Klaus Jürgen Schmidt – 1976

CONNY’S REISE AUF DIE PHILIPPINEN

ABREISE UND ANKUNFT

Ich habe Ende August Geburtstag - und das war mein Glück. In dem Jahr, in dem Klaus zusammen mit Elsa die lange Reise durch Südostasien beginnen sollte, da wurde ich sechs Jahre alt. Mit sechs Jahren muß man zur Schule gehen. Aber weil ich den sechsten Geburtstag erst nach dem Anmeldetermin hatte, konnten meine Eltern entscheiden, ob ich schon Schulkind sein sollte oder noch nicht. Und sie sagten: "Kreidestaub kannst Du noch lange genug einatmen." Damit meinten sie, lernen kann man auch etwas, ohne dauernd im Schulzimmer zu sitzen. "Das ist für viele Jahre die letzte Gelegenheit, daß wir zusammen verreisen können - bis auf die andere Seite der Erde!" Und so fingen wir an, unsere Reise nach Südost-Asien vorzubereiten.

Das Blödeste waren die Impfungen gegen Pocken und Cholera, außerdem mußten wir beginnen, regelmäßig Tabletten gegen Malaria einzunehmen. Das sind schwere Krankheiten, die es in heißen Ländern manchmal als Seuchen gibt. Das Traurigste war der Abschied von "Max" und "Moritz", meinen beiden Goldfischen. Wir schafften sie zu einem Brunnen auf dem Liebfrauenkirchhof in Bremen, wo Taxi-Fahrer noch viele andere Fische versorgen. Ich habe ein großes Geldstück aus meiner Sparbüchse zu all den Münzen in den Brunnen geworfen - für's Fischfutter. Das Lustigste waren die Reporter, die von unserer Reise erfahren hatten und in der Zeitung schrieben: "Eine Bremer Deern geht auf Weltreise". Einer fragte mich, was ich am liebsten esse. "Reis natürlich," habe ich gesagt.

Schließlich besorgten meine Eltern einen richtigen alten Lederkoffer - klein, aber mein. In den wollte ich unterwegs einpacken, was mir in jedem Land besonders gefiel. Und dann war es soweit: Nach einem sehr langen Flug immer in die Richtung, wo die Sonne aufgeht, sah ich weit unten auf der Erde lauter winzige Teiche - hunderte, tausende - dicht nebeneinander, nur von Strichen getrennt. Die Sonne spiegelte sich auf ihrer Oberfläche. Es sah aus, wie ein Boden aus lauter eckigen Spiegelscherben. Später, als das Flugzeug tiefer ging, sahen wir auch viele grüne Flächen dazwischen. "Das sind Reisfelder," sagte Klaus, "wir sind in Asien, dort, wo der Reis wächst!"

Reis hatte ich bisher hauptsächlich als Milchreis mit Zucker und Zimt und mit brauner Butter gekannt, oder mit gekochten Apfelstückchen und Rosinen darin. Den habe ich immer mit einem großen Löffel gegessen, von einem Teller. Ein paarmal hatten Elsa und Klaus mich zu Hause in ein chinesisches Restaurant mitgenommen. Dort gab es statt Teller Schüsseln aus Porzellan und statt Löffel zwei hölzerne Stäbchen - so groß wie neue Bleistifte - manchmal waren sie aus Plastik. Und damit sollte ich Reis essen - Reis, der viel flockiger war und überhaupt nicht aneinanderpappte wie mein Milchreis! Die Erwachsenen machten sich mit Stäbchen 'was vor - eine Erbse aufheben, oder ein einziges Reiskorn. Damit gaben sie mächtig an.

Schon in den ersten Tagen nach unserer Ankunft in Südost-Asien fand ich heraus, daß die Kunst in Wirklichkeit darin besteht, mit solchen Stäbchen einen ordentlichen Happen in den Mund zu kriegen! Ich sah, daß die Schale mit der einen Hand bis an die Lippen gehoben wird, und die andere Hand schaufelt mit den beiden Stäbchen den Reis in den Mund. Alle anderen Sachen - Fleisch, Fisch, Gemüse - liegen kleingehackt auf gemeinsamen Tellern. Von dort kann man sich mit den Stäbchen nun wie mit einer Art Zange Bissen für Bissen abholen, was man gerade mag. Dann gibt es Schälchen mit Soßen; in die werden die Happen mit den Stäbchen eingetunkt. Man muß aber aufpassen, denn diese Tunken sind nur manchmal süß oder auch säuerlich, meistens sind sie furchtbar scharf. Da hilft dann nicht 'mal ein großes Glas Limonade, um das Feuer zu löschen, das man im Mund spürt. Aber das kann sich jeder nach seinem Geschmack zubereiten, und dabei ist eigentlich alles erlaubt: Man kann schmatzen und schlürfen, und wenn man will, kann man sogar mit den Händen zufassen - ohne daß jemand schimpft! In manchen Gegenden wird sogar Reis mit den Fingern gegessen - und manchmal haben die Leute dort nicht viel mehr zu essen als bloß Reis!


