Die ersten herbstlichen Regenstürme jagen
übers norddeutsche Flachland, brechen sich
am Rand des kleinen Waldes oberhalb vom
Landhäuschen am Hang. Holz für den Kamin ist
reichlich vorhanden seit vor einem Jahr die Last
von Winter-Eis eine Reihe von Bäumen in diesem
Wäldchen knicken liess.
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Eine
fallende Kiefer trennte für einige Zeit
die Verbindung zur Welt, die von dem
abgelegenen Häuschen über neun
Telefonmasten bis zu der schmalen Brücke
führt, von wo sie sich zusammen mit der
Leitung des Nachbarn jenseits des Feldes
schliesslich dem Kommunkationsnetz
anschliesst, das über zahllose weitere
Masten die weit auseinander wohnenden
Menschen dieser Kommune verbindet - in
den meisten Fällen wohl eher
untereinander, also "binnen" -
seltener "buten", also mit der
Welt jenseits der Mittelweser-Region,
oder gar jenseits des Gebietes, in dem
deutsch gesprochen wird - oder, wie hier,
plattdeutsch. |
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Etwa fünf Kilometer entfernt, per
Fahrrad bequem zu erreichen, in einem Tal
bei Marklohe, ist dem
"Plattdeutsch" seit 1932 eine
Waldbühne gewidmet. 1962 hatte sich
sogar Lale Andersen `mal die Ehre
gegeben, seit 1952 trägt im Schatten
alter Buchenbäume ein von der Eiszeit
zurückgelassener Findling diese
Inschrift.
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Im letzten Sommer radelten wir mit
unserer Hamburger Freundin zu dieser Waldbühne.
Wir kamen gerade noch rechtzeitig für`s
Vorprogramm, bei dem - wie fast jedes Jahr -
Bauer Möhring und seine Frau im Kreise anderer
Ehepaare als "Lustige Tänzer von
Wietzen" in schmucker Tracht traditionelle
Tanzformationen über die Bühne walzen (wann
übt ihr eigentlich, wollte ich schon immer mal
fragen angesichts mir bekannter Extra-Dienste
über die Arbeit an Kuh und Kulturpflanze hinaus,
als da wären aktiver Dienst in der Freiwilligen
Feuerwehr, im Schützenverein, als Schatzmeister
des lokalen Jäger-Vereins etc.).
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Unterdessen
hat eine Blaskapelle die Tänzer
abgelöst, während sich Einheimische und
ein paar Touristen am Bratwurstgrill oder
am Biertresen überlegen, ob es klug war,
den Regenschirm doch nicht mitgenommen zu
haben. Es gibt dann noch mindestens zwei
Pausen im Drama um "De swarte
Hannibal", die erneut der Förderung
lokaler Gastronomie- und
Catering-Betriebe dienen, bevor ich
begreife, dass es sich bei dem
"Hannibal" um einen schwarzen
Eber handelt. |
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In diesem Jahr hiess das Stück auf der
Waldbühne "Pass up de Deern". Etwas
vorlaut frage ich rechtzeitig den Wilhelm
Möhring, ob das denn überhaupt korrektes Platt
sei: Entweder sei auf hochdeutsch gemeint
"Pass auf, das Mädchen!" - dann fehle
ein Komma, oder es sei gemeint "Pass auf das
Mädchen auf!" - dann fehle ein zweites
"up": "Pass up de Deern up!"
Au weia! Die Frage ist bis heute ungeklärt,
trotz Einbeziehung einer Reihe weiterer lokaler
Experten an unserem Biertisch, und mir schwant,
da wird von mir noch so manches Bier zu bestellen
sein...
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Aber wie hatte unserer Hamburger
Freundin, die uns ja auch schon in
Simbabwe besucht hatte, der Ausflug in
die lokale Kulturszene gefallen? Au weia!
