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DER WEG NACH ZIMBABWE
oder VERSUCHE, DIE FREMDE ZU VERSTEHEN
© 1990 Klaus Jürgen Schmidt
DER WEG ÜBER DEN "HO CHI MINH
PFAD"
...
Aus den Gesprächen mit Lisa Niebank war
ich mit geschärfter Aufmerksamkeit
zurückgekehrt an die Fernschreiber der
Nachrichtenagenturen, die den aktuellen
Redaktionen den Grundstoff für die
täglich verbreitete Weltsicht liefern.
Zehn Jahre am Nachrichtentisch bei Radio
Bremen boten Streß und Chance zugleich.
Anders als in den größeren
Sendeanstalten, wo ein ganzes Team mit
einem Schichtleiter jede Stunde in
fünfundsiebzig Zeilen oder fünf
Minuten den Lauf der
Weltgeschichte darstellt, war beim
kleinsten Sender während einer Schicht
ein einziger Redakteur für Auswahl,
Reihung und sprachliche Gestaltung der
sechs bis zehn Themen pro
Nachrichtensendung verantwortlich.
Radio Bremen erhielt in jenen Jahren den
Ehren-/Schimpf-Titel "Radio
Hanoi", der lange Korridor, über
den die "konspirativen"
Redakteure hasteten, hieß im Hausjargon
"Ho Chi Minh-Pfad", und als
Folge der Auseinandersetzungen zwischen
den Etagen der Medienarbeiter und der
Medienverwalter um Objektivitätsgebote
des Rundfunkgesetzes etablierte sich beim
kleinsten Sender der Republik nebenbei
die erste Redakteursbewegung der
öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten. Unter anderem ihrer
Aufmüpfigkeit war es zu verdanken, daß
ich damals nicht meine berufliche Heimat
bei Radio Bremen verlor und u.a.
den Gastspielen des journalistischen
Archetypen Gert von Paczensky als
Chefredakteur, daß ich nicht zum
Rundfunkbeamten verkam.
Es ist ja nicht bloß der individuelle
Mangel an Lern- und
Reflektionsbereitschaft, der
journalistische Produkte zur
zweifelhaften Ware macht. Es ist auch die
Angst von Parteibuchhaltern und
Zeitgeistkontrolleuren in den Redaktions-
und Verwaltungsspitzen, die Gunst der
Mächtigen in Politik und Wirtschaft zu
verlieren.
In den Sechziger Jahren bedurfte es noch
der Dreistigkeit eines Erich Mende, in
seiner Eigenschaft als Vizekanzler und
Minister für gesamtdeutsche Fragen per
Rundbrief an alle Radioredaktionen den
deutschen Sprachgebrauch zu regeln: Er
verbot erfolgreich die Verwendung des
Kürzels "BRD" für
"Bundesrepublik Deutschland" in
Nachrichtenmeldungen, Grund: die
DDR-Medien hatten begonnen, diese raum-
und zeitsparende Abkürzung zu verwenden.
Das war die Ära, in der die DDR in
Bonner Regierungskreisen (und natürlich
in den meisten westdeutschen Medien) nach
wie vor als "SBZ" bezeichnet
wurde, für "Sowjetische
Besatzungszone".
In den Siebzigern, als es darum ging, ob
Baader-Meinhof als "Gruppe"
oder als "Bande" zu benennen
sei, war ein Rundbrief längst nicht mehr
nötig, kaum ein Journalist hatte noch
den Mumm, darüber eine Diskussion vom
Zaun zu brechen und sich dabei des
Verdachts des Sympathisantentums
auszusetzen.
Das also war die Atmosphäre, in der
Radio Bremen seinen "Ho Chi
Minh-Pfad" erhielt, und ich die
Ankündigung meines Rausschmisses.
