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Eine
Brücke für unsere Tochter |
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Sechsundzwanzig Jahre ist es her, daß ich
Erinnerungen an die erste große Reise
aufschrieb, bei der unsere damals sechs Jahre
alte Tochter dabei war - ich blättere in dem
Skript, das den Aufbruch und die gemeinsamen
Erlebnisse auf der ersten Station dieser
Annäherung an die Fremde durch ein kleines
Mädchen festhält. Und ich bemerke, diese
Erfahrung war das Schlüsselerlebnis für meine
inzwischen gefestigte Überzeugung, daß der
Samen für Offenheit und Neugier in früher
Kindheit gesät wird.
Die Entscheidung, eine neue Herausforderung
anzunehmen und nach Afrika zu gehen, war durch
unsere Tochter getroffen worden. Da war sie
fünfzehn Jahre alt.
"Laßt uns etwas Neues erleben," sagte
sie, als ich vor dem Streß in einem fremden
Schulsystem warnte.
Sie verließ ihren Freundeskreis in
Norddeutschland, so tat es meine Frau!
Was vor sechsundzwanzig Jahren begann, hat meiner
Frau und mir die Gewißheit gebracht, daß unsere
Tochter - nun längst auf eigenen Beinen - es
noch besser schaffen wird als wir beide,
grenzenlos zu denken, zu arbeiten, sich anderen
Menschen zuzuwenden!
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Bei
der ersten intensiven Erfahrung mit einem
Menschen aus Afrika war Conny noch
unterwegs auf diese Welt. In unserem Haus
in der Thulesisus-Strasse in Bremen lebte
für einige Zeit mit uns zusammen ein
Kollege aus Kenia, der sich bei Radio
Bremen als Praktikant in deutsche
Lebenswirklichkeit einzupassen versuchte
und dabei scheiterte. |
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Joseph Mulobi aus Kenia war als
Trauzeuge dabei, als Elsa und ich in der Bremer
Martin-Luther-Kirche heirateten. Als Conny auf
die Welt kam, da war Joseph schon wieder aus
unserem Leben verschwunden. Seine Geschichte habe
ich im Kapitel eines anderen Buches erzählt, zu
dem es hier einen Link ins Internet gibt.
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http://www.radiobridge.net/Mulobi.pdf |
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Mit sechs Jahren machte unsere Tochter
dann mit afrikanischen Menschen ihre ersten
eigenen Erfahrungen. Ich schrieb sie damals auf
für Kinder, also aus der Sicht eines
sechsjährigen Mädchens - und ich merke heute,
dass das Nachdenken über diese Erfahrungen den
Grundstein legte für Geschichten über all
unsere späteren Versuche, Brücken zu bauen.
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DIE
DIEBE VON PARIS - 1976
Wir haben ein französisches Auto - grün, und an
vielen Stellen ist es schon ein paar mal
überlackiert. Meine Eltern nannten es
"Florence". Sie sprachen es aus wie
"Florangs", weil das ein französischer
Mädchenname ist. Ich heiße Constanze. Als ich
noch kleiner war, riefen mich meine Eltern
"Schmidti", später "Nanny".
Zu der Zeit als wir unsere große Reise machten,
bekam ich den Namen, mit dem mich noch heute alle
rufen: Conny. Das war, weil unterwegs viele Leute
meinen Namen nicht richtig aussprechen konnten.
So wurde aus Constanze Conny - das gefiel mir.
Die große Reise haben wir nicht mit
"Florangs" gemacht - da hätten wir ja
ein paar Jahre gebraucht, und über's Wasser
wären wir mit dem Auto sowieso nicht gekommen.
Also für unsere Reise nach Südostasien war
"Florangs" nicht wichtig. Da stand sie
die ganze Zeit zu Hause in der Garage. Aber mit
unserem Plan, über die Reise ein Buch zu
schreiben, da bekam "Florangs" doch zu
tun.