Da wäre jetzt auch noch über ganz
andere Kriterien zu diskutieren. Ich
trete in's Pedal, um für Licht auf
nächtlicher Strasse zu sorgen, nur an
meinem Rad funktioniert die Lampe, ich
hatte vergessen, die an den anderen
beiden Rädern vorher zu checken. Aber es
regnet wenigstens nicht, und egal, ich
hab` mich köstlich amüsiert, in Afrika
verstehe ich ja auch kein Wort, wenn auf
dem Lande die Menschen tanzen und in
ihrem lokalen Idiom singen. |
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Das Erbe der Menschen, egal welcher
Region, ihre Sprache, ihre Geschichte, ist
Schlüssel für ihr Selbstverständnis, und
vielleicht auch Schlüssel für das Verständnis
von Antworten, die unseren Brückenschlag in
andere Kulturen erklären können, wenn ich bei
Ausflügen von unserem kleinen Häuschen, bei
Dorf- und Familienfesten, immer `mal wieder
gefragt werde, wie es denn da so ist in Afrika.
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MUZ
Münsters Universitäts-Zeitung
5/1996 - 17. Oktober 1996
Bea
Schallenberg |
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Yes, it's very
possible
Vier Monate leben, lernen und arbeiten in einem
Land im südlichen Afrika
Münster, Januar 1996
Sie ist Studentin der Publizistik, die sich
aufgrund eines Aushangs an einem der Schwarzen
Bretter der Uni Münster auf ein Stipendium der
Heinz-Kuehn-Stiftung beworben hat und - wer
hätte das gedacht - eine der glücklichen vier
Deutschen ist, die ... ja was eigentlich? Klar
ist zu diesem Zeitpunkt nur eines: Radioarbeit in
Simbabwe, einem Land im südlichen Afrika. Es ist
Mitte Januar, als die endgültige Zusage des
Senders "Radio Bridge Overseas" - also
"Radio Brücke Übersee" - die
Studentin erreicht. Sie ist überglücklich,
erfährt jedoch wenige Tage später, daß die
Stiftung die 3000 Mark für Unterkunft und
Verpflegung sowie die Flugkosten nicht
übernehmen wird. Begründung: "...
gegebenenfalls Kostenübernahme im Einzelfall
...", "... mit der Bitte um Geduld
...". Die Studentin finanziert sich und ihr
Studium selbst, zu diesem Zeitpunkt durch eine
19-Stunden-Stelle an einem der Institute. Sie
wird ihren Job aufgeben müssen, Urlaub für fast
vier Monate gibt es nicht, nach einem Gespräch
mit dem geschäftsführenden Direktor des
Institutes ist das völlig klar und einleuchtend.
Den Job wird jemand anderes übernehmen, sie hat
Verständnis, gleichzeitig Zweifel, überlegt
nächtelang, ob sie das wirklich riskieren kann,
denkt immer wieder an Marc Aurel ("Der Weg
ist das Ziel") und entscheidet sich für
eine unsichere Zukunft. Sie wird nach Simbabwe
gehen.
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Harare,
04. April `96
In Harare wird sie zusammen mit einem
weiteren Teilnehmer des
"Internships", so bezeichnet
Radio Bridge Overseas das 13wöchige
Projekt, von dem Leiter des Senders
persönlich am Flughafen abgeholt. Herr
S. war Redakteur bei Radio Bremen,
Korrespondent in verschiedensten
Ländern, nicht nur Afrikas, und ist seit
nun mehr elfeinhalb Jahren in Simbabwe.
Er lädt das Gepäck in den Landrover,
denn ein solches Auto braucht man hier,
sagt er. |
Simbabwe, 10.
April `96
Die Studentin hat nun genauere Vorstellungen
über das, was auf sie zukommen wird. Sie wird in
Zusammenarbeit mit vier simbabwischen
Journalisten und den drei anderen Teilnehmern aus
Deutschland fünf- bis sechsminütige Feature
erstellen. Verschiedenste Themenbereiche sollen
aus Sicht der hier Lebenden dargestellt werden.
