Die Brücke zum eigenen Leben


Die ersten herbstlichen Regenstürme jagen über’s norddeutsche Flachland, brechen sich am Rand des kleinen Waldes oberhalb vom Landhäuschen am Hang. Holz für den Kamin ist reichlich vorhanden seit vor einem Jahr die Last von Winter-Eis eine Reihe von Bäumen in diesem Wäldchen knicken liess.

  Eine fallende Kiefer trennte für einige Zeit die Verbindung zur Welt, die von dem abgelegenen Häuschen über neun Telefonmasten bis zu der schmalen Brücke führt, von wo sie sich zusammen mit der Leitung des Nachbarn jenseits des Feldes schliesslich dem Kommunkationsnetz anschliesst, das über zahllose weitere Masten die weit auseinander wohnenden Menschen dieser Kommune verbindet - in den meisten Fällen wohl eher untereinander, also "binnen" - seltener "buten", also mit der Welt jenseits der Mittelweser-Region, oder gar jenseits des Gebietes, in dem deutsch gesprochen wird - oder, wie hier, plattdeutsch.

Etwa fünf Kilometer entfernt, per Fahrrad bequem zu erreichen, in einem Tal bei Marklohe, ist dem "Plattdeutsch" seit 1932 eine Waldbühne gewidmet. 1962 hatte sich sogar Lale Andersen `mal die Ehre gegeben, seit 1952 trägt im Schatten alter Buchenbäume ein von der Eiszeit zurückgelassener Findling diese Inschrift.

 

Im letzten Sommer radelten wir mit unserer Hamburger Freundin zu dieser Waldbühne. Wir kamen gerade noch rechtzeitig für`s Vorprogramm, bei dem - wie fast jedes Jahr - Bauer Möhring und seine Frau im Kreise anderer Ehepaare als "Lustige Tänzer von Wietzen" in schmucker Tracht traditionelle Tanzformationen über die Bühne walzen (wann übt ihr eigentlich, wollte ich schon immer mal fragen angesichts mir bekannter Extra-Dienste über die Arbeit an Kuh und Kulturpflanze hinaus, als da wären aktiver Dienst in der Freiwilligen Feuerwehr, im Schützenverein, als Schatzmeister des lokalen Jäger-Vereins etc.).

  Unterdessen hat eine Blaskapelle die Tänzer abgelöst, während sich Einheimische und ein paar Touristen am Bratwurstgrill oder am Biertresen überlegen, ob es klug war, den Regenschirm doch nicht mitgenommen zu haben. Es gibt dann noch mindestens zwei Pausen im Drama um "De swarte Hannibal", die erneut der Förderung lokaler Gastronomie- und Catering-Betriebe dienen, bevor ich begreife, dass es sich bei dem "Hannibal" um einen schwarzen Eber handelt.

In diesem Jahr hiess das Stück auf der Waldbühne "Pass up de Deern". Etwas vorlaut frage ich rechtzeitig den Wilhelm Möhring, ob das denn überhaupt korrektes Platt sei: Entweder sei auf hochdeutsch gemeint "Pass auf, das Mädchen!" - dann fehle ein Komma, oder es sei gemeint "Pass auf das Mädchen auf!" - dann fehle ein zweites "up": "Pass up de Deern up!" Au weia! Die Frage ist bis heute ungeklärt, trotz Einbeziehung einer Reihe weiterer lokaler Experten an unserem Biertisch, und mir schwant, da wird von mir noch so manches Bier zu bestellen sein...

Aber wie hatte unserer Hamburger Freundin, die uns ja auch schon in Simbabwe besucht hatte, der Ausflug in die lokale Kulturszene gefallen? Au weia! Da wäre jetzt auch noch über ganz andere Kriterien zu diskutieren. Ich trete in's Pedal, um für Licht auf nächtlicher Strasse zu sorgen, nur an meinem Rad funktioniert die Lampe, ich hatte vergessen, die an den anderen beiden Rädern vorher zu checken. Aber es regnet wenigstens nicht, und egal, ich hab` mich köstlich amüsiert, in Afrika verstehe ich ja auch kein Wort, wenn auf dem Lande die Menschen tanzen und in ihrem lokalen Idiom singen.  