Nach der langen Reise machten wir eine kurze -
bloß bis Paris. Das ist die Hauptstadt von
Frankreich. Und dort wurde unser französisches
Auto von Dieben aufgebrochen. Es waren keine
französischen Autoknacker, aber das erfuhren wir
erst später. Sie hatten jedenfalls alles
geklaut: die Koffer, die Taschen - und mir ist
gleich eingefallen, daß wir alle Dias von
unserer großen Reise, alle Tonbänder, alle
Tagebücher eingepackt hatten, denn Klaus wollte
nach unseren gemeinsamen Ferien in Paris nicht
bloß Französisch lernen, sondern auch anfangen,
an dem Buch zu schreiben. Ich hab' vielleicht
geheult - und jetzt erzählt besser Klaus weiter. |
Das war ein
Abenteuer, auf das wir gern verzichtet
hätten. Es war unser erster Tag in Paris
und wir ließen den Wagen mit all dem
Gepäck wohlverschlossen in einer
Seitenstraße unterhalb der Kirche
"Sacre Coeur". Das ist ein
Wahrzeichen von Paris, und das heißt
"Heiliges Herz". Was dann
passierte, war recht herzlos und ziemlich
unheilig. Obwohl sich die Geschichte nach
unserer großen Reise ereignete, gehört
sie an den Anfang dieser Erzählung. Denn
sie zeigt wie unter einem
Vergrößerungsglas den Zusammenhang all
unserer Erlebnisse.
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Conny hat erzählt, daß wir
herausfanden: Es waren nicht französische Diebe,
die in Paris unser Auto aufgebrochen hatten. Wir
meldeten den Diebstahl natürlich gleich der
Polizei. Aber die Flics - so heißen in
Frankreich die Polizisten - machten uns wenig
Hoffnung. Bekannte bei "afp" - das ist
eine große französische Nachrichtenagentur -
halfen mir, am nächsten Tag Suchmeldungen im
Rundfunk und bei der Zeitung unterzubringen. Ich
versprach darin eine Belohnung für die Rückgabe
von Dias, Tonbändern und Tagebüchern. Und dann
kam Elsa auf die Idee, wir sollten den Tatort
noch einmal besichtigen - zur gleichen Tageszeit.
Vielleicht - so spekulierte sie - ist die Bande
dort wieder am Werk. Ganz schön verrückt diese
Idee, in einer Stadt von ein paar Millionen
Einwohnern - ich weiß - aber es kam noch viel
verrückter!
Wir waren gerade um die Ecke von "Sacre
Coeur" gebogen, da entdeckte Elsa ihren
Rock, den wir zusammen auf der indonesischen
Insel Bali gekauft hatten. Am Abend zuvor war er
mit all unserem Gepäck geklaut worden - jetzt
trug ihn eine fremde junge Frau. Und nicht bloß
Elsas Rock hatte sie an! Aber sie soll das selber
erzählen.
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Es
wollte mir keiner glauben, daß ich
meinen Rock wiedererkannt hatte - es
schien ja wirklich verrückt! Aber sie
trug auch meinen Pulli, und darunter
wurde sogar eines meiner bunten Hemden
sichtbar. Ich sprach also die Frau an.
Sie war mit ihrem Mann und zwei kleinen
Kindern unterwegs. Mit einem Gemisch aus
französischen, englischen und spanischen
Sprachbrocken konnten wir uns
verständigen. Sie war aus Algerien, ihr
Mann aus Marokko - das ist in Nordafrika.