Begonnen wird mit der Recherche in der Hauptstadt
Harare, später in ländlichen Gebieten. Shona
und Ndebele sind die am häufigsten gesprochenen
Stammessprachen. Übersetzt werden diese von den
afrikanischen Kollegen ins Englische, von den
Studenten des Erste-Welt-Staates dann in die
deutsche Sprache. So können die Stories auch in
Deutschland gesendet und verstanden werden -
hoffentlich! Autoren der Geschichten werden
primär die einheimischen Kollegen sein, denn das
ist der idealistische Gedanke von Radio Bridge
Overseas: Einwohner des jeweiligen Landes
berichten zu lassen und nicht Korrespondenten,
"Außenstehende", wie Herr S. sagt,
"die für ein paar Tage in
Dritt-Welt-Länder kommen, um dann fast immer
Stereotypen zu festigen. Das kann nicht der Sinn
von Berichterstattung sein".
Die Studentin ist begeistert von der Idee und
gleichzeitig überfordert. Sie hat alles
Mögliche erwartet: eine einfache Unterkunft,
Affenbrotbäume, einfachste Tongeräte,
afrikanisches Essen ...! Statt dessen wohnt sie
in einer der reichsten "Weißenviertel"
in Harare. In einem großzügigen Haus mit vielen
schwarzen Angestellten, die den Fußboden mit
einer Bürste schrubben, die Wäsche der
Studenten mit der Hand waschen und einem Koch,
der sich die Wünsche der weißen Teilnehmer zu
Herzen nimmt und gern europäisch kocht. Der
ergebenst mit einem "Yes, Mam, its
very possible" auf jede Bitte reagiert und
nach Servieren der Mahlzeiten sofort wieder in
"seiner" Küche verschwindet. Afrika?
Tausend Fragen, wenig Antworten. Die Studentin
fühlt sich einsam in ihrem so schön
eingerichteten Einzelzimmer mit Moskitonetz über
dem Bett und Blick über die Hügel des
Greystone-Parks, der reichen Gegend von Harare.
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Harare,
Mai `96
Die Studentin ist glücklich in Simbabwe.
Der Abstand zu ihrem Zuhause wird immer
größer. Sie hat Schwierigkeiten, sich
ihren Freunden in Deutschland
mitzuteilen, weiß aber um verbale
Grenzen bei der Beschreibung fremder
Kulturen und resigniert in gewissem Maße
fast freudig, was ihr
Mitteilungsbedürfnis an die Leute zu
Hause betrifft. Sie hat sich daran
gewöhnt, den simbabwischen Journalisten
das Privileg einzuräumen, Autoren der
Geschichten zu sein, die nach Deutschland
verkauft werden sollen. |
Sie hat sich
daran gewöhnt, weiß zu sein in einem Land, in
dem nur zwei Prozent der Bevölkerung weiß sind.
Es ist normal geworden, in einen Bus voller
Schwarzer zu steigen und in die Stadt zu fahren.
Sie hat sich auch daran gewöhnt, aufgrund der
Hautfarbe gewisse Vorzüge zu genießen: auf
Botschafter zu treffen, Leute der
Friedrich-Ebert- und der Adenauer-Stiftung zu
begrüßen, sich in Gesellschaftsschichten zu
bewegen, die das Privileg "Weiß" nun
einmal mit sich bringen in einem Land im
südlichen Afrika. Manchmal wundert sie sich
darüber, daß sie ungeduldig wird, wenn ihr nach
zweimaligem Hupen der "schwarze
Pförtner" immer noch nicht das Tor zur
Hofeinfahrt öffnet und sie aussteigen muß, um
es selbst aufzumachen. An den Frauen, die den
Holzfußboden mit den Bürsten schrubben, geht
sie inzwischen wie selbstverständlich vorbei, um
Jotham, dem Koch, mitzuteilen, daß sie nicht am
Dinner teilnehmen wird, da sie anderweitig
eingeladen ist. Sie fragt ihn, ob das Probleme
bereitet. Seine Antwort ist fast immer dieselbe:
"Yes, Mam, its very possible".