Das Erbe der Menschen, egal welcher Region, ihre Sprache, ihre Geschichte, ist Schlüssel für ihr Selbstverständnis, und vielleicht auch Schlüssel für das Verständnis von Antworten, die unseren Brückenschlag in andere Kulturen erklären können, wenn ich bei Ausflügen von unserem kleinen Häuschen, bei Dorf- und Familienfesten, immer `mal wieder gefragt werde, wie es denn da so ist in Afrika.

MUZ – Münsters Universitäts-Zeitung
5/1996 - 17. Oktober 1996

Bea Schallenberg  

Yes, it's very possible

Vier Monate leben, lernen und arbeiten in einem Land im südlichen Afrika

Münster, Januar 1996
Sie ist Studentin der Publizistik, die sich aufgrund eines Aushangs an einem der Schwarzen Bretter der Uni Münster auf ein Stipendium der Heinz-Kuehn-Stiftung beworben hat und - wer hätte das gedacht - eine der glücklichen vier Deutschen ist, die ... ja was eigentlich? Klar ist zu diesem Zeitpunkt nur eines: Radioarbeit in Simbabwe, einem Land im südlichen Afrika. Es ist Mitte Januar, als die endgültige Zusage des Senders "Radio Bridge Overseas" - also "Radio Brücke Übersee" - die Studentin erreicht. Sie ist überglücklich, erfährt jedoch wenige Tage später, daß die Stiftung die 3000 Mark für Unterkunft und Verpflegung sowie die Flugkosten nicht übernehmen wird. Begründung: "... gegebenenfalls Kostenübernahme im Einzelfall ...", "... mit der Bitte um Geduld ...". Die Studentin finanziert sich und ihr Studium selbst, zu diesem Zeitpunkt durch eine 19-Stunden-Stelle an einem der Institute. Sie wird ihren Job aufgeben müssen, Urlaub für fast vier Monate gibt es nicht, nach einem Gespräch mit dem geschäftsführenden Direktor des Institutes ist das völlig klar und einleuchtend. Den Job wird jemand anderes übernehmen, sie hat Verständnis, gleichzeitig Zweifel, überlegt nächtelang, ob sie das wirklich riskieren kann, denkt immer wieder an Marc Aurel ("Der Weg ist das Ziel") und entscheidet sich für eine unsichere Zukunft. Sie wird nach Simbabwe gehen.

  Harare, 04. April `96
In Harare wird sie zusammen mit einem weiteren Teilnehmer des "Internships", so bezeichnet Radio Bridge Overseas das 13wöchige Projekt, von dem Leiter des Senders persönlich am Flughafen abgeholt. Herr S. war Redakteur bei Radio Bremen, Korrespondent in verschiedensten Ländern, nicht nur Afrikas, und ist seit nun mehr elfeinhalb Jahren in Simbabwe. Er lädt das Gepäck in den Landrover, denn ein solches Auto braucht man hier, sagt er.

Simbabwe, 10. April `96
Die Studentin hat nun genauere Vorstellungen über das, was auf sie zukommen wird. Sie wird in Zusammenarbeit mit vier simbabwischen Journalisten und den drei anderen Teilnehmern aus Deutschland fünf- bis sechsminütige Feature erstellen. Verschiedenste Themenbereiche sollen aus Sicht der hier Lebenden dargestellt werden. Begonnen wird mit der Recherche in der Hauptstadt Harare, später in ländlichen Gebieten. Shona und Ndebele sind die am häufigsten gesprochenen Stammessprachen. Übersetzt werden diese von den afrikanischen Kollegen ins Englische, von den Studenten des Erste-Welt-Staates dann in die deutsche Sprache. So können die Stories auch in Deutschland gesendet und verstanden werden - hoffentlich! Autoren der Geschichten werden primär die einheimischen Kollegen sein, denn das ist der idealistische Gedanke von Radio Bridge Overseas: Einwohner des jeweiligen Landes berichten zu lassen und nicht Korrespondenten, "Außenstehende", wie Herr S. sagt, "die für ein paar Tage in Dritt-Welt-Länder kommen, um dann fast immer Stereotypen zu festigen. Das kann nicht der Sinn von Berichterstattung sein".
Die Studentin ist begeistert von der Idee und gleichzeitig überfordert. Sie hat alles Mögliche erwartet: eine einfache Unterkunft, Affenbrotbäume, einfachste Tongeräte, afrikanisches Essen ...! Statt dessen wohnt sie in einer der reichsten "Weißenviertel" in Harare. In einem großzügigen Haus mit vielen schwarzen Angestellten, die den Fußboden mit einer Bürste schrubben, die Wäsche der Studenten mit der Hand waschen und einem Koch, der sich die Wünsche der weißen Teilnehmer zu Herzen nimmt und gern europäisch kocht. Der ergebenst mit einem "Yes, Mam, it‘s very possible" auf jede Bitte reagiert und nach Servieren der Mahlzeiten sofort wieder in "seiner" Küche verschwindet. Afrika? Tausend Fragen, wenig Antworten. Die Studentin fühlt sich einsam in ihrem so schön eingerichteten Einzelzimmer mit Moskitonetz über dem Bett und Blick über die Hügel des Greystone-Parks, der reichen Gegend von Harare.