Die Frau verstand sofort, was wir
wollten: Ja, sie hätten die Sachen am
Abend auf einem Markt gekauft - kurz nach
dem Einbruch in unser Auto also. Ja, sie
wollten uns helfen, uns zeigen, wo genau
das war - aber alles bitte ohne Polizei! |
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Wir erfuhren, daß sie schon viele Jahre
in Paris lebten, und noch immer hatten sie Angst
vor der Ausländerpolizei. Mit dem Vertrauen
zwischen uns war das dann auch so eine Sache:
Hauen die bei der nächsten Gelegenheit ab? Weil
sie vielleicht doch etwas mit dem Diebstahl zu
tun hatten? - dachten wir. Rufen die doch bei der
nächsten Gelegenheit die Polizei? Weil das
bekanntlich die Art ist, wie man mit
"lichtscheuem Gesindel" verkehrt? -
dachten wohl die beiden aus Nordafrika.
Der Marokkaner brachte uns in sein Stadtviertel
ganz nahe bei "Sacre Coeur" - ein
Viertel mitten in Paris. Aber es hatte zu unserer
Verblüffung überhaupt nichts zu tun mit
Frankreich. Es sah anders aus, es lärmte anders
und es roch anders! Hier gab es nicht einmal mehr
Franzosen.
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UNTER DEM VERGRÖSSERUNGSGLAS:
WIE KOMMT EIN NORDAFRIKANISCHES STADTVIERTEL NACH
PARIS?
WIE KOMMEN DIEBSTAHL UND ANGST IN DIESES
STADTVIERTEL?
Da muß man etwas erzählen von der Aufteilung
der Welt: Irgendwann in der Mitte des
Fünfzehnten Jahrhunderts zerschlug eines Morgens
ein Mann namens Christoph Kolumbus ein Ei. Es war
Gott sei Dank hart gekocht, und er bekleckerte
sich nicht die Finger.
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Niemand
hatte ihm glauben wollen, daß die Erde
rund ist und er somit nach Westen segeln
könnte, um schließlich doch im Osten zu
landen.
"Eher könnte ein Ei auf der Spitze
stehen," sagten die Zweifler.
Da setzte Kolumbus sein Frühstücksei
hart auf den Tisch, die Spitze brach ein
- das Ei stand! Heute ist bekannt, daß
Christoph Kolumbus nicht der erste war,
der rund um die Welt wollte, über's Meer
segelte und Amerika entdeckte. Die
Wikinger haben es vermutlich von
Nordeuropa aus vor ihm geschafft. Aber
mit seiner Reise begann die gewaltsame
Aufteilung der Welt.
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Nach Kolumbus zerschlugen sogenannte
"Entdecker" nicht mehr bloß Eier. Man
nannte sie nun "Eroberer" - und das
kommt der Sache schon näher. Sie eroberten im
Auftrag von Königen, Kirchen und Handelshäusern
fremdes Land und fremde Völker. Das taten sie in
Amerika, in Afrika und in Asien, denn in Europa
war die Welt schon aufgeteilt. Sie brachten Gold
und Gewürze und - Sklaven nach Hause. Später
wurde die Warenliste viel umfangreicher. Die
Lieferungen hießen dann
"Kolonialwaren". Die beraubten Länder
waren die "Kolonien". Die Länder, die
die Macht hatten, sie auszurauben, das waren die
"Kolonialmächte".
Das Ei des Kolumbus war ziemlich faul!
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Bald bekämpften
sich die Kolonialmächte untereinander.
Sie nahmen sich gegenseitig die Kolonien
weg. Ein paar der Eroberer wollten mit
den Auftraggebern zu Hause nicht mehr
teilen - sie machten sich mit ihren
Kolonien selbständig.
Schließlich gab es zwei große Kriege.
Weil fast alle Länder der Erde davon
betroffen waren, nannte man sie
Weltkriege. Deutschland hatte beide
Kriege angefangen. Weil seine Machthaber
im weltweiten Aufteilungsgeschäft zu
spät gestartet waren und sozusagen kein
Bein mehr auf den Boden kriegen konnten,
versuchten sie es mit Gewalt gegenüber
den Konkurrenten. Deutschland verlor
beide Kriege, und die Konkurrenten nahmen
ihm ab, was es an Kolonien in Afrika und
in Asien doch noch hatte zusammenklauben
können.