Sie genießt ihre Arbeit, die zum Teil mehr als
zwölf Stunden am Tag in Anspruch nimmt, denn sie
geht gänzlich darin auf, einer fremden Kultur
die Möglichkeit der Selbstdarstellung zu lassen.
Ihren deutschen Kollegen geht es ebenso; das
weiß sie, wenn sie sich abends auf der
Dachterrasse zum Sundowner verabredet haben und
über das Internship reden. In wenigen Tagen
werden sie für eine Woche nach Sambia fahren, um
Entwicklungsprojekte zu besuchen. Auch den
sambischen Kollegen wird die Möglichkeit
gegeben, über ihr Land zu berichten ...
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Sambia,
Juni `96
Die Studentin und ihre Kollegen dringen
in immer abgelegenere Gegenden Afrikas
vor. Sie sind fasziniert von der
Fremdheit des Kontinents und lernen
unendlich viel über das Leben der
Menschen in den Dörfern. Das glauben
sie. |
Schwierig
bleibt der Kontrast, am Abend in eine Unterkunft
mit Swimming-Pool und Bar zurückzukehren, in der
Nacht den Ventilator unter der Decke zu
betrachten, der die Moskitos vertreibt, wo doch
die Bewohner Sambias immer noch an Malaria
sterben. Und das, weil es in den Dörfern nicht
nur keinen Strom für Ventilatoren gibt, sondern
auch nicht genug ausreichende Medikamente zur
Verfügung stehen. Das erinnert die Studentin
nachts daran, aus einer Flasche Mineralwasser,
die neben dem Bett steht, einen Schluck zu
nehmen, um die Tablette Delta Prim, das
landläufige Mittel zur Malaria-Prophylaxe,
einzunehmen. Für einen kurzen Augenblick sieht
sie die Frauen und Kinder mit den Eimern auf dem
Kopf, wie sie für ihre Familien das Wasser nach
Hause bringen, jeden Tag aufs Neue - ein Weg von
etwa zwei Stunden bis zum nächsten Brunnen.
Juli '96
Die Studentin trifft Vorbereitungen für die
Heimkehr nach Deutschland. Sie weiß, daß sie
Probleme haben wird, sich in ihr Leben dort
einzufinden, obwohl es ein Leben ist, das sie
seit fast 29 Jahren führt. Ihre mitgebrachte
Armbanduhr liegt auf dem Tisch neben dem Bett.
Sie hat sie seit einigen Wochen nicht mehr
getragen, denn die Afrikaner sagen: "Ihr
habt die Uhren, wir haben die Zeit". Sie hat
sich die Gelassenheit der hier lebenden
Bevölkerung zu Herzen genommen, sich
vorgenommen, gerade dies zu verinnerlichen.
Gleichzeitig weiß sie, daß das schwierig werden
wird, denn sie gehört zu den Leuten, die
ungeduldig und entrüstet an der Bushaltestelle
stehen und sich fragen, wie es sein kann, daß
der Bus sein angestrebtes Ziel mit sieben Minuten
Verspätung erreicht.
Münster, August `96
Die Studentin ist zurück in einer Stadt, die sie
ihr Zuhause nennt. Sie fragt sich in der ersten
Zeit häufig, warum diesen Ort, wo sie doch
innerhalb so kurzer Zeit woanders, auf der
südlichen Halbkugel zu Hause war und das, glaubt
sie, war sie wirklich. Die Simbabwer haben in
ihrer Sprache kein Wort für "Zuhause";
Zuhause, sagen sie, ist dort, wo man sich
geborgen fühlt, wo man Freunde hat, Menschen,
die verstehen was man meint...
Jeden Morgen liegt vor ihr auf dem Küchentisch
die Armbanduhr. Jeden Morgen entscheidet sie sich
aufs Neue, sie liegen zu lassen. Und dennoch
weiß sie, daß es "eine Sache der Zeit sein
wird"; daß sie sie schon bald wieder an
ihrem Arm tragen wird, denn sie ist Realistin und
Realisten finden sich in die Gegebenheiten des
Alltags ein, denkt sie.