ALS DER PRÄSIDENT GEBURTSTAG HATTE

Wenn ihr wissen wollt, wie heiß es ist, wenn man in Südostasien aus dem Flugzeug steigt, dann besucht 'mal im Sommer eine Gärtnerei. Dort bleibt ihr solange im Treibhaus, bis der Stoff vom Kleid oder vom Hemd an der Haut klebt. So feuchtheiß war es, als wir in Manila auf den Philippinen ankamen. Auf der Fahrt mit dem Taxi vom Flughafen in die Stadt sahen wir am Strassenrand lange Reihen von Schulkindern. Die Mädchen trugen weiße Blusen und dunkelblaue Röcke, die Jungs weiße Hemden und dunkelblaue Hosen. Sie sangen Lieder und einige spielten auf Instrumenten aus Bambusrohr - ein toller Empfang!
Als wir unser Hotel erreichten, erfuhr ich aber, daß der Kinderaufmarsch mit unserer Ankunft überhaupt nichts zu tun hatte. Im Zimmer, das wir mieteten, war das Radio eingeschaltet, und Klaus übersetzte die Durchsage, die zwischen viel Musik den ganzen Tag über wiederholt wurde: "Wir sehen uns um, und wir sehen alles in guter Verfassung," sagte die Radio-Stimme. "Es sind die Früchte Ihrer selbstlosen Arbeit, Mister Präsident. Sie sind der Vater unseres Volkes!"

Wir waren an dem Tag in Manila eingetroffen, an dem der Präsident Geburtstag feierte. Ich habe ihn später einmal bei einer Parade gesehen. Dort kündigte ein Lautsprecher die Ankunft seiner ganzen Familie an, sogar seinen Sohn: "...und Ferdinand Marcos, junior!" Und alle standen stramm - die Soldaten, die Minister und das ganze Publikum. Anschließend marschierten stundenlang Menschen aus allen Gegenden des Landes an der Präsidenten-Familie vorbei: Bauern mit ihren großen Hüten, Fabrik-Arbeiter mit ihren Werkzeugen, Ingenieure, Krankenschwestern, Schulkinder. Und da habe ich nicht mehr geglaubt, was im Radio zu hören war - daß der Präsident die ganze Arbeit alleine schafft!


"MABUHAY!"

Manila war die Stadt, wo ich vieles zum ersten Mal erlebte, was in Südost-Asien anders ist als bei uns. In unserem Hotelzimmer zum Beispiel gab es eine Art elektrischen Ofen. Der kühlte drinnen und blies die heiße Luft nach draußen, und er machte dabei ziemlich viel Krach. Solche Apparate heißen "Air Condition" - das ist englisch und man spricht es "Ähr Kondischen".

Am Anfang konnte ich überhaupt kein englisch. Das war schlimm, weil ich doch auch mit keinem Kind reden konnte. Neben unserer Hotel-Wohnung lebte eine Familie mit einem Mädchen. Das war ein Jahr jünger als ich. Es sah genauso aus wie Kinder auf Bildern aus Asien, die ich zu Hause gesehen hatte: Glattes schwarzes Haar mit einem Ponyschnitt und ganz dunklen Augen. Wie, soll ich die Form dieser Augen beschreiben?
Ihr bekommt einen Eindruck davon, wenn ihr vor dem Spiegel eure Augenwinkel mit den Fingern leicht nach außen zieht. Die Erwachsenen sagen dazu "Mandel-Augen". Das Mandelaugen-Mädchen wurde meine erste Freundin in Südost-Asien. Sie war auch fremd in Manila. Ihre Eltern kamen aus Korea - das ist ein Land weiter nördlich in Asien, gegenüber von Japan. Wir konnten zuerst kein Wort miteinander reden. Also nahmen wir uns bei der Hand, und dann fuhren wir mit dem Hotel-Fahrstuhl immer rauf und runter. Dabei lernten wir unsere ersten englischen Wörter, denn alle Leute, die den Fahrstuhl benutzten, fragten uns: "What's your name?"
Klar, sie wollten unsere Namen wissen. Ich sagte: "Constanze Schmidt!" Meine Freundin sagte: "Kwang Bae Kim!" Und weil das keiner richtig verstand, sagte ich später nur noch "Conny", und meine koreanische Freundin sagte "Kim".
Schließlich fragten die Leute: "How old are you?" Klar, das hieß: "Wie alt seid ihr?" Das fragt ja zu Hause auch jeder Fremde zuerst. So fingen wir an, englisch zu reden: "Six," sagte ich. "Five", sagte Kim.
"Aber wieso wird hier englisch gesprochen," wollte ich am Abend von Klaus wissen, "und nicht philippinisch?"
"Oh, es gibt hier mehr als einhundert verschiedene Sprachen und Dialekte." Klaus schlug ein Buch auf. "Das habe ich mir heute besorgt, Darin steht fast alles, was du über Land und Leute wissen willst. Weißt du, wieviele philippinische Inseln es gibt?
Siebentausendeinhundertundsieben! Und da werden Sprachen gesprochen, die heißen zum Beispiel 'Cebuano', 'Bikol', 'Pampango' oder 'Ilocano'. Am häufigsten aber wird 'Tagalog' gesprochen, das ist die philippinische Nationalsprache seit 1946."
"Tagalog klingt lustig. Habe ich aber noch nie gehört, immer bloß englisch!" "Doch," behauptete Klaus, "bei der Parade die National-Hymne - das ist das, was bei uns 'Deutschland-Lied' heißt. Hier ist sie übrigens abgedruckt."