Heimat ist vor allem auch durch Sprache
gekennzeichnet, dieses Transportmittel
von Gedanken und Gefühlen, das durch
Erfahrungen in einer gemeinsamen
Erlebniswelt geprägt wird. Die
differiert schon von Landstrich zu
Landstrich und kann zu sprachlichen
Mißverständnissen innerhalb einer
Nation führen: Als der Bremer Karl
Carstens (CDU) 1976 während seiner
umstrittenen Kandidatur für das
Bundespräsidentenamt von dem Bremer
Henning Scherf (SPD) einer rechten
"Gang" zugeordnet wurde, gab es
im deutschen Süden einen Aufschrei des
Protestes. Scherf konnte kühl kontern,
im Norden sei allgemein bekannt, daß es
sich bei einer "Gang" um eine
Arbeitskolonne handele und verwies auf
Radio Bremen, das jeden Mittag zum
Abschluß seiner Regionalsendung die
Vorarbeiter der durchnummerierten
"Gangs" in den Häfen zusammen
mit dem jeweiligen Arbeitsbedarf
bekanntgibt.
Eines Morgens bekomme ich die Folge von
sprachlicher Differenzierung fast
handgreiflich zu spüren, ein vor Wut
zitternder Chefredakteur stürmt in die
Redaktion, in der ich an meiner vierten
Nachrichtensendung dieses angebrochenen
Tages bastele. Der amerikanische Senator
Fulbright hat die Schliessung des
Münchener "US-Propagandasenders
Radio Free Europe" gefordert. So
stand es im Text der
Nachrichtenagenturen, und als Zitat hatte
ich es so in den Radio
Bremen-Nachrichtentext übernommen. Das
hatte den Adrenalin-Spiegel des
Politik-Chefs steigen lassen, der aus
seinen Erfahrungen als Korrespondent in
Moskau mit "Propaganda-Sender"
andere Vorstellungen verband und dem es
nun endgültig das Frühstück verhagelt
hatte. Monatelang hatte er sich nun schon
anhören müssen, wie seine
Nachrichtenabteilung um zehn Uhr
vormittags etwa von neuen
"Terroranschlägen" des
"Vietcong" in Vietnam
berichtete, während eine Stunde später
nach Schichtwechsel der
Urheber plötzlich eine "Nationale
Befreiungsfront Vietnams" war. Jetzt
war ihm der Geduldsfaden gerissen. Bevor
es zu Handgreiflichkeiten kommt,
entweicht sein Redakteur in die
Bibliothek. Im "Wörterbuch zur
Publizistik" von Kurt Koszyk und
Karl H. Pruys steht auf Seite 292 unter
dem Stichwort
"Propagandasender":
"Rundfunkstationen, die ihre
Sendungen ins Ausland ausstrahlen und
deren Programme zu einem nicht
unwesentlichen Teil der Propaganda der
verschiedenen politischen Systeme dient
sowie zur 'Selbstdarstellung' vor der
übrigen Welt beitragen soll. Zu den
größten Rundfunkorganisationen dieser
Art (die meisten stehen unter
Regierungsaufsicht) zählen Radio Moskau
(200 Programmstunden / 85 Sender), Radio
Peking (130 Programmstunden / 50 Sender),
Ost-Berlin (65 Programmstunden / 8
Sender), Voice of America (175
Programmstunden / 105 Sender), British
Boadcasting Corporation (90 Stunden / 60
Sender)."
Am nächsten Morgen liegt eine Fotokopie
auf dem Schreibtisch des Chefredakteurs
und ein Ausschnitt aus der
Nachrichtenseite der "Bremer
Nachrichten" vom 25.02.72:
"...Die beiden in München
stationierten amerikanischen
Propagandasender 'Radio Free Europe' und
'Radio Liberty' arbeiten seit Mittwoch
ohne gesicherte Finanzen..."