Sie wird wieder nach Afrika zurückkehren und das
Angebot eines Senders in Johannesburg in Anspruch
nehmen, um einen Teil dazu beizutragen, den
Menschen auch in Südafrika die Möglichkeit zu
geben, über ihr Land zu berichten. Wenn sie
aufgrund ihrer Erfahrungen Zweifel hat, ob sich
ein solches Vorhaben verwirklichen läßt, sieht
sie für den Bruchteil einer Sekunde einen
schwarzen Koch mit blütenweißer Kleidung in der
Küche verschwinden. Kurz bevor er die Tür
hinter sich schließt, hört sie noch sein
"Yes, Mam, it's very possible ..."
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Im
August 2000 kommt es in Deutschland zu
einer erfreulichen, aber vom Initiator
gewiss unbeabsichtigten
"Spätfolge" des
Nord-Süd-Brückenschlages in Afrika. Bea
Schallenberg und Jörg Kruse haben sich
als Praktikanten bei Radio Bridge
Overseas in Harare kennen- und lieben
gelernt. Sie heiraten und laden als
"Kuppler" den RBO-Initiator
ein, der sich zur Präsentation von
RBOs "Global Village
Voices" bei der Weltausstellung EXPO
2000 nach längerer Zeit `mal wieder in
der norddeutschen Tiefebene aufhielt, wo
die beiden ihm dann auch bald mit ihrem
Nachwuchs einen Besuch abstatten. |
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Die Hochzeit fand in einer kleinen
Waldgaststätte statt, nicht fern jener Stelle im
Teutoburger Wald, an der zufolge ungenauer
Berichterstattung aus den römischen
Kolonialkriegen im Jahr 9 n. Chr. ein gewisser
Hermann, auch Arminius genannt, als Fürst der
Cherusker die Römer schlug und damit die
Voraussetzungen für ein freies Germanien schuf.
(Zehn Jahre später wurde er von Verwandten
verraten und ermordet.) Wir sind uns kaum
bewusst, dass unsere heutige Lebensweise ganz
wesentlich von früher Kolonialisierung
beeinflusst ist. "Asterix und Obelix"
lassen grüssen! ("Die spinnen, die
Römer!")
Die jungen deutschen Journalistik-Studenten, die
zu uns nach Simbabwe kamen, waren bei ersten
Ausflügen mit ihren afrikanischen Kollegen und
Kolleginnen in deren Welt erst einmal
überwältigt von der Exotik althergebrachter
Organisation des täglichen Lebens. Das drückte
sich oft in der Verwendung sprachlicher Muster
aus, die daheim bei der Vorstellung von Afrika
entstanden waren. Zur zweiten Gruppe unserer
"Interns" gehörte die rheinische
Frohnatur Olaf Krems.
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http://www.heinz-kuehn-stiftung.de/pdf/jahrb11/jahrb11_4.pdf |
Als Stipendiat der Heinz-Kühn-Stiftung
Teilnehmer an einem Workshop von Radio Bridge
Overseas
in Zimbabwe vom 19.9. bis zum 20.12.1996
Olaf
Krems |
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Momentaufnahmen
...Es ist Mitte Oktober und wir erreichen mit dem
Landcruiser nach einer langen Fahrt in den
staubig heißen Norden Zimbabwes Guruve, ein
kleines Kaff im Zambezi-Valley, nicht weit von
der Grenze zu Moçambique und Zambia. Wir, das
sind neben Cutmaster Schmidt mein
deutscher Kollege Holger Bock, Hörfunkjournalist
in Hannover und Göttingen, die zimbabwischen
Workshop-Teilnehmer Geshom Nyathi, Freier
Journalist und Korrespondent für ZBC, einige
inländische Zeitungen und den Sender Voice of
America-African Service und Phinius Mushoriwa,
Mitarbeiter einer Public Relations-Agentur und
Leiter von Journalistik-Seminaren an der Uni
Harare und der kurzzeitig unter Vertrag genommene
zambischeJournalist und Entwicklungsexperte Sam
Ngoma...