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Frankreich war selber schon lange Zeit
Kolonialmacht in Afrika und in Asien gewesen.
Jetzt wollte es - genau wie die übrigen
Kolonialmächte (z.B. England, Holland, Belgien,
Spanien, Portugal) Glanz und Macht seiner
Kolonialreiche wieder auferstehen lassen. Aber
die Welt war nach dem letzten großen Krieg nicht
mehr die alte!
Der Besitz von Menschen - die Sklaverei - war
schon vorher abgeschafft; nun wurde in der
Weltöffentlichkeit auch der Besitz von fremden
Ländern verurteilt. Einige der unterdrückten
Völker begannen den Kampf gegen die fremden
Mächte. Und sie warfen schließlich nicht nur
deren Soldaten hinaus, sondern auch gleich noch
alle Händler, Politiker, Generale, Priester und
Beamte, die mit den Fremden zusammengearbeitet
hatten. Solche Kämpfe dauern bis heute an.
Die Folge: In den Hauptstädten der ehemaligen
Kolonialmächte gab es plötzlich eine neue Sorte
von "Kolonien" - Stadtviertel mit
vielen Menschen aus den früheren Besitzungen -
Auswanderer und Flüchtlinge. Ein paar brachten
ihren Reichtum mit, den sie daheim unter dem
Schutz der Fremden hatten zusammenstehlen
können. Diese paar findet man in Paris und
anderswo außerhalb der neuen Kolonien. Sie leben
wie zu Hause, in großen Häusern mit prächtigen
Gärten - hinter hohen Mauern. Die Mehrheit kam
ohne Geld. Viele verließen ihre Heimat, weil
dort nach dem Abzug der Weißen oft nun ihre
eigenen Führer um die Macht kämpften. Andere
gingen, weil sie keine Arbeit mehr fanden.
Früher waren sie voller Hoffnung vom Land in die
Stadt gezogen - und wurden statt reicher immer
ärmer. Jetzt wollten sie als
"Gastarbeiter" ihr Glück machen im
Land der reichen Weißen, aber die hatten nicht
vor, den Farbigen im eigenen Land die Rechte
einzuräumen, die sie ihnen in den Kolonien
verwehrt hatten.
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So leben Afrikaner, Asiaten, Südamerikaner
zusammengedrängt in den Ausländervierteln der
europäischen Großstädte - oft ohne Arbeit,
immer in Angst vor der Polizei. Und so also kamen
Diebstahl und Angst in das Pariser
Afrikaner-Viertel.
Conny erinnert sich: Unser Marokkaner hieß
Achmed Ben Mohammed. Er war immer sehr
ängstlich. Oft mußte er die Brille abnehmen,
weil er so schwitzte und die Brillengläser
beschlugen. Seine Frau und die beiden Kinder habe
ich nicht wieder gesehen. Aber er hatte einen
netten Onkel. Dem gehört ein Restaurant, und da
saßen lauter nette Marokkaner. Auch ein paar
schwarze Afrikaner tranken und assen dort. Die
hatten schicke Anzüge und seidene Hemden an und
Schuhe mit sehr hohen Absätzen. Wir haben auch
viel gegessen. Ein paar Sachen waren neu, aber
sie haben mir gut geschmeckt: Fleisch, das an
kleinen Eisenspießen gebraten war, Salat und
eine arabische Speise, die heißt
"Kuskus". Eine saure Linsen-Suppe gab
es und hinterher Melonen. Und immerzu hörte ich
arabische Musik vom Plattenspieler. Einen alten
Marokkaner mit einer Baskenmütze, der uns
bediente, konnte ich gut verstehen. "Ich
habe im Krieg für die Deutschen gekämpft,"
sagte er, und er hat mir immer die besten Stücke
vom Essen ausgesucht.