  Harare, Mai `96
Die Studentin ist glücklich in Simbabwe. Der Abstand zu ihrem Zuhause wird immer größer. Sie hat Schwierigkeiten, sich ihren Freunden in Deutschland mitzuteilen, weiß aber um verbale Grenzen bei der Beschreibung fremder Kulturen und resigniert in gewissem Maße fast freudig, was ihr Mitteilungsbedürfnis an die Leute zu Hause betrifft. Sie hat sich daran gewöhnt, den simbabwischen Journalisten das Privileg einzuräumen, Autoren der Geschichten zu sein, die nach Deutschland verkauft werden sollen.

Sie hat sich daran gewöhnt, weiß zu sein in einem Land, in dem nur zwei Prozent der Bevölkerung weiß sind. Es ist normal geworden, in einen Bus voller Schwarzer zu steigen und in die Stadt zu fahren. Sie hat sich auch daran gewöhnt, aufgrund der Hautfarbe gewisse Vorzüge zu genießen: auf Botschafter zu treffen, Leute der Friedrich-Ebert- und der Adenauer-Stiftung zu begrüßen, sich in Gesellschaftsschichten zu bewegen, die das Privileg "Weiß" nun einmal mit sich bringen in einem Land im südlichen Afrika. Manchmal wundert sie sich darüber, daß sie ungeduldig wird, wenn ihr nach zweimaligem Hupen der "schwarze Pförtner" immer noch nicht das Tor zur Hofeinfahrt öffnet und sie aussteigen muß, um es selbst aufzumachen. An den Frauen, die den Holzfußboden mit den Bürsten schrubben, geht sie inzwischen wie selbstverständlich vorbei, um Jotham, dem Koch, mitzuteilen, daß sie nicht am Dinner teilnehmen wird, da sie anderweitig eingeladen ist. Sie fragt ihn, ob das Probleme bereitet. Seine Antwort ist fast immer dieselbe: "Yes, Mam, it‘s very possible". Sie genießt ihre Arbeit, die zum Teil mehr als zwölf Stunden am Tag in Anspruch nimmt, denn sie geht gänzlich darin auf, einer fremden Kultur die Möglichkeit der Selbstdarstellung zu lassen. Ihren deutschen Kollegen geht es ebenso; das weiß sie, wenn sie sich abends auf der Dachterrasse zum Sundowner verabredet haben und über das Internship reden. In wenigen Tagen werden sie für eine Woche nach Sambia fahren, um Entwicklungsprojekte zu besuchen. Auch den sambischen Kollegen wird die Möglichkeit gegeben, über ihr Land zu berichten ...

  Sambia, Juni `96
Die Studentin und ihre Kollegen dringen in immer abgelegenere Gegenden Afrikas vor. Sie sind fasziniert von der Fremdheit des Kontinents und lernen unendlich viel über das Leben der Menschen in den Dörfern. Das glauben sie.

Schwierig bleibt der Kontrast, am Abend in eine Unterkunft mit Swimming-Pool und Bar zurückzukehren, in der Nacht den Ventilator unter der Decke zu betrachten, der die Moskitos vertreibt, wo doch die Bewohner Sambias immer noch an Malaria sterben. Und das, weil es in den Dörfern nicht nur keinen Strom für Ventilatoren gibt, sondern auch nicht genug ausreichende Medikamente zur Verfügung stehen. Das erinnert die Studentin nachts daran, aus einer Flasche Mineralwasser, die neben dem Bett steht, einen Schluck zu nehmen, um die Tablette Delta Prim, das landläufige Mittel zur Malaria-Prophylaxe, einzunehmen. Für einen kurzen Augenblick sieht sie die Frauen und Kinder mit den Eimern auf dem Kopf, wie sie für ihre Familien das Wasser nach Hause bringen, jeden Tag aufs Neue - ein Weg von etwa zwei Stunden bis zum nächsten Brunnen.