Ausgerüstet mit Aufnahmegeräten und einem
Empfehlungsschreiben der Campfire Association
wollen wir ein in der Nähe liegendes Dorf,
Masoka, besuchen, das in Zusammenarbeit mit der
Campfire Association, der Distriktverwaltung und
einer privaten Safari-Agentur Wildlife-Management
betreibt. Wir sammeln Material für die
ART-Sendereihe Living Ideas. Mit
dieser Aufgabe ist vor allem Sam betraut worden,
während Holger, Geshom, Phinius und ich nach
Geschichten suchen sollen, die für ein
internationales Publikum interessant sein
könnten.
Wir machen vor einer Zeile schäbiger kleiner
Häuser halt. Guruve, das in einem Gebiet liegt,
dessen jetzt in der heißen ausgehenden
Trockenzeit öde und dornbuschbewachsene
Landschaft nahe an das herankommt, was Hemingway
einmal als eine Million Meilen beschissenes
Afrika beschrieben hatte, ist für die
Menschen hier Dreh- und Angelpunkt für
Geschäfte, Verwaltung und Reisen in andere Teile
des Landes. Aus Bottlestores plärrt
ohrenbetäubende Marimba-Musik auf die Straße.
Menschen aus Guruve und den umliegenden Dörfern
machen hier ihre Besorgungen, handeln mit
selbstgezogenem Gemüse, Haushaltswaren,
selbstgeflochtenen Körben und
Secondhand-Kleidung. Hier und da stehen kleine
Gruppen von Männern vor den Stores, sie treffen
Freunde und gönnen sich in der Hitze des Tages
ein Bier. Röhrend kündigt sich ein Überlandbus
der staatlichen ZUPCO (Zimbabwe United Passenger
Company) schon von weitem an und bahnt sich
seinen Weg durch den Ortskern. An der nächsten
Ecke spuckt er Fahrgäste aus und nimmt neue auf.
Hastig werden Gepäckstücke über die Reling auf
die Ladefläche des Busdaches geworfen und
festgezurrt.
Wir wollen hier in Guruve jemanden finden, der
uns nach Masoka bringen soll. Nach kurzer Zeit
treffen wir einen jungen Mann, der sich dazu
bereit erklärt. Auf der Suche nach jemandem aus
dem Gemeindevorstand, dem wir unser Anliegen
hochoffiziell vortragen wollen, stoßen wir auf
einen alten Kauz, der mit seinem angeschmuddelten
rosa Sommeranzug, der wild gemusterten Krawatte,
einem weißen Tropenhelm und einer Kette, die ein
vergoldetes Blechschild vor seiner Brust hält,
wie die Sparversion eines Karnevalsprinzen
aussieht. Seine Tollität wird von dem uns
begleitenden jungen Mann respektvoll begrüßt.
Auch unsere zimbabwischen Kollegen machen eine
leichte Verbeugung und klatschen dabei ihre
Hände dezent zusammen. Nach einer kurzen
Vorstellungsrunde wissen auch wir, daß es sich
bei dem Karnevalsprinzen um einen Chief, also
einen traditionellen Häuptling handelt, und
jetzt, da uns der freundlich dreinblickende Alte
gegenüber steht, können wir die Amtsbezeichnung
auch auf der die Helmfront schmückenden
Metallplakette lesen. Der Chief ist in die Stadt
gekommen, um an einem Verwaltungstreffen im
District Council House teilzunehmen.