Ich habe aus den bunten Pfeifenreinigern von
Klaus Blumen gebastelt und allen Gästen und dem
alten Ober und auch Achmed Ben Mohammed eine ins
Knopfloch gesteckt. Da waren wir hinterher wie
ein Club, und Klaus brauchte ja die
Pfeifenreiniger nicht mehr, denn mit unserem
Gepäck waren ja auch seine sieben besten Pfeifen
geklaut worden.
Achmed und Klaus sind zusammen zum Diebesmarkt
gegangen. Elsa und ich mußten in dem Restaurant
bleiben. Dort hatte uns Achmed als "Freunde
von früher vorgestellt".
"Das ist zur Tarnung," sagte er, denn
keiner sollte merken, daß wir nach Diebesgut
suchten. Später sind wir noch einmal alle
zusammen durch Achmeds Stadtviertel gelaufen, und
Klaus hat mir gezeigt, wo überall sie nach
unseren Sachen gesucht hatten.
Dort traf ich auch die netten schwarzen Afrikaner
aus unserem Restaurant wieder, die mit den
schicken Anzügen. Unsere weißen Gesichter
fielen in den schmalen, dunklen Straßen mehr auf
als ihre. Die einzigen Weißen, die ich noch sah,
das waren Polizisten. Sie standen an der
Straßenkreuzung, und unter den Armen geklemmt
hielten sie schwarze Gummiknüppel.
Achmed hat uns in einen dunklen Hauseingang
gezogen und geflüstert: "Paßt auf - gleich
passiert was!"
Und nach ein paar Minuten sind fünf Polizisten
in eine Straße hineingerannt. Aber da hatten
sich Wachposten versteckt. Achmed hatte die uns
vorher gezeigt. Die gaben ein Signal, und schon
waren die meisten Leute von der Straße
verschwunden. Die es nicht geschafft hatten,
bummelten wie Spaziergänger auf dem
Bürgersteig. Der war jetzt fast menschenleer.
Dabei hatte es da eben noch das große Gedrängel
gegeben. Wir hatten Mühe gehabt, durchzukommen.
Auf beiden Straßenseiten waren große Kartons
als Tische aufgebaut. Darauf flogen Spielkarten
hin und her oder Würfel oder Münzen unter drei
Bechern. Man mußte raten, unter welchem Becher
die Münze sich zum Schluß befand. Das konnte
kaum einer richtig raten. Ich auch nicht. Ich
glaube, der Mann hat geschummelt! Große
Geldscheinbündel wurden hinüber- und
herübergeschoben. "Das ist verbotenes
Glücksspiel," erklärte Achmed.
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Aber
als die Polizisten losrannten, genügte
ein Tritt gegen die Kartontische. Sie
fielen in sich zusammen, Karten und
Würfel verschwanden in Hosentaschen.
"Ab und zu wird mal einer
geschnappt, aber die Polizei hat hier
keine Chance," sagte Achmed.
Die Polizisten waren noch nicht am Ende
der Straße, da war vorn schon wieder das
alte Gewimmel. |
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Achmed fragte, ob wir schon etwas von
unseren Sachen wiedererkannt hätten. Und da
merkte ich, daß das hier der Diebesmarkt war.
Araber und Afrikaner boten den Vorübergehenden
an, was ihre Freunde kurz vorher oben bei der
Kirche "Sacre Coeur" aus
Touristen-Autos geklaut hatten: Mäntel, Anzüge,
Kleider, Taschen, Ferngläser, Fotoapparate,
Armbanduhren - ja sogar Tabakpfeifen. Aber Klaus
konnte von seinen keine entdecken. An diesem
Abend hatten wir kein Glück.
Klaus soll erzählen, wie es weiter ging.
Wir waren bei der Suche nach unserem Eigentum
erfolglos, aber der Abend hatte uns trotzdem
etwas gebracht: Die Freundschaft mit Achmed -
endlich war das Mißtrauen weg!