Juli '96
Die Studentin trifft Vorbereitungen für die Heimkehr nach Deutschland. Sie weiß, daß sie Probleme haben wird, sich in ihr Leben dort einzufinden, obwohl es ein Leben ist, das sie seit fast 29 Jahren führt. Ihre mitgebrachte Armbanduhr liegt auf dem Tisch neben dem Bett. Sie hat sie seit einigen Wochen nicht mehr getragen, denn die Afrikaner sagen: "Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit". Sie hat sich die Gelassenheit der hier lebenden Bevölkerung zu Herzen genommen, sich vorgenommen, gerade dies zu verinnerlichen. Gleichzeitig weiß sie, daß das schwierig werden wird, denn sie gehört zu den Leuten, die ungeduldig und entrüstet an der Bushaltestelle stehen und sich fragen, wie es sein kann, daß der Bus sein angestrebtes Ziel mit sieben Minuten Verspätung erreicht.

Münster, August `96
Die Studentin ist zurück in einer Stadt, die sie ihr Zuhause nennt. Sie fragt sich in der ersten Zeit häufig, warum diesen Ort, wo sie doch innerhalb so kurzer Zeit woanders, auf der südlichen Halbkugel zu Hause war und das, glaubt sie, war sie wirklich. Die Simbabwer haben in ihrer Sprache kein Wort für "Zuhause"; Zuhause, sagen sie, ist dort, wo man sich geborgen fühlt, wo man Freunde hat, Menschen, die verstehen was man meint...
Jeden Morgen liegt vor ihr auf dem Küchentisch die Armbanduhr. Jeden Morgen entscheidet sie sich aufs Neue, sie liegen zu lassen. Und dennoch weiß sie, daß es "eine Sache der Zeit sein wird"; daß sie sie schon bald wieder an ihrem Arm tragen wird, denn sie ist Realistin und Realisten finden sich in die Gegebenheiten des Alltags ein, denkt sie.
Sie wird wieder nach Afrika zurückkehren und das Angebot eines Senders in Johannesburg in Anspruch nehmen, um einen Teil dazu beizutragen, den Menschen auch in Südafrika die Möglichkeit zu geben, über ihr Land zu berichten. Wenn sie aufgrund ihrer Erfahrungen Zweifel hat, ob sich ein solches Vorhaben verwirklichen läßt, sieht sie für den Bruchteil einer Sekunde einen schwarzen Koch mit blütenweißer Kleidung in der Küche verschwinden. Kurz bevor er die Tür hinter sich schließt, hört sie noch sein "Yes, Mam, it's very possible ..."

 
 
  Im August 2000 kommt es in Deutschland zu einer erfreulichen, aber vom Initiator gewiss unbeabsichtigten "Spätfolge" des Nord-Süd-Brückenschlages in Afrika. Bea Schallenberg und Jörg Kruse haben sich als Praktikanten bei Radio Bridge Overseas in Harare kennen- und lieben gelernt. Sie heiraten und laden als "Kuppler" den RBO-Initiator ein, der sich zur Präsentation von RBO’s "Global Village Voices" bei der Weltausstellung EXPO 2000 nach längerer Zeit `mal wieder in der norddeutschen Tiefebene aufhielt, wo die beiden ihm dann auch bald mit ihrem Nachwuchs einen Besuch abstatten.

Die Hochzeit fand in einer kleinen Waldgaststätte statt, nicht fern jener Stelle im Teutoburger Wald, an der zufolge ungenauer Berichterstattung aus den römischen Kolonialkriegen im Jahr 9 n. Chr. ein gewisser Hermann, auch Arminius genannt, als Fürst der Cherusker die Römer schlug und damit die Voraussetzungen für ein freies Germanien schuf. (Zehn Jahre später wurde er von Verwandten verraten und ermordet.) Wir sind uns kaum bewusst, dass unsere heutige Lebensweise ganz wesentlich von früher Kolonialisierung beeinflusst ist. "Asterix und Obelix" lassen grüssen! ("Die spinnen, die Römer!")