Sahen mein deutscher Kollege und ich in dem Chief
auf den ersten Blick ein eher belustigendes,
jedoch nicht unbedingt weiter zu beachtendes
Phänomen einer uns nicht näher bekannten Kultur
und Gesellschaft, war er für unsere
zimbabwischen Kollegen zwar von vornherein als
Chief zu erkennen, aber eine, wenn auch
respektierte, alltägliche Erscheinung. Erst
Cutmaster Schmidt hilft uns über den kollektiven
blackout hinweg. In der Tat, dies ist eine
spannende Geschichte (O-Ton Schmidt),
denn wer weiß schon in Europa, was sich hinter
der Berufsbezeichnung Häuptling verbirgt und wie
man(n) überhaupt einer wird. Wir erbitten ein
Interview und der Chief ist einverstanden.
Ich heiße Jefrey Chisunga und bin
zuständig für ein weites Gebiet, stellt
er sich vor. Ich wurde 1924 geboren und bin
vor dreißig Jahren zum Häuptling des Lower
Guruve Districts ernannt worden. Mein Amtsbereich
erstreckt sich von Kazangarare über Masoka bis
hin nach Chapoto an der Grenze zu Moçambique und
entlang des Ufers des Zambezi.
Obwohl Zimbabwe nach seiner Unabhängigkeit im
Jahre 1980 die parlamentarische Demokratie als
Regierungsform festschrieb und die Mitglieder der
insgesamt 55 Distriktsversammlungen des Landes
von den Bewohnern der jeweiligen Gebiete gewählt
werden, sitzen auch dieHäuptlinge, ohne direktes
Wählermandat und entsprechend ihrer
traditionellen Herrschaftsansprüche, in diesen
kommunalen District Councils. Auch wenn in einem
solchen Rat die Stimme eines von der
Zentralregierung abgestellten und in
Verwaltungsangelegenheiten und im Rechtswesen
geschulten Beamten maßgeblich ist, spielen die
Häuptlinge immer noch eine große Rolle. Die
Regierung ist auf die Gunst der Chiefs
angewiesen, damit diese sich mit ihrem
verbliebenen Einfluß zum Beispiel für
staatliche Entwicklungsprojekte in den
ländlichen Gebieten einsetzen. Darüber hinaus
sind die Häuptlinge für die Verhandlung von
Rechtsstreitigkeiten in den Dörfern ihrer
Distrikte zuständig und wachen darüber, daß
die Menschen die seit altersher geltenden Gesetze
des Zusammenlebens beachten.
Meistens habe ich über private
Streitigkeiten zu richten, erzählt Chief
Chisunga, Auseinandersetzungen in der
Familie, Schlägereien und vor allem über
Beschwerden, wenn Mädchen dieUnschuld genommen
wurde, ohne daß dahinter eine Heiratsabsicht
steckte. Meine Boten rufen die Betroffenen zur
Verhandlung. Der wohnen neben mir zwei Beisitzer,
ein Sekretär, der alle wichtigen Punkte
aufschreibt, und weitere Leute bei, die im
gegebenen Fall weiterhelfen können. Doch ich
habe als Häuptling das letzte Wort, ich spreche
das Urteil. Zuerst wird dem Kläger die
Gelegenheit gegeben, dem Gericht mitzuteilen,
welche Art der Wiedergutmachung er von dem
Beklagten erwartet. Daraufhin beraten wir, ob der
geforderte Preis im Verhältnis zur Schwere des
Vergehens zu hoch ist - ist er es, schränke ich
ihn ein. Für den Fall, daß der Beklagte kein
Geld hat, wird von ihm gefordert, eine Ziege oder
eine Kuh zu geben, oder er wird dazu
verpflichtet, den geforderten Betrag später zu
zahlen. Es gibt jedoch auch Fälle wie zum
Beispiel schwere Körperverletzung, Diebstahl
oder Vergewaltigung, die nicht in meine
Zuständigkeit fallen. Die verweise ich sofort an
die nächste Polizeistation, denn bei ihnen
handelt es sich um Kriminalfälle, für die
Strafrichter zuständig sind. Manchmal bitten
mich allerdings Leute, die darin verstrickt sind,
die Angelegenheit zu regeln, weil sie Angst vor
der Polizei haben. Wenn ich sehe, daß es sich um
ein eher geringfügiges Delikt handelt,
übernehme ich die Sache, verwarne die
betreffenden Parteien und beende die
Angelegenheit.