Ich hatte ihm von dem Plan erzählt, über unsere
Erlebnisse in Südostasien ein Buch zu schreiben.
Achmed Ben Mohammed versprach, uns zu helfen. Wir
wollten wenigstens die Reiseunterlagen und die
Farbdias wiederhaben. Für uns waren sie sehr
wertvoll - für die Diebe überhaupt nicht. Sie
würden nichts davon verkaufen können.
Vielleicht hatten sie das meiste schon
weggeworfen!
Ich mußte rasch mit ihnen Kontakt aufnehmen! Ich
mußte eintauchen in ihre Welt. Und dort - so
lernte ich in den folgenden Tagen - herrschen
Regeln und Gesetze, die nichts mehr zu tun haben
mit der Ordnung, die man mir als Kind beibrachte.
Es ist eine Ordnung, in der Diebstahl als Arbeit
gilt. Das Arbeitsergebnis ist die Beute. Ihr Wert
richtet sich vor allem nach dem Risiko, das der
Dieb zu tragen hatte, nach der Gefahr also,
geschnappt zu werden. Der Rest ist ein ganz
normales Geschäft. Der Preis der angebotenen
Ware - sprich Diebesgut - richtet sich danach,
wie stark die Nachfrage ist. Die Tatsache, daß
es sich in meinem Fall um einen Rückkauf handeln
würde, konnte mir eher schaden, denn großes
Interesse an einer Ware erhöht den Preis.
Die Leute, mit denen ich es zu tun bekam, waren
gute Schüler gewesen. Die Lehrherren waren vor
langer Zeit in das Land ihrer Vorväter gekommen.
Sie waren - wir erinnern uns - weiß!
Achmed brauchte vierundzwanzig Stunden, um
herauszufinden, welche Firma - sprich Bande -
für den Einbruch in unser Auto verantwortlich
war.
Am dritten Tag unserer Bekanntschaft wußte er
Bescheid, am vierten Tag hatte er über mehrere
Kontaktleute einen Preis ausgehandelt - es war
soviel, wie ich freiwillig in der Zeitung und im
Radio als Belohnung angeboten hatte. Dann kam der
Zeitpunkt des Austausches - Ware gegen Geld. Das
war der gefährlichste Moment - und er wurde
sorgfältig vorbereitet.
Die Angst tauchte wieder auf, auf beiden Seiten:
Die Angst der Diebe vor einer Polizeifalle -
vielleicht im letzten Augenblick doch noch von
mir gestellt; meine Angst vor einem Messerstich
oder einem Knüppelschlag, um mir auf einem
stillen Hinterhof ohne Gegenleistung auch noch
mein letztes Geld abzunehmen. Würden die Regeln
und die Gesetze dieser anderen Welt gelten? Haben
dort Absprachen einen Wert - Wort gegen Wort?
Ich gestehe, daß mich zu diesem Zeitpunkt mehr
als mein Eigentum die Antwort auf die Frage
interessierte, ob es wirklich so etwas gibt wie
"Ganovenehre".
Das Ende lief ab wie im Krimi: Achmed brachte
mich wenige Minuten vor Mitternacht in eine
Gasse, erhellt nur von einer einzigen Laterne.
"Keine Polizei?" flüsterte er noch
einmal voller Angst.
Mit genausoviel Angst im Genick schüttelte ich
den Kopf: "Keine Polizei! - Kein
Messer?"
"Nein, wir machen ein Geschäft!"
Und dann sah ich zum erstenmal meine
Geschäftspartner - weit oben als dunkle
Gestalten am Ende der Gasse, hinter einem
verschlossenen Eisengatter.
Achmed wies mich auf einen Platz unterhalb der
Straßenlaterne - gut sichtbar für alle. Dann
ging er - beide Hände vom Körper gestreckt -
langsam die Gasse hinauf.
Das kannte ich aus Kriminalfilmen: Er wollte
zeigen, daß er keine Waffe trug!