Englisch: "Land of the morning
Child of the sun returning
With fervour burning
Thee do our souls adore."

Tagalog: "Bayang magiliw
Perlas ng Silanganan
Alab ng puso
Sa dibdio mo'y buhay."

Deutsch: "Land des Morgens
Kind der wiederkehrenden Sonne
Mit brennender Glut
lieben unsere Seelen Dich."

"Aber," beharrte ich, "die meisten Einheimischen reden doch englisch hier in Manila und nicht Tagalog!"
Klaus lachte: "Ja, wenn sie mit Ausländern reden."
"Aber warum dann nicht deutsch?"
"Also, um genau zu sein, sie sprechen auch nicht englisch, sondern amerikanisch. Sie haben es nämlich von den Amerikanern gelernt, die ungefähr fünfzig Jahre lang bestimmten, was die Filippinos zu tun und zu lassen hatten!" "Was hatten denn die Amerikaner hier zu suchen?"
"Die hatten sich Ende des vergangenen Jahrhunderts mit den Spaniern um die Insel Kuba gezankt. Die liegt zwar auf der anderen Seite der Erde, aber Kolonialisten kannten keine Grenzen für ihr Machtstreben. Am 1. Mai 1898 versenkte eine amerikanische Flotte hier in der Bucht von Manila die spanische Flotte, und aus war es mit der spanischen Herrschaft über die Philippinen. Die hatte 350 Jahre gedauert. Heute wird die spanische Sprache hier kaum mehr benutzt. Ein paar Begriffe sind geblieben, zum Beispiel der Landesname: Philippinen - nach dem spanischen König Philipp II. Na ja, und noch 'was ist geblieben: Die Filippinos sind die einzige katholische Nation in ganz Asien! Die spanischen Priester waren sehr erfolgreich. Allerdings haben sie öfter durch Soldaten nachhelfen lassen, denn es gab immer wieder Befreiungsversuche und Aufstände. Die Amerikaner schließlich haben damit angefangen, hier das Lesen und Schreiben einzuführen - auf englisch natürlich."
"Und dabei hat Conny Glück, daß sie jetzt bloß englisch und nicht etwa japanisch lernen muß," warf Elsa ein.
"Wieso denn das?"
"Weil im Zweiten Weltkrieg die Amerikaner von den philippinischen Inseln durch die Japaner vertrieben wurden. Das hat Klaus noch nicht erzählt."
"Richtig. Japan schlug sich auf die Seite der Faschisten und überfiel am 7. Dezember 1941 den amerikanischen Marine-Stützpunkt Pearl Harbour. Einen Tag später bombardierten japanische Flugzeuge Manila. Die Philippinen waren drei Jahre lang von den Japanern besetzt. Wir werden einmal zum Fort Bonifacio hinausfahren, das hieß früher Fort McKinley. Dort sind über 17.000 amerikanische Soldaten beerdigt, die bei diesen Kämpfen ums Leben kamen. 1944 siegten die Amerikaner über die Japaner - sie warfen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. 1946 wurden die Philippinen unabhängig. 1947 schließlich erhielten die USA einen Vertrag, der es ihnen erlaubte, für 99 Jahre Militärstützpunkte hier zu unterhalten. Und von diesen Stützpunkten aus flogen dann amerikanische Bomber nach Vietnam!"
Klaus schlug noch einmal das Buch auf. "Wißt ihr, wie die zweite Strophe der philippinischen Nationalhymne heißt?"

Englisch: "Land dear and holy
Cradle of noble heroes
Ne'er shall invaders
Trample thy sacred shores."

Tagalog: "Lupang hinirang
Duyan ka ng magiting
Sa manlulupig
Di ka pasisiil."

Deutsch: "Land, geliebt und heilig
Wiege edler Helden
Niemehr sollen Eindringlinge
Deine geheiligten Küsten verwüsten."

"Aber du hast recht, Conny," sagte Klaus. "Es wird viel zu viel englisch und kaum Tagalog gesprochen - vielleicht gibt es noch zu viele Ausländer hier! Weißt du was? Morgen früh sagen wir nicht 'Good Morning', sondern 'Mabuhay'!"


ICH LERNE, WAS 'EXOTISCH' HEISST

In jedem Land auf unserer Reise wohnten wir zuerst ein oder zwei Wochen lang in der Hauptstadt. Klaus und Georg, der Fotograf, bereiteten die Verabredungen für ihre Arbeit vor. Daraus entstand der Plan, nach dem wir später durch's Land reisten. Elsa und mir blieb dabei viel Zeit, um auf eigene Faust loszuziehen.