Die Autorität der Häuptlinge stützt sich hier
weniger auf ihre juristischen Fachkenntnisse als
vielmehr auf den immer noch fest verankerten
spirituellen Glauben der Bevölkerung. Welche
Bedeutung der hat, wird deutlich, wenn Chief
Chisunga die Umstände einer traditionellen
Amtseinführung schildert.
Wenn ein Häuptling gestorben ist,
versammeln sich die Ältesten und halten Rat. Die
Bewohner der Region beginnen damit, ein
traditionelles Bier zu brauen und bereiten eine
große Zeremonie vor. Während dieserZeremonie
wird ein spirituelles Medium, das Mhondoro
befragt. Durch dieses Medium bestimmen die
Geister der Ahnen jene Familie, aus der der neue
Häuptling zu kommen hat. Für gewöhnlich ist es
der älteste Sohn dieser Familie, der dazu
berufen wird, das Ndoro, das Symbol der
Häuptlingswürde zu tragen. Die offizielle
Anerkennung durch den Staat erfolgt durch hohe
Beamte, die ihn mit einem Helm und einer vor der
Brust an einer Kette zu tragenden Metallplakette
ausstatten.
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Die
Schilderungen des Chiefs lieferten uns
später bei der Produktion des
Hörfunkbeitrages eine Menge
Diskussionsstoff, vor allem im Hinblick
auf das widersprüchlicheVerhältnis
zwischen Tradition und Moderne im
heutigen Zimbabwe, stellvertretend für
viele andere afrikanische Länder.
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Denn ist Chief Chisunga, der
traditionelle Häuptling, in seiner mit Stolz
getragenen Kostümierung nicht selbst ein
Spiegelbild der sich auflösenden Traditionen?
Ein neu ins Amt eingeführter Häuptling erhält
als Symbole seiner Würde zwei unterschiedliche
Insignien. Da ist einmal das überlieferte
Ndoro, der spiralförmige Boden einer
Muschel, die vor Urzeiten durch arabische
Händler von der ostafrikanischen Küste ins
Landesinnere gebracht wurde und als Kostbarkeit
ausschließlich den Häuptlingen zustand. Und da
ist der koloniale weiße Tropenhelm mit einem
Aluminiumabzeichen auf der Front, zusammen mit
der um den Hals zu tragenden Kette, die ein
graviertes Metallschild hält. Diese von den
ehemaligen weißen Kolonialherren eingeführten
Symbole der Macht erinnern bis heute daran, daß
die Chiefs in früheren Zeiten von der
Kolonialverwaltung in ihr Amt eingesetzt und zu
Erfüllungsgehilfen weißer Interessen gemacht
wurden. Auch wenn dieses Kapitel längst
abgeschlossen ist, so hält der Prozeß der sich
auflösendenTraditionen an, denn heute stehen die
Häuptlinge auf der Gehaltsliste der Regierung
und setzen sich für die Entwicklung der
ländlichen Gebiete nachVorgaben des Staates ein.
Mit dieser Entwicklung aber halten auch moderne
Vorstellungen und moderne Rechtsprechung Einzug
in diese Regionen, geraten in Konflikt mit
traditionellen Gepflogenheiten und untergraben
damit mehr und mehr den Einfluß der Häuptlinge,
die sich der Aufrechterhaltung der Traditionen
verpflichtet fühlen. Diese Überlegungen waren
für uns alle letztendlich viel interessanter und
mitteilenswerter als die Tatsache, daß der Chief
13 Frauen und 35 Kinder hat und damit ein reicher
und besonders angesehener Mann sein muß. Wir
machten nicht nur hier die gemeinsame Erfahrung,
daß hinter dem nur vordergündig Auffälligen
wie auch hinter dem Alltäglichen eine eigene
Geschichte, eine andere Wirklichkeit stecken kann.
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