine Kinder hatten nichts zu essen. Ihre Körper waren
aufgeschwollen durch den Nahrungsmangel. Sie mußten zu
Hause bleiben, während ich arbeitete. Eines Tages kam
ich zurück —da waren die beiden Mädchen tot …
Mein Bruder heißt Ji, er war 16 Jahe alt, und er wurde
wegen Nahrungsmangel von Tag zu Tag schwächer,
schließlich starb auch er …
Ich habe jetzt noch keine Verwandten wiedergetroffen,
auch nicht von meinem Mann. Ich war bei unserem früheren
Haus, aber auch da habe ich keine Bekannten getroffen.
Meine Eltern sind tot. Ich möchte jetzt hier Arbeit
finden, irgendetwas — ich kann nähen, ich muß
etwas verdienen, um meine Tochter weiter zu
ernähren."
Ihr Kind haben wir selten lachen sehen, nur einmal war es
ausgelassen, als es sich am Rand des Floßes kübelweise
Wasser üKopf und Körper goß. Einmal ließen wir die
Dolmetscherin fragen, ob die Kleine ein Lied für uns
singen würde — für ber unser Tonbandgerät. Sie
kann nicht singen, ließ uns die Mutter übersetzten, sie
hat es nie gelernt, aber wenn wir wollten — sie kein
Lied lernen … Wir haben nie eins gehört von diesem
kleinen Mädchen, das die meiste Zeit im Schatten des
önnte Palmblattdaches liegt, kraftlos — krank.
Wir sprechen abends im Hotel mit den Leuten von Oxfam,
erzählen von den Zehn auf dem Floß, und am nächsten
Morgen kommt Dr. Nick Maurice mit uns, untersucht die
Erwachsenen, die Kinder, stellt fest, daß fast alle
unter Malaria leiden, der alte Mann möglicherweise unter
Tuberkolose. Alte Infektionen sind nicht ausgeheilt,
Hakenwürmer machen ihnen zu schaffen. Er kann nur ein
paar Pillen dalassen — in Europa wäre das alles
kein Problem, sagt er. Blutuntersuchungen wären nötig,
aber hier — ? Malcolm Harper faßt die Lage
zusammen:
"Es gibt viele Krankheiten jetzt in Kampuchea,
kleine Kinder sind besonders gefährdet. Die
Ernährungslage ist von Familie zu Familie
unterschiedlich. Die jüngste Übersicht in Phnom Penh
hat ergeben, daß 15 Prozent der Kinder zwischen ein und
fünf Jahren in dieser Stadt unterernährt sind. Die
Folge ist bekannt — unterernährte Kinder sind für
Krankheiten sehr anfällig, und die ganz Schwachen haben
dann nicht genug Widerstandskraft, um das zu überleben.
Ganz allgemein muß man feststellen, daß in Kampuchea
gegenwärtig Malaria, Befall durch Hakenwürmer und
Blutarmut sehr weit verbreitet sind. 70 Prozent der
Menschen leiden unter diesen Krankheiten, vielleicht
sogar mehr.
Die entscheidende Aufgabe ist, den Khmer dabei zu helfen,
daß sie mehr über die Ernährung wissen und über die
Voraussetzung für die Gesundheit der Kinder. In einer
Situation wie der jetzigen hier in Kampuchea ist Nahrung
die grundlegende Medizin. In Zusammenarbeit mit dem
Gesundheitsministerium haben wir angefangen, eine kleine
Gruppe von sogenannten Aktivisten auszubilden. Die haben
dann eine Stichprobenuntersuchung über den
Ernährungszustand der Kinder gemacht und herausgefunden,
daß 50 Prozent unterernährt und weitere 25 Prozent
unzureichend ernährt sind. Wir wollen jetzt mit dem
Gesundheitsministerium ein Ernährungszentrum in Phnom
Penh einrichten, wo Trockenmilch, Zucker und Öl
vermischt zur Stärkung unterernährter Kinder angeboten
werden."
Unsere Anwesenheit auf dem Floß soll unsere Gastgeber
nicht irritieren. Das haben wir ihnen klarzumachen
versucht.
"Teilnehmende Beobachtung" auf dem
Mekong-Wasser, denke ich, Soziologie-Seminare tauchen in
der Erinnerung auf. Von Kambodscha wußte ich damals
nichts. Das war lange, bevor Johnson seinen GI’s den
Befehl zum Einmarsch nach Kambodscha gab. Mekong —
das war nur eine Vokabel aus dem Vietnam-Krieg.