In Manila hatte ich am Anfang nicht viel Spaß daran, denn bei jedem Spaziergang passierte dasselbe: Alle Welt starrte mich an, dauernd zeigte irgendjemand mit dem Finger auf mich. Ich merkte, wie die Erwachsenen über mich tuschelten, die Kinder liefen mir nach, und am Schlimmsten war es, wenn sie mich anfaßten: Sie strichen mir über den Kopf, sie stupsten mich an der Nase, sie kniffen mich in die Wange und manchmal zogen sie sogar an meinen Haaren - und das tat ziemlich weh!
Ich glaube, ich bin nicht sehr freundlich zu all diesen aufdringlichen Leuten gewesen.
Das merkte schließlich auch Elsa, und sie sagte: "Erinnerst du dich daran, was zu Hause passiert, wenn auf der Straße ein farbiges Kind spazieren geht - ein kleiner Junge aus Afrika zum Beispiel? Oder stell dir vor, deine Freundin Kim würde mit ihrer Mutter über den Marktplatz in Bremen laufen! Würdest du dich nicht auch nach ihr umdrehen?"
Ich linste hinter meinem Sonnenschirm hervor, den ich zum Schutz vor den neugierigen Blicken aufgespannt hatte. Tatsächlich - die Menschen um mich herum hatten eigentlich ganz freundliche Gesichter.
"Kinder mit blondem Haar und mit so heller Haut laufen nicht so oft hier herum," erklärte Elsa.
Wir standen vor einem Geschäft mit einer Spiegelscheibe, aus der guckte mir ein knallrotes Gesicht entgegen. Was Elsa blondes Haar nannte, klebte ziemlich dunkel - weil schweißnass - auf diesem Tomatengesicht.
Aber bitte, wenn das 'was besonderes ist - wie sagen die Erwachsenen?
"Exotisch!"
Von da an hatte ich nichts mehr dagegen, wenn sich 'mal im Park jemand mit mir fotografieren lassen wollte. Wenn wir uns auch nicht verstehen konnten, zusammen hatten wir dann meistens 'was zum Kichern.

Es fiel mir aber auf, daß wir kaum anderen weißen Kindern begegneten, wo doch Klaus und Georg so viel mit weißen Leuten zu bereden hatten, mit Angestellten von der Botschaft zum Beispiel.
Botschaft heißt in jeder fremden Hauptstadt das Haus, auf dem die schwarz-rot-goldene Fahne weht. Andere Länder haben dort auch Botschaften, aber natürlich mit ihrer eigenen Fahne.
Der Chef einer Botschaft heißt Botschafter. Er ist so eine Art Briefträger und übermittelt Botschaften zwischen seiner und der fremden Regierung. Außerdem fährt er in einem großen schwarzen Auto mit Chauffeur und einer kleinen Fahne vorn am Kühler. Die zeigt jedem Polizisten an, daß er schleunigst die Straßenkreuzung für den Botschafter-Wagen freizumachen hat.
Wenn der Botschafter 'mal gerade keine Botschaft zu überbringen hat, dann muß er zu großen Festen, zu Empfängen oder zu einem Abendessen.
Die Leute von der Botschaft sind also sehr beschäftigt, dachte ich mir, und deshalb haben sie keine Zeit für Kinder. Und ähnlich wird es wohl auch den vielen Kaufleuten ergehen, den Fachleuten von Organisationen aus Europa und Amerika, den Entwicklungshelfern, mit denen sich Klaus und Georg trafen.

Das dachte ich bis zu dem Abend, an dem wir unsere erste Einladung in das Haus einer weißen Familie bekamen. Als wir im Dunkeln zu ihrem Wohnviertel fuhren, mußte unser Taxi plötzlich mitten auf der Straße anhalten. Ein grosses Gittertor versperrte uns den Weg. Es befand sich in einem Drahtzaun. Der ging links und rechts von der Straße ab. Lampen hingen in regelmäßigen Abständen über dem Stacheldraht. Rechts vom Tor stand ein kleines Steinhaus. Von dort kam ein Mann in Uniform zu uns herüber. An seinem Gürtel baumelte ein Colt wie ihn die Film-Cowboys tragen.
"Der hat da keine Platzpatronen drin," murmelte Georg, und ich bekam auf einmal Angst.
Aber der Mann wollte bloß wissen, welche Adresse wir dem Taxifahrer angegeben hatten. Dann notierte er sich das Kennzeichen unseres Autos. Wir mußten nicht aussteigen.
"Das wird nur von farbigen Besuchern verlangt," erklärte unser Taxifahrer. "Wenn man hier reinwill, ist die weiße Haut der beste Ausweis!"

Wir fuhren durch das Tor im Stacheldrahtzaun und kamen in eine Siedlung, in der alle Häuser noch einmal von hohen Mauern mit großen eisernen Toren umgeben waren.
Als dann aber eines dieser Tore für uns zur Seite rollte, war das, als hätte Ali Baba "Sesam öffne Dich!" gerufen, um die Schätze der vierzig Räuber zu entdecken.
Das Prachtstück war ein beleuchtetes Schwimmbecken unter Palmen und Bananenstauden. Aber ich durfte nicht ins Wasser, weil wir doch zum Abendessen eingeladen waren, und das war schon auf der Terrasse angerichtet - mit sehr viel Mühe zubereitet, wofür es viel Lob für die Gastgeberin gab.
Später - bei der Suche nach einer vollen Limonadenflasche - entdeckte ich zwei philippinische Küchenmädchen; die waren gerade dabei, für Nachschub zu sorgen. Es sah so aus, als hätten sie die ganze Arbeit gemacht.