Kleinkrieg am "Ho Chi
Minh-Pfad" Radio Bremens, der zu
einem Stellungskrieg ausartet. Der
Chefredakteur beginnt eine Akte anzulegen
es wird die dickste Akte über
einen einzelnen Mitarbeiter in der
Geschichte des kleinsten Senders der
Bundesrepublik. "Zu viele
unbedeutende Meldungen über Ereignisse
in der Dritten Welt", notiert er und
erhält postwendend die Kopie einer Rede
des Intendanten auf einer Medientagung,
die das Versprechen enthält, in den
ARD-Nachrichten gründlicher auf eben
jenen Teil der Welt einzugehen. Zum
Vergleich läßt der Chefredakteur sich
regelmäßig Fotokopien der parallelen
Nachrichtensendungen anderer ARD-Sender
schicken, um nachzuweisen, daß in den
Schmidt-Schichten Radio Bremen-Hörer
eine andere Nachrichtenauswahl erhalten.
Der Nachweis gelingt und wird zum
Rohrkrepierer: Zur Gleichschaltung
brauche das föderative Rundfunksystem
dann ja nur eine einzige
Nachrichtenredaktion!
Schließlich erhält Schmidt die Auflage,
alle Manuskripte seiner Arbeiten über
die chinesische Entwicklung für
die er in jener Zeit dankbare Redaktionen
auch bei Radio Bremen fand dem
Chefredakteur zur Genehmigung vorzulegen.
So kommt es eines Tages zu der paradoxen
Situation, daß ein anderen
Sendern schon zur Übernahme angebotenes
Programm beim "roten"
Radio Bremen Sendeverbot erhält, aber
vom "schwarzen" Süddeutschen
Rundfunk ausgestrahlt wird. In
Abwesenheit des Zensors wagt es dann doch
ein Radio Bremen-Redakteur ein Programm
über chinesische Entwicklungspolitik in
Afrika zu produzieren und zu senden
doch damit ist das Ende der
Fahnenstange erreicht: An einem
Wochenende wird der Dissident zum
Intendanten bestellt. Dort sind schon
versammelt: der Programmdirektor, der
Chefredakteur, sein Stellvertreter und
der Chef der Nachrichtenredaktion, auf
dem Tisch liegt die Akte!
Drei Monate bis Ende des Jahres
1972 erhält der Dissident als
Frist, sein Verhalten zu ändern, sonst
stehen nur noch zwei Alternativen zur
Debatte: Selber zu kündigen, oder
gekündigt zu werden. Schmidt weiß, daß
dies einem Berufsverbot gleichkäme
jemand, der bei Radio Bremen
fliegt, hat bei der übrigen ARD keine
Chancen mehr. Er sucht Rechtsschutz bei
seiner Gewerkschaft und bemüht sich,
seine unveränderte Nachrichtenarbeit
noch sorgfältiger mit schon
vorausbedachten Argumenten abzusichern.
In diesen Nervenkrieg platzt einen Monat
vor Ablauf des Ultimatums eine Bombe. Sie
hat die unschuldige Form eines Telegramms
aus Bonn: Beim Journalisten-Wettbewerb
der Kinderhilfsorganisation "Terre
des Hommes" unter der
Schirmherrschaft von
Entwicklungshilfeminister Eppler (dem
Vorgänger heutiger BMZ-Wettbewerbe) hat
der Beitrag des Radio Bremen-Dissidenten
über chinesische
Entwicklungshilfepolitik in Afrika den
ersten Preis erhalten! Wom!
Der Chefredakteur vermeidet eine
Gratulation und sitzt bärbeißig
im Konferenzraum des Kasinos, an dessen
Wand nun Urkunde und Foto des jüngsten
Radio Bremen-Preisträgers hängen. Der
Intendant auf dem Absprung in eine
höhere ARD-Etage wehrt sich im
Januar gegen eine
"SPIEGEL"-Notiz (die ihm
unterstellt, vor seinem Abgang den
"eisernen Besen" herauszuholen)
mit dem Leserbrief-Hinweis, der
"Fall Schmidt" sei "Schnee
vom vergangenen Jahr" und der
Dissident bereitet sich darauf vor,
endlich die "Dritte Welt"
selber in Augenschein zu nehmen: Der
Erste Preis ist eine Reise nach Vietnam! |
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