Die jungen deutschen Journalistik-Studenten, die zu uns nach Simbabwe kamen, waren bei ersten Ausflügen mit ihren afrikanischen Kollegen und Kolleginnen in deren Welt erst einmal überwältigt von der Exotik althergebrachter Organisation des täglichen Lebens. Das drückte sich oft in der Verwendung sprachlicher Muster aus, die daheim bei der Vorstellung von Afrika entstanden waren. Zur zweiten Gruppe unserer "Interns" gehörte die rheinische Frohnatur Olaf Krems.

http://www.heinz-kuehn-stiftung.de/pdf/jahrb11/jahrb11_4.pdf

Als Stipendiat der Heinz-Kühn-Stiftung

Teilnehmer an einem Workshop von Radio Bridge Overseas
in Zimbabwe vom 19.9. bis zum 20.12.1996

Olaf Krems  

Momentaufnahmen

...Es ist Mitte Oktober und wir erreichen mit dem Landcruiser nach einer langen Fahrt in den staubig heißen Norden Zimbabwes Guruve, ein kleines Kaff im Zambezi-Valley, nicht weit von der Grenze zu Moçambique und Zambia. Wir, das sind neben „Cutmaster“ Schmidt mein deutscher Kollege Holger Bock, Hörfunkjournalist in Hannover und Göttingen, die zimbabwischen Workshop-Teilnehmer Geshom Nyathi, Freier Journalist und Korrespondent für ZBC, einige inländische Zeitungen und den Sender Voice of America-African Service und Phinius Mushoriwa, Mitarbeiter einer Public Relations-Agentur und Leiter von Journalistik-Seminaren an der Uni Harare und der kurzzeitig unter Vertrag genommene zambischeJournalist und Entwicklungsexperte Sam Ngoma...
Ausgerüstet mit Aufnahmegeräten und einem Empfehlungsschreiben der Campfire Association wollen wir ein in der Nähe liegendes Dorf, Masoka, besuchen, das in Zusammenarbeit mit der Campfire Association, der Distriktverwaltung und einer privaten Safari-Agentur Wildlife-Management betreibt. Wir sammeln Material für die ART-Sendereihe „Living Ideas“. Mit dieser Aufgabe ist vor allem Sam betraut worden, während Holger, Geshom, Phinius und ich nach Geschichten suchen sollen, die für ein internationales Publikum interessant sein könnten.
Wir machen vor einer Zeile schäbiger kleiner Häuser halt. Guruve, das in einem Gebiet liegt, dessen jetzt in der heißen ausgehenden Trockenzeit öde und dornbuschbewachsene Landschaft nahe an das herankommt, was Hemingway einmal als „eine Million Meilen beschissenes Afrika“ beschrieben hatte, ist für die Menschen hier Dreh- und Angelpunkt für Geschäfte, Verwaltung und Reisen in andere Teile des Landes. Aus Bottlestores plärrt ohrenbetäubende Marimba-Musik auf die Straße. Menschen aus Guruve und den umliegenden Dörfern machen hier ihre Besorgungen, handeln mit selbstgezogenem Gemüse, Haushaltswaren, selbstgeflochtenen Körben und Secondhand-Kleidung. Hier und da stehen kleine Gruppen von Männern vor den Stores, sie treffen Freunde und gönnen sich in der Hitze des Tages ein Bier. Röhrend kündigt sich ein Überlandbus der staatlichen ZUPCO (Zimbabwe United Passenger Company) schon von weitem an und bahnt sich seinen Weg durch den Ortskern. An der nächsten Ecke spuckt er Fahrgäste aus und nimmt neue auf. Hastig werden Gepäckstücke über die Reling auf die Ladefläche des Busdaches geworfen und festgezurrt.
Wir wollen hier in Guruve jemanden finden, der uns nach Masoka bringen soll. Nach kurzer Zeit treffen wir einen jungen Mann, der sich dazu bereit erklärt. Auf der Suche nach jemandem aus dem Gemeindevorstand, dem wir unser Anliegen hochoffiziell vortragen wollen, stoßen wir auf einen alten Kauz, der mit seinem angeschmuddelten rosa Sommeranzug, der wild gemusterten Krawatte, einem weißen Tropenhelm und einer Kette, die ein vergoldetes Blechschild vor seiner Brust hält, wie die Sparversion eines Karnevalsprinzen aussieht. Seine Tollität wird von dem uns begleitenden jungen Mann respektvoll begrüßt. Auch unsere zimbabwischen Kollegen machen eine leichte Verbeugung und klatschen dabei ihre Hände dezent zusammen. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde wissen auch wir, daß es sich bei dem Karnevalsprinzen um einen Chief, also einen traditionellen Häuptling handelt, und jetzt, da uns der freundlich dreinblickende Alte gegenüber steht, können wir die Amtsbezeichnung auch auf der die Helmfront schmückenden Metallplakette lesen. Der Chief ist in die Stadt gekommen, um an einem Verwaltungstreffen im District Council House teilzunehmen.