Schließlich traf ich in diesem Haus auch mal wieder zwei weiße Kinder. Aber die wurden bald von ihrem philippinischen Kindermädchen zu Bett gebracht, weil sie am nächsten Morgen wieder vom philippinischen Chauffeur ihrer Eltern zur internationalen Schule von Manila gefahren werden sollten. Dort bekommen fast alle Ausländer-Kinder ihren Unterricht.
(Nicht anders ist das in allen anderen Ländern, die wir besuchten. In Bangkok, der Hauptstadt von Thailand, zum Beispiel, bin ich später mal acht Wochen lang in einen solchen Kindergarten gegangen.)
Morgens also mit dem Wagen hin - mittags zurück in die bewachte Weißen-Siedlung, wo außer ihnen nur noch ein paar schwerreiche Einheimische wohnen.
Auf der Fahrt bleiben die Scheiben geschlossen, weil Europäer und Amerikaner zum Schutz gegen die Hitze teure Autos mit eingebauter Klima-Anlage benutzen. So sehen die meisten weißen Kinder die Welt da draußen immer nur durch die polierten Auto-Scheiben, und die einheimischen Kinder sehen die weißen fast nie!


EINE VILLA IN MANILA
ODER:
DIE ARBEIT UND IHR WERT

Ein anderes Mal waren wir bei einem jungen deutschen Ehepaar eingeladen, das hatte auch ein kleines Kind.
Der Mann sagte: "Wir haben diese Villa hier gemietet. Das könnten wir uns zu Hause gar nicht leisten. Die Möbel haben wir uns nach unseren Wünschen für einen Spottpreis handarbeiten lassen!"
Die Frau sagte: "Ich möchte nicht wieder zurück nach Deutschland. Wenn der Arbeitsvertrag für meinen Mann hier zu Ende ist, wird er eine neue Stellung in einem anderen asiatischen Land suchen, oder vielleicht in Südamerika!"

Klaus meinte hinterher: "Der Mann verdient nicht mehr als ein Hochschullehrer in Deutschland, aber das Geld reicht aus, um so zu leben wie zu Hause ein Fabrikbesitzer."
Ich erfuhr, daß nicht alle Weiße, die hier wie Reiche leben, wirklich reich sind. Sie müßten es sein, um zu Hause so leben zu können. Für ihre Villa in Manila zahlte diese Familie im Monat 2.000 Pesos Miete. Das sind in deutschem Geld ungefähr 670 Mark (1 DM = 3 Pesos).
"Für so ein Haus wäre in Deutschland die Miete doppelt so teuer, und die Frau müßte wohl mitarbeiten," meinte Elsa, "und Hauspersonal, wie es hier die meisten weißen Familien haben, wäre sowieso gar nicht zu bezahlen!"
"Aber wie kann man denn leben wie reiche Leute, ohne dafür genug Geld zu haben?" wollte ich wissen.
"Fragen wir den Taxi-Fahrer, was er verdient," schlug Klaus vor.
Es war eine ziemlich klapprige Karre, die uns zurück ins Hotel fuhr - und rostig dazu.
"Ich bin nicht der Besitzer ," entschuldigte sich der Fahrer. "Ich habe den Wagen von einem Mann geliehen, der hat fünf solcher Taxis. Mit diesem Auto hier fahre ich täglich soviele Stunden wie ich kann. Geht das Geschäft gut, verdiene ich bis zu 150 Pesos (50 Mark) am Tag. Aber davon gehen ungefähr 35 Pesos (12 Mark) für Benzin und noch einmal 45 Pesos (15 Mark) ab, die ich dem Autobesitzer jeden Tag bezahlen muß."
"Laßt uns mal rechnen," sagte Elsa: "Wenn wir alles aufrunden und den günstigsten Fall annehmen - daß er nämlich jeden Tag 50 Mark einnimmt - dann sind das bei allen Abzügen bloß 23 Mark Tagesverdienst und bei 30 Tagen im Monat ganze 690 Mark."
"Oder," fügte Klaus hinzu, "wenn er, was vermutlich öfter passiert, nur ein paar Tage weniger fahren kann, gerade soviel wie unsere deutschen Gastgeber allein an Miete für ihre Villa ausgeben!"
"Man kann aber noch eine andere Rechnung aufmachen," sagte Elsa. "An jedem Tag bekommt der Besitzer der fünf Taxis von jedem Pächter 15 Mark. Das sind täglich 75 Mark und im Monat 2.250 Mark, unabhängig davon, ob das Geschäft gut oder schlecht geht. Und er muß nicht einen Handschlag dafür tun!" "Was man an diesem Schrott-Auto sehen kann," setzte Klaus hinzu.