Elsa erinnert sich: Das einzige, was uns nach dem
Einbruch in unser Auto geblieben war, das war
unser Zelt. Wir haben schon oft unsere Ferien
damit verbracht.
Diesmal hatten wir nur wenige Tage in Paris
bleiben wollen, um dann irgendwo in Frankreich zu
zelten. Klaus wäre später zum
Französischlernen nach Paris zurückgekehrt, wo
er dann ja auch an dem Buch arbeiten wollte.
Jetzt hockten Conny und ich in diesem Zelt. Es
war der vierte Tag, und allmählich wurde uns
klar, daß wir nicht bloß unser Gepäck, sondern
auch die Buchpläne in den Wind schreiben
konnten.
Unser Zelt stand auf einem großen Campingplatz
im "Bois de Bologne", das ist ein
großer Wald am Rande von Paris.
Wir waren nervös und freuten uns über jede
Abwechslung. Neben uns hatte eine Gruppe
schwarzer Amerikaner zwei große Zelte
aufgeschlagen, eines für die Frauen, das zweite
für die Männer.
Unterwegs nach Afrika machten sie hier Station.
Auf einem ihrer Autos stand in großen Buchstaben
"ROOTS", das ist englisch und heißt
"WURZELN".
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Zwölf Jahre
lang war ein schwarzer Amerikaner der
Frage nachgegangen: "Woher kommt
meine Familie - wo liegen ihre
Wurzeln?" Und er fand ihre Wurzeln -
in Afrika! Von dort war vor langer Zeit
auf dem alten Handelsweg nach Nordamerika
zusammen mit tausend anderen Afrikanern
ein kleiner Junge verschleppt worden -
als Sklave. Der schwarze Amerikaner fand
das Dorf seines Vorfahren, und seitdem
reisen immer mehr Schwarze nach Afrika
auf der Suche nach ihren Wurzeln -
"ROOTS". In den USA, wo
Millionen Farbiger wegen ihrer Hautfarbe
oft noch immer als Menschen zweiter
Klasse gelten, sagen inzwischen viele mit
neuem Stolz: "Black is
beautiful!" - "Schwarz ist
schön!"
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Conny spielte Federball mit unseren schwarzen
Nachbarn. Dann kam der Abend, an dem Klaus den
Austausch versuchen wollte. Wir hatten
vereinbart, ich würde als letzten Ausweg doch
die Polizei alarmieren, falls er nicht bis zum
nächsten Morgen zurückkehrte.
Es war zwei Uhr morgens, als Scheinwerfer von
außen das Zelt anstrahlten. Dann wurde ein Motor
abgestellt, das Licht verlosch. Ich schnappte mir
die Taschenlampe und leuchtete hinaus. Da kam
Klaus, und er trug seinen gestohlenen Aktenkoffer
und zwei Tuchtaschen.
"Es ist alles da!"
Conny schlief zu fest - das Federballspiel mit
ihren schwarzen Freunden hatte sie ganz schön
angestrengt. Sie erfuhr die Nachricht erst am
nächsten Morgen.
Hurra! - Alle Dias, alle Tonbänder und die
Tagebücher - wir haben alles zurück!
Und eine Tasche war dabei, die gehörte gar nicht
uns. In einem Seitenfach steckte ein langer
Schraubenzieher - der liegt jetzt zu Hause als
Erinnerung an die Diebe von Paris.
Leider mußten wir nun unsere Ferien abbrechen,
das Geld war fast alle.
Bevor wir heimfuhren, kam Achmed noch einmal zu
uns auf den Zeltplatz. Er kam, als wir gerade
nachzählten, ob unser Geld noch für die
Heimfahrt reichen würde. Da hat er heiße
Würstchen für uns gekauft und mir zum Abschied
noch eine große Münze geschenkt. Und Elsa bekam
von ihm sogar alle Sachen zurück, die seine Frau
auf dem Diebesmarkt erworben hatte.