Sahen mein deutscher Kollege und ich in dem Chief auf den ersten Blick ein eher belustigendes, jedoch nicht unbedingt weiter zu beachtendes Phänomen einer uns nicht näher bekannten Kultur und Gesellschaft, war er für unsere zimbabwischen Kollegen zwar von vornherein als Chief zu erkennen, aber eine, wenn auch respektierte, alltägliche Erscheinung. Erst Cutmaster Schmidt hilft uns über den kollektiven blackout hinweg. In der Tat, dies ist eine „spannende Geschichte“ (O-Ton Schmidt), denn wer weiß schon in Europa, was sich hinter der Berufsbezeichnung Häuptling verbirgt und wie man(n) überhaupt einer wird. Wir erbitten ein Interview und der Chief ist einverstanden.
„Ich heiße Jefrey Chisunga und bin zuständig für ein weites Gebiet“, stellt er sich vor. „Ich wurde 1924 geboren und bin vor dreißig Jahren zum Häuptling des Lower Guruve Districts ernannt worden. Mein Amtsbereich erstreckt sich von Kazangarare über Masoka bis hin nach Chapoto an der Grenze zu Moçambique und entlang des Ufers des Zambezi.“
Obwohl Zimbabwe nach seiner Unabhängigkeit im Jahre 1980 die parlamentarische Demokratie als Regierungsform festschrieb und die Mitglieder der insgesamt 55 Distriktsversammlungen des Landes von den Bewohnern der jeweiligen Gebiete gewählt werden, sitzen auch dieHäuptlinge, ohne direktes Wählermandat und entsprechend ihrer traditionellen Herrschaftsansprüche, in diesen kommunalen District Councils. Auch wenn in einem solchen Rat die Stimme eines von der Zentralregierung abgestellten und in Verwaltungsangelegenheiten und im Rechtswesen geschulten Beamten maßgeblich ist, spielen die Häuptlinge immer noch eine große Rolle. Die Regierung ist auf die Gunst der Chiefs angewiesen, damit diese sich mit ihrem verbliebenen Einfluß zum Beispiel für staatliche Entwicklungsprojekte in den ländlichen Gebieten einsetzen. Darüber hinaus sind die Häuptlinge für die Verhandlung von Rechtsstreitigkeiten in den Dörfern ihrer Distrikte zuständig und wachen darüber, daß die Menschen die seit altersher geltenden Gesetze des Zusammenlebens beachten.
„Meistens habe ich über private Streitigkeiten zu richten“, erzählt Chief Chisunga, „Auseinandersetzungen in der Familie, Schlägereien und vor allem über Beschwerden, wenn Mädchen dieUnschuld genommen wurde, ohne daß dahinter eine Heiratsabsicht steckte. Meine Boten rufen die Betroffenen zur Verhandlung. Der wohnen neben mir zwei Beisitzer, ein Sekretär, der alle wichtigen Punkte aufschreibt, und weitere Leute bei, die im gegebenen Fall weiterhelfen können. Doch ich habe als Häuptling das letzte Wort, ich spreche das Urteil. Zuerst wird dem Kläger die Gelegenheit gegeben, dem Gericht mitzuteilen, welche Art der Wiedergutmachung er von dem Beklagten erwartet. Daraufhin beraten wir, ob der geforderte Preis im Verhältnis zur Schwere des Vergehens zu hoch ist - ist er es, schränke ich ihn ein. Für den Fall, daß der Beklagte kein Geld hat, wird von ihm gefordert, eine Ziege oder eine Kuh zu geben, oder er wird dazu verpflichtet, den geforderten Betrag später zu zahlen. Es gibt jedoch auch Fälle wie zum Beispiel schwere Körperverletzung, Diebstahl oder Vergewaltigung, die nicht in meine Zuständigkeit fallen. Die verweise ich sofort an die nächste Polizeistation, denn bei ihnen handelt es sich um Kriminalfälle, für die Strafrichter zuständig sind. Manchmal bitten mich allerdings Leute, die darin verstrickt sind, die Angelegenheit zu regeln, weil sie Angst vor der Polizei haben. Wenn ich sehe, daß es sich um ein eher geringfügiges Delikt handelt, übernehme ich die Sache, verwarne die betreffenden Parteien und beende die Angelegenheit.“
Die Autorität der Häuptlinge stützt sich hier weniger auf ihre juristischen Fachkenntnisse als vielmehr auf den immer noch fest verankerten spirituellen Glauben der Bevölkerung. Welche Bedeutung der hat, wird deutlich, wenn Chief Chisunga die Umstände einer traditionellen Amtseinführung schildert.
„Wenn ein Häuptling gestorben ist, versammeln sich die Ältesten und halten Rat. Die Bewohner der Region beginnen damit, ein traditionelles Bier zu brauen und bereiten eine große Zeremonie vor. Während dieserZeremonie wird ein spirituelles Medium, das Mhondoro befragt. Durch dieses Medium bestimmen die Geister der Ahnen jene Familie, aus der der neue Häuptling zu kommen hat. Für gewöhnlich ist es der älteste Sohn dieser Familie, der dazu berufen wird, das Ndoro, das Symbol der Häuptlingswürde zu tragen. Die offizielle Anerkennung durch den Staat erfolgt durch hohe Beamte, die ihn mit einem Helm und einer vor der Brust an einer Kette zu tragenden Metallplakette ausstatten.“