Das Taxi fuhr am Eingang unseres Hotels vor, und Klaus sagte beim Bezahlen: "Das ist natürlich auch ein Spottpreis. In Deutschland hätten wir für dieselbe Strecke das Zehnfache bezahlen müssen, und da wären wir wahrscheinlich lieber mit der Straßenbahn gefahren."
"Wir sind hier also auch reicher als zu Hause?"
"Wir kommen aus einem Land," antwortete mir Klaus, "wo jeder Arbeiter einen besseren Wagen fährt als dieser Rostschlitten hier. Habt ihr mal darauf geachtet, wieviele Leute in diesem Hotel arbeiten? Die beiden boys hier, die uns die Tür aufhalten und ein Taxi herbeipfeifen, wenn wir wegwollen, Tag und Nacht zwei, drei Leute an der Anmeldung, am swimming pool jemand, der morgens die Liegestühle hin- und abends wieder wegräumt, jemand anders, der die Getränke serviert, auf jedem Flur eine Kolonne, die täglich alle Zimmer säubert. In so einem Hotel könnten wir in Deutschland zum selben Preis, den wir hier für sechs Wochen zahlen, vielleicht gerade eine halbe Woche lang wohnen. Wir sind hier reicher, weil hier etwas bestimmtes viel billiger ist als daheim."
"Hat das was mit dem Taxi-Fahrer zu tun?"
"Mit dem Taxi-Fahrer, mit den Leuten, die in diesem Hotel arbeiten - überhaupt mit Arbeit und ihrem Wert.!"
"Ich bin dafür, das Hotel und seinen Wert zu nutzen," unterbrach Elsa, als wir mit dem Lift nach oben fuhren. "Am swimming pool rechnet es sich nämlich auch viel besser!"
"Und ich habe ja was dafür geleistet," sagte ich, "ich habe hier ja schwimmen gelernt!"

Ich traf meine Feundin Kwang Bae Kim nicht am Schwimmbecken, also tauchte ich bloß ein paarmal - das hatte ich auch gleich in den ersten Wochen in Manila gelernt. Klaus warf einen Stein an die tiefste Stelle, den konnte ich herausholen. Manchmal verlor er beim Schwimmen seine Brille, dann tauchte ich danach und er spendierte mir eine Cola.
Jetzt saßen wir am Beckenrand und kühlten uns auch von innen ab - wir hatten uns was Kühles zum Trinken bestellt.
"Hier in Manila hat vor einem Jahr eine deutsche Firma eine Fabrik gebaut. Die hat rund zwölf Millionen Mark gekostet. Die Firma wollte hier Büstenhalter nähen lassen.."
"Aha," sagte Elsa, "und die hast du dir angeguckt!"
"Ja," fuhr Klaus fort, "die Fabrik! Die Bundesregierung lieh dem Unternehmer für diesen Fabrikbau 7,5 Millionen Mark; er brauchte also bloß noch 4,5 Mil-lionen selber zu bezahlen."
"Bekommt denn jeder Fabrikbesitzer von unserer Regierung Geld geliehen, wenn er eine neue Fabrik baut?" fragte ich.
"Immer dann, wenn er damit Arbeitsplätze schafft. Und wenn er das in einem sogenannten unterentwickelten Land tut, dann heißt das 'Entwicklungshilfe'! Hier in Manila sollten eintausend Arbeitsplätze geschaffen werden, jetzt nach einem Jahr sind es schon dreihundert. 300 Frauen sitzen in einer grossen Halle und nähen den ganzen Tag aus Stoff, der aus dem Ausland kommt, Büstenhalter, die wieder ins Ausland gehen. Das Geschäft macht der deutsche Unternehmer, denn ihm allein gehört die neue Fabrik."
"Was verdienen die Näherinnen?"
"Ich habe mir alles aufgeschrieben," antwortete Klaus und suchte in seinem Notizbuch, "aber du mußt mir beim Rechnen helfen, Elsa!"
Elsa kann nämlich von uns dreien am Schnellsten rechnen.
"Also, jede der 300 Näherinnen bekommt für einen ganzen Arbeitstag ungefähr 3 Mark 50. Das müßte der deutsche Fabrikant zu Hause einer deutschen Näherin für eine halbe Stunde zahlen, also bei einem Acht-Stunden-Tag wenigstens...?"
"Sechsunfünfzig Mark!"
"Mit seiner neuen Fabrik in Manila spart er also pro Näherin 52 Mark 50!" "Dann laß uns doch mal weiterrechnen!" schlug Elsa vor. "Für 300 deutsche Näherinnen müßte dieser Unternehmer in der Bundesrepublik jeden Tag dreihundertmal 52,50 Mark - das sind 15.750 Mark - mehr ausgeben. Bei 30 Tagen im Monat sind das: 472.500 Mark - das ist beinahe eine halbe Million! Der Bursche spart allein an Lohngeldern jeden Monat eine halbe Million Mark! Das sind in einem Jahr, also mal zwölf: 5.670.000 Mark! - Das ist ja nicht zu fassen! Und in zwei Jahren hat er mit den eingesparten Lohngeldern beinahe die ganzen zwölf Millionen Mark wieder in der Kasse, die ihn die neue Fabrik gekostet hat!"
"Früher, viel früher," warf Klaus ein, "in wenigen Monaten wird er ja nicht mehr bloß 300, sondern 1.000 Näherinnen beschäftigen!"
"Und das Ganze nennt man 'Entwicklungshilfe'? Wer entwickelt denn da wen? In erster Linie dieser Unternehmer wohl seinen Gewinn!" schimpfte Elsa.
"Viel bleibt hier nicht hängen, denn Steuern braucht die deutsche Firma hier auch nicht zu bezahlen. Dabei arbeiten die Frauen gern bei den Deutschen, so haben sie es mir jedenfalls gesagt. Die Fabrikhalle hat eine Klima-Anlage, die sie vor der Hitze schützt, und sie verdienen immer noch mehr als zum Beispiel bei einer einheimischen Firma."
Klaus nahm einen letzten Schluck aus seiner Bierflasche, dann stellte er sie leer zurück.
"Jetzt hast du fast den ganzen Tageslohn einer Näherin vertrunken," sagte Elsa.
"Was?"
"Dieses Bier aus Europa kostet umgerechnet mehr als drei Mark!"
"Na ja, Bier aus Europa muß es ja nicht gerade sein. Aber auf dem Markt kosten fünf Tomaten 70 Pfennig - das ist ein Fünftel des Tageslohns!"