Achmed sagte: "Schreibt das alles auf!"
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CALA
RATJADA - MALLORCA
Dezember 1977 |
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Da es mit dem Bücherschreiben in Paris
nicht geklappt hat, versuche ich es in meinen
nächsten Ferien - auf der spanischen Insel
Mallorca.
Ich kam in einer Jahreszeit, da gibt es hier kaum
Urlauber - allerdings auch weniger Sonne. Auf der
Veranda eines kleinen Lokales am Hafen rieche ich
frischen Fisch. Nach einer Nacht voller Arbeit
auf See sind die Fischkutter hereingekommen. Die
gefangenen Fische sind ausgeladen. Händler haben
sie weggeschafft. Jetzt könnten die Männer von
den verschiedenen Kutterbesatzungen nach Hause
gehen - müde genug wird jeder sein. Aber da
steigen neue Düfte zu mir herauf.
Auf jedem Kutter ist in kleinen
Küchenverschlägen ein Frühstück vorbereitet
worden - eine einfache "Paëlla" dort
drüben - das ist Reis mit Fisch, Krabben und
Muscheln, gerösteter Fisch vom eigenen Fang hier
vorn, dazu frisches Brot, das die Händler vom
Bäcker mitgebracht haben. Dort roter Wein aus
dem gläsernen "Puron". Er spritzt im
Bogen in den weitgeöffneten Mund. Hier
dampfender Kaffee, Hände wärmen sich an den
Blechtassen.
Da hocken sie zusammen, beschließen ihre
gemeinsame Arbeit mit einem gemeinsamen Mahl -
erst dann geht jeder nach Hause zu seiner
Familie.
Man muß nicht spanisch sprechen können, um zu
verstehen, was da vor sich geht.
Manchmal genügt es, genauer hinzusehen. Man muß
nicht - wie Conny - um die halbe Welt fliegen, um
nachzuschauen, wie andere Menschen leben.
Manchmal genügt es, einfach wegzugehen aus dem
lauten Touristen-Trubel hinein ins Land - zu
seinen Menschen!
Conny hatte die gewiß seltene Gelegenheit,
vielleicht mehr zu sehen als sie mit ihren sechs
Jahren begreifen konnte, aber es hat Spuren
zurückgelassen, Spuren, die sie später auf
einen selbständigen Weg führen können...
Die Aufzeichnungen vom Brückenschlag eines
kleinen Mädchens zu Menschen hinter dem Horizont
enden in diesem "Internet-Buch" hier.
Aber das ist ja der Charakter dieses Buches: Wer
will kann zu vielen der aufgeschriebenen Texte
mehr erfahren durch eine eigene Reise ins
Internet. Und einen Link zu mehr Geschichten von
Connys grosser Reise, gibt es hier:
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http://www.radiobridge.net/connyreise.html |
Vor mehr als einem Vierteljahrhundert waren meine
Reporter-Werkzeuge während dieser Reise noch
Kugelschreiber & Notizblock, Mikrofon &
Kassettenrekorder, Fotoapparat, Radio, Telefon,
allenfalls mal eine Telex-Maschine. Für die
Techniker meines Senders, Radio Bremen, war es
schon eine Zumutung gewesen, nach meinen Plänen
ein kleines Reisestudio zusammenzulöten, das
mich in die Lage versetzen sollte, unterwegs aus
gesammelten Originaltönen ganze Radio-Programme
selber zusammenzumischen, die dann auf Kassetten
per Luftpost zum Sender nach Deutschland
geschickt wurden. Der alte Leder-Koffer, in dem
sich die gesamte Gerätschäft unter einen
Flugsitz verstauen liess, steht hier in Dolldorf
im Regal hinter meinem Arbeitsplatz, wo ich jetzt
mit Laptop, Digital-Rekorder und
Internet-Anschluss hantiere.
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