Die Schilderungen des Chiefs lieferten uns später bei der Produktion des Hörfunkbeitrages eine Menge Diskussionsstoff, vor allem im Hinblick auf das widersprüchlicheVerhältnis zwischen Tradition und Moderne im heutigen Zimbabwe, stellvertretend für viele andere afrikanische Länder.

 

Denn ist Chief Chisunga, der traditionelle Häuptling, in seiner mit Stolz getragenen Kostümierung nicht selbst ein Spiegelbild der sich auflösenden Traditionen? Ein neu ins Amt eingeführter Häuptling erhält als Symbole seiner Würde zwei unterschiedliche Insignien. Da ist einmal das überlieferte „Ndoro“, der spiralförmige Boden einer Muschel, die vor Urzeiten durch arabische Händler von der ostafrikanischen Küste ins Landesinnere gebracht wurde und als Kostbarkeit ausschließlich den Häuptlingen zustand. Und da ist der koloniale weiße Tropenhelm mit einem Aluminiumabzeichen auf der Front, zusammen mit der um den Hals zu tragenden Kette, die ein graviertes Metallschild hält. Diese von den ehemaligen weißen Kolonialherren eingeführten Symbole der Macht erinnern bis heute daran, daß die Chiefs in früheren Zeiten von der Kolonialverwaltung in ihr Amt eingesetzt und zu Erfüllungsgehilfen weißer Interessen gemacht wurden. Auch wenn dieses Kapitel längst abgeschlossen ist, so hält der Prozeß der sich auflösendenTraditionen an, denn heute stehen die Häuptlinge auf der Gehaltsliste der Regierung und setzen sich für die Entwicklung der ländlichen Gebiete nachVorgaben des Staates ein. Mit dieser Entwicklung aber halten auch moderne Vorstellungen und moderne Rechtsprechung Einzug in diese Regionen, geraten in Konflikt mit traditionellen Gepflogenheiten und untergraben damit mehr und mehr den Einfluß der Häuptlinge, die sich der Aufrechterhaltung der Traditionen verpflichtet fühlen. Diese Überlegungen waren für uns alle letztendlich viel interessanter und mitteilenswerter als die Tatsache, daß der Chief 13 Frauen und 35 Kinder hat und damit ein reicher und besonders angesehener Mann sein muß. Wir machten nicht nur hier die gemeinsame Erfahrung, daß hinter dem nur vordergündig Auffälligen wie auch hinter dem Alltäglichen eine eigene Geschichte, eine andere Wirklichkeit stecken kann. ...

 

Das Haus an der Brücke

Eine Brücke für unsere Tochter

Die Brücke zum Worldwide Web

Die Brücke zum eigenen Leben

Die Brücke in die Vergangenheit

Die Brücke als Kreuzweg

Die Multimedia-Brücke

Die Brücken-Sperre bei Radio Bremen

Die Heimat-Brücke

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