FEUER UND WASSER
ODER:
KEINE VILLA IN MANILA

Vom Dach unseres Hotels konnte man hinaus auf das Meer schauen. Dort lagen große Schiffe, die darauf warteten, in den Hafen hineingelassen zu werden.
Klaus hatte erfahren, daß westdeutsche Fachleute den Auftrag hatten, einen neuen Hafen zu bauen. Doch da waren Schwierigkeiten aufgetaucht: Die Bautrupps konnten nicht anfangen, das Gebiet war besetzt von Leuten, die sich dort einfach Buden aus Pappe, Holz und Blech hingebaut hatten.
Die konnte man vom Hoteldach aus nicht sehen. Aber eines Tages entdeckte ich in der anderen Richtung eine riesige Rauchwolke über der Stadt. Ich zeigte sie Klaus und der sagte: "Da brennt's!" und dann rief er Georg, der sich seine Fotoapparate umhängte. Zusammen fuhren wir mit einem Taxi immer in die Richtung der Rauchwolke, die wie ein schwarzer Pilz immer höher in den Himmel wuchs.
Wir durften an den Polizeisperren vorbeifahren, weil Klaus und Georg ihre Presseausweise zeigten, aber wir mußten immer wieder an den Straßenrand: Rote Feuerwehrwagen rasten mit jaulenden Sirenen an uns vorüber. Schließlich mußten wir den Wagen verlassen und zu Fuß weiter.
Und dann sahen wir, was da brannte - oder eigentlich rochen wir es zuerst: Ranziges Öl! Eine Fabrik war in Brand geraten, in der aus getrocknetem Kokosnuß-Mark Öl ausgepreßt wird. Das gab ein Feuerchen!
Auf deutschen Jahrmärkten wird Kokosnuß-Mark, das ist das weiße Schalen-Innere oft stückchenweise verkauft.
Hier auf den Philippinen sind die größten Kokos-Palmen-Plantagen der Welt, und Deutschland ist eines der wichtigsten Abnehmerländer der Fette und Öle, die aus der "Kopra" gewonnen werden - so heißt das getrocknete Fleisch der Kokosnuß. Diese Fette und Öle werden in Mengen für Margarine und für Creme zur Schönheitspflege gebraucht.

Jetzt aber stank es entsetzlich, die Flammenwand war nur manchmal hinter dem schwarzen Qualm zu entdecken.
Wir stolperten über die dicken Wasserschläuche der Feuerwehr, pralle, die schon Wasser hinauf zu den Feuerwehrleuten auf den Leitern schickten, und schlaffe, die andere gerade kreuz und quer neu verlegten.
Georg turnte mit seinen Fotoapparaten schon auf der Mauer der Fabrik herum, Klaus hatte sein Tonbandgerät eingeschaltet. Er hatte den Mann gefunden, der für dieses Stadtviertel die Verantwortung trug, den gewählten "Barangay"-Führer.
"Es ist das vierte Mal, daß es in dieser Fabrik brennt," berichtete der, und er hatte nicht viel Zeit für ein Interview. Da mußten in aller Eile die Hütten geräumt werden, die sich von außen an die Fabrikmauern lehnten.
Das waren solche Buden aus Holz, die Dächer mit Wellblech gedeckt. Männer, Frauen, Kinder - sie alle waren in großer Hast damit beschäftigt, ihre paar Habseligkeiten zusammenzuraffen. Nur weg von der brennenden Fabrik!
Die Feuerwehrleute verschwendeten keinen Tropfen Wasser darauf, diese armseligen Behausungen einzusprühen, um sie vor der Hitze zu sichern. Aber da hatte sich hinter dem schwarzen Qualm unbemerkt ein Unwetter zusammengebraut, und wenige Augenblicke später rauschte ein Sturzregen herunter, der zwar nicht das Feuer löschte, aber doch die Hütten der Anwohner so stark durchnäßte, daß für sie wohl keine Gefahr mehr bestand.

Es war einer der Regengüsse, die ab September täglich und fast immer zur selben Zeit die Straßen innerhalb von Minuten vollschütten.
Das ist der "Winter" in Südostasien. Hier heißt das "Monsun-Zeit". Für Schnee ist es natürlich viel zu heiß, und so gießt es stattdessen in Strömen. Meistens dauert so ein Guß nur eine Viertelstunde, aber das reicht aus, um alle Wege aufzuweichen, und die Bretterbuden sind hinterher von innen meistens genauso naß wie von außen.
"Zurück bleibt ein faulender Sumpf, in dem die Stechmücken millionenfach ihre Larven ausbrüten," erklärte Klaus, "und diese Moskitos sind es, die gefährliche Krankheiten verbreiten!"
Wir wateten durch den Schlick, auf den jetzt wieder die Sonne knallte, und ich wußte nicht, was mehr stank - die aus den Straßengräben aufgespülten Abwässer, oder der Brandgeruch von der Kokosöl-Fabrik.
Kein guter Platz zum Leben, dachte ich - aber es lebten ja soviele Menschen hier - in Hütten, die aussahen wie die Bretterverschläge für Kaninchen zu Hause bei Oma im Garten - doch nicht wie Wohnungen für Familien! Wände aus Kistenbrettern, die Ritzen zugenagelt mit Blech von Konservendosen. Vor den Türöffnungen Lappen, wo das Holz schon faulte, Ausbesserungen mit Pappe.
Doch mir fiel auf, wie einige Familien als Erstes seltsame Fensterrahmen retteten, die viele kleine Holzfächer hatten mit winzigen weißen, fast durchsichtigen Blättern darin.
"Das sind fein geschliffene Schalen der Perlmutt-Muscheln," erklärte Klaus, "der Stolz selbst von ärmsten Familien, eine eigentlich nur auf den Philippinen geübte Kunst."
Später habe ich zu Hause in Kaufhäusern öfter Lampenschirme aus solchen Perlmutt-Schalen gesehen, importiert von den Philippinen!

"Woher kommen alle diese Menschen? Haben sie schon immer so gewohnt?"
Georg und Klaus suchten nach einem Taxi.
"Wir werden dorthin fahren, wo viele von ihnen früher lebten," sagte Klaus, "schon morgen oder übermorgen. Wir wollen herausfinden, weshalb sie fortgingen."

Als wir später nach Manila zurückkehrten, hörten wir, daß es fast zwei Wochen gedauert hatte, bis die Rauchwolke über der Stadt verschwunden war und mit ihr der Geruch nach verbranntem Öl.
Die täglichen Regengüsse hatten die Glut nicht löschen können.


REIS UND COCA COLA

"Wenn der Regen kommt, wächst in Asien der Reis. Reis braucht Wasser, viel Wasser!"
Die Stimme tönte von der Leinwand her, auf der Lichtbilder immer wieder Reis zeigten, Reis in allen Farben: Vereinzeltes helles Grün, wenn er noch ganz jung ist, in langen Reihen frisch gesetzt in den Schlamm - das dunkle Flächengrün, wenn er wächst, auf Quadraten, Rechtecken, Terrassen - und dann gelb, mit schweren Ähren, kurz bevor er geschnitten wird.
Die Stimme sprach englisch. Klaus hatte uns zum "Internationalen Reisforschungsinstitut" nach Los Baños mitgenommen, 60 Kilometer von Manila entfernt.

"Es gibt ja eine Menge Möglichkeiten, die Welt einzuteilen," hatte Klaus während der eineinhalb Stunden, die wir bis Los Baños brauchten, erklärt. "Von der Ersten Welt - das sind die reichen Industriestaaten - sind wir in die Dritte Welt, in die Welt der armen Länder gekommen. Das klingt, als hätten beide Welten nichts miteinander zu tun. Dabei ist das alles eine Welt, und alle Teile sind voneinander abhängig! Manche Leute sprechen auch von den 'entwickelten Ländern' und von den 'unterentwickelten Ländern'. Das klingt auch so, als hätten beide Gruppen nichts miteinander zu tun. Ich habe einen viel besseren Vorschlag: Wir teilen die Welt neu ein - in die 'Welt der Kartoffelesser' zum Beispiel - da kommen wir her - in die 'Welt der Weizenesser', der 'Hirse-Esser', der 'Mais-Esser', der 'Roggen-, Gerste-, Hafer-Esser', und hier - hier sind wir in der 'Welt der Reis-Esser'!"

In diesem Moment fragte der Fahrer, ob wir eine Pause einlegen wollten.
"In der Nähe gibt es ein internationales Coca-Cola-Museum!"
Klaus guckte verdutzt.
"Ein was?"
"Ein Restaurant mit einer Ausstellung von Coca-Cola-Flaschen aus allen Teilen der Welt. Flaschen mit allen möglichen Aufdrucken, auch von ganz früher..."
"Au fein," rief ich. "Laß uns da hingehen!"
Wo es Coca-Cola-Flaschen gibt, dachte ich, gibt es auch Cola.
"Ich werde mich hüten! - - Gut, gut," Klaus lenkte ein, noch bevor ich protestieren konnte.
"Meinetwegen, auf dem Rückweg. Aber wißt ihr, woran mich das erinnert? An eine Szene während des Krieges in Südvietnam. Ein großes Reisfeld war da zu sehen. An der Seite, ziemlich weit hinten, arbeitete gebückt ein einzelner Bauer. Und mitten im Feld auf einem Sockel stand eine Cola-Flasche - mindestens zehn Meter hoch, natürlich aus Plastik. Es war eine Werbung für dieses Massengetränk aus den USA. Das war, bevor die Amerikaner