Nachrichten-Sprache: Die amerikanische Luftwaffe hat
kommunistische Widerstandsnester im Mekong-Delta
bombardiert.
Unsere teilnehmende Beobachtung wird akzeptiert. Wir
haben wirklich den Eindruck, daß sie uns nicht beachten.
Wenn nach einer längeren Zeit eine gastfreundliche Geste
kommt, dann ist das keine Inszenierung. Jemand hat von
einem Bogen Reispapier ein Stück abgerissen, um sich
eine Zigarette zu drehen. Das Papier wird weitergereicht,
auch uns. Später schöpfen sie Wasser aus dem Fluß. Im
großen Topf wird abgekocht. Vom Markt sind einige
Eisstücke besorgt worden. Die Schale mit dem gekühlten
Wasser geht von Hand zu Hand. Sie erreicht auch uns. Wir
trinken Wasser aus diesem Fluß. Bilder aus der
Tagesschau fallen mir ein, und nehme trotzdem einen
vorsichtigen Schluck. Auf dem Mekong trieben Leichen,
Hunderte, Tausende. Im Fernsehen enthielt der
Sprechertext Mutmaßungen über Massaker der Pol
Pot-Regierung.
Heute ist Kampuchea das am meisten verseuchte Land der
Welt, auch eine Nachricht, die mir durch den Kopf geht,
sie stammt wohl von der Weltgesundheitsorganisation. Wir
trinken Wasser aus dem Mekong.
Genau an der Uferstelle oberhalb des Floßes beobachten
wir in den nächsten Tagen Männer mit Hacken und Spaten.
Aber sie räumen nicht auf, sie graben sich immer tiefer
in den Boden. Es dauert eine Weile, bis wir herausfinden,
was da los ist.
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Auf der Höhe des
Königspalastes seien in den ersten Wochen nach
der Machtübernahme durch Pol Pot-Soldaten im
Frühjahr 1975 ganze Ladungen von Gold- und
Silbergegenständen, von Edelsteinen aus den
Wohnungen reicher Einwohner Phnom Penhs hier in
den Fluß gekippt worden. Das erzählt man uns,
aber wir glauben es erst, als eines Morgens der
Sohn des alten Mannes vom Floß uns fünfzig
Meter entfernt eine Stelle zeigt, an der er einen
Diamanten zwischen den Steinen fand. Jetzt trägt
er ihn im Mund unter der Zunge. |
Einige Tage später sind zwei weitere
Edelsteine dazugekommen, und eine kleine silberne Schale
hat er gefunden. Die wird mit Asche geputzt und geht von
Hand zu Hand, eine kleine silberne Schale, die zusammen
mit großen Mengen Gold und Silber aus Privatbesitz als
Ausdruck von — ja was? Von Dekadenz? Von
verwerflichem Materialismus? —vernichtet werden
sollte, während oben im königlichen Palast nichts
angerührt wurde, nicht einmal die dicken Silberplatten,
die den Boden so groß wie zwei Tennisfelder in einem der
vielen Tempel bedecken.
Aber nicht
das weggeworfene Gold im Schlamm macht uns zu
schaffen — es irritiert uns nur. Aus dem
Boden Kampucheas werden kostbare und schreckliche
Funde freigelegt, an immer mehr Plätzen im
Lande, auf einem großen Feld am Stadtrand Phnom
Penhs zum Beispiel — Gebeine von
Hunderttausenden Opfern des Po Pot-Regimes.
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An diesem Abend berichtet der Sohn des
alten Mannes vom Floß:
"Ich habe damals nicht geglaubt, daß die Pol
Pot-Leute soviele Menschen umbringen. Einmal in der Nacht
habe ich auch wieder im Reisfeld gearbeitet zusammen mit
anderen Leuten aus Phnom Penh. Wir haben auf die Leute
aus dem Dorf gewartet, die uns ablösen sollten, aber
niemand kam. Als wir ins Dorf zurückkamen, erfuhren wir,
daß die Pol Pot-Leute gesagt hatten: Die Menschen aus
Phnom Penh, die Neuen — die müssen alle weg, die
müssen getötet werden.
Ich bekam andere Aufgaben zugeteilt, auf dem Gemüsefeld
arbeiten, im Wald auf die Wasserbüffel aufpassen —
zehn Tage später kamen die vietnamesischen Truppen. Das
war in der Nacht zum 1. Januar 1979 in Kratie.
Der Dorfchef der Po Pot-Leute befahl alle Bewohner in den
Wald. Dort gab es nur dünne Suppe zu essen, obwohl viel
Reis vorhanden war. Bewaffnete Pol Pot-Soldaten
versuchten, die Menschen im Wald zusammenzutreiben. Wir
wußten, daß sie uns jetzt töten wollten. Deshalb
lösten wir uns in kleine Gruppen auf, und es gab auch
ein paar, die sagten: Wir müssen gegen die Po Pot-Leute
kämpfen. Die hatten aber schon Angst bekommen und sind
weggerannt. Wir sind aus dem Wald wieder ins Dorf
gegangen.
Leute, die aus Phnom Penh waren, machten sich dann auf
den Weg nach Hause."
Fast zwei Wochen sind nun vergangen — die ersten
schweren Regenfälle künden nachts den kommenden Monsun
an.
Wir kommen morgens zum Floß, wir finden die Zehn
frierend , durchnäßt, noch mehr ermattet. Wir haben
inzwischen einen Kambodschaner gefunden, der uns bei der
Übersetzung besser helfen kann. Victor spricht deutsch,
er ist verheiratet mit einer Deutschen, die früher an
der DDR-Botschaft arbeitete. Sie konnte 1975 mit dem
übrigen Botschaftspersonal das Land verlassen. Victor
mußte vier Jahre lang vor den Po Pot-Leuten verbergen,
daß er eine fremde Sprache spricht — so überlebte
er in einer Arbeitskolonne auf dem Lande.
Geduldig hat er unsere Fragen übersetzt, jetzt ist der
Zeitpunkt, wo er selber wissen will, wie es weiter gehen
soll. Er spricht mit der alten Frau vom Floß: "Ich
habe sie gefragt, ob sie noch etwas wünscht."
"Mein größter Wunsch ist, daß wir eine Wohnung
bekommen und daß meine Kinder Abeit finden."
"Und wie wollt ihr euch bis dahin über Wasser
halten?"
"Bis dahin verkaufen wir den Rest unseres Tabaks und
das Bambusholz vom Floß."
"Was passiert, wenn das zu Ende ist und weder
Wohnung noch Arbeit gefunden sind?"
"Ich weiß nicht, was wir noch machen können!…
Nur die Regierung kann uns helfen… und wenn die uns
nicht hilft, dann müssen wir sterben! Dann verhungern
wir!"
Für uns ist der Moment gekommen, die journalistische
Distanz aufzugeben. Es wird uns unmöglich, nur noch zu
fragen — es gibt keine Fragen mehr! Einpacken jetzt?
Abreisen? Die durch das Visum begrenzte Dauer unseres
Aufenthaltes ist zu Ende.
Wir haben am ersten Tag des Tetsie -Festes, des
kambodschanischen Neujahrsfestes, eine Melone gekauft und
eine Ananas — als kleines Geschenk mitgebracht. Als
wir am Nachmittag zum Floß zurückkehren, beobachten wir
vom hohen Ufer eine Szene, die uns nicht mehr aus dem
Kopf geht: Auf dem Vorderteil des Floßes ist ein kleiner
Altar aufgebaut, gerade kniet die junge Mutter davor,
zündet einige Räucherstäbchen an, verbeugt sich
dreimal vor diesem ärmlichen Aufbau ihrer Dankesgaben.
Auf einem Blechteller in der Mitte liegen unsere Ananas
und unsere Melone!
Wir haben angefangen, über die zehn Menschen auf dem
Floß nicht mehr bloß mit den europäischen Experten im
Hotel "Samaki" zu reden. Der Chef der
Presseabteilung im Außenministerium hat längst
eingesehen, daß wir auf seine Rundreisepläne
verzichten, hat uns machen lassen, ohne nachzufragen, was
wir zwei Wochen lang da unten auf dem Floß zu bereden
hatten. Jetzt entschließen wir uns, einzugreifen, was zu
tun. Ein Gespräch abends in der Bar des
"Samaki", Samaki — das heißt
Solidarität!
Wir haben herausgefunden, daß neben der ehemaligen
Wohnung im alten Haus der Marktfrau-Familie eine andere
Wohnung leersteht. Chum Bun Rong, unser Kontaktmann im
Außenministerium, verlängert unsere Visa, beschafft die
Erlaubnis für den Bezug der Wohnung — zweifellos
hat er dabei im Auge, daß wir als Journalisten zu Hause
über das Entgegenkommen der Behörden berichten werden.
Für die Zehn auf dem Floß ist das an jenem Morgen egal,
an dem sie ihre Bündel packen, um endlich wieder ein
Zuhause zu beziehen. Aber wir müssen bald feststellen,
daß die Schwierigkeiten noch nicht zu Ende sind. Auf dem
Tonband halte ich die Szene fest: "Ja, schließlich
ist das neue Haus erreicht, die neue Wohnung soll bezogen
werden. Da stellt sich heraus, daß über Nacht eine
andere Familie in diese endlich gefundene neue Wohnung
eingezogen ist. — Und in diesem Augenblick ist hier
eine Konfrontation im Gange — was soll geschehen mit
der Familie, die soeben ihr Floß verlassen hat, die all
ihre Sachen mitgenommen hat? Was soll geschehen mit der
Familie, die über Nacht hier eingezogen ist? — Es
wird eine Diskussion werden, in die wohl oder übel das
Ministerium wird einbezogen werden müssen…"
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Chum Bun Rong wird alarmiert.
Ihm gelingt es, in wenigen Stunden eine zweite
Wohnung aufzutreiben — in einem Wohnblock
nahe dem Markt und einer Schule, ein Haus, in dem
sonst nur Lehrer-Familien wohnen. Es gibt eine
Diskussion mit den Hausbewohnern. Dann bringt
eine Frau eine Schale mit kühlem Wasser als
Willkommenstrunk — die Zehn vom Floß sind
akzeptiert.
Sie haben sich entschlossen, zusammenzubleiben
—der Raum ist nicht viel größer als ihr
Bambusfloß, eine kleine Küche ist dabei. |
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Was geschieht
mit dem Floß jetzt da unten am Ufer?
Eine Idee hat sich schon vor Tagen bei uns
festgesetzt: Wir wollen dieses Floß kaufen!
Wir haben darüber schon mit Malcolm Harper von
Oxfam gesprochen, er hat uns nicht ausgelacht. |
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Auch Chum Bun Rong lacht uns
nicht aus — er ebnet den Weg für den Gang
durch die Behörden. Kampexim, die staatliche
Import-, Export-Firma , ist zuständig für die
Verhandlungen. Oxfam streckt uns das Geld vor,
das wir der Behörde zahlen — sie wird
dafür eine neue Wohnung für jene herrichten,
die eigentlich den Raum der Floßleute beziehen
sollten — und wir tauschen einen
Dollarbetrag gegen Riel, die vor wenigen Wochen
neueingeführte Landeswährung, und gegen die
noch immer gültige Übergangswährung Dong.Das
Geld soll ein bißchen mithelfen beim Neuanfang
in dieser Stadt, die überraschend schnell zu den
alten Marktmechanismen zurückgefunden hat, zu
schnell und zu ungeregelt, als daß nicht schon
bald mit einem rigorosen Eingriff der staatlichen
Wirtschaftsplaner zu rechnen ist. Werden sich
dann die Zehn vom Floß in dieser neuen
Stadtgesellschaft zurechtfinden?
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...
Am Ende der dritten Woche in Phnom Penh.
Ich weiß nicht, wie oft wir schon
erklärt haben, warum dieses Floß mit
nach Deutschland soll. An Bord eines
Schwimmkrans aus Singapore, der von
UNICEF nach Phnom Penh geschickt wurde,
machen wir Jonny Chin, den Captain,
gerade mit dieser Idee vertraut. Er soll
uns helfen. Mit dem Geschirr dieses
Schwimmkrans ließe sich das Floß auf
eine Barke hieven, die in wenigen Tagen
leer nach Singapore zurückgeschleppt
wird.
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Auf diese Idee
hatte uns Malcolm Harper
gebracht. Wir wollen seine guten
Kontakte nutzen und haben ihn mit
an Bord genommen. In der engen
Kapitänskajüte sprechen wir die
Sache durch. Jonny Chin lacht
ersteinmal kräftig, als er von
unseren Export-Problemen hört.
Dann will er das Objekt in
Augenschein nehmen. Mit einem
Beiboot überqueren wir den
Fluß. Kurze Begutachtung des
Floßes — Stabilität,
Gewicht, Größe. Jonny Chin hat
keine Bedenken. Er sagt O.K. Die
erste Etappe nach Singapore kann
in ein, zwei Wochen geschafft
sein.
Es hat dann doch
noch vier Wochen
gedauert, bis das Floß
im shipyard von Singapore
dümpelte, auf
Warteposition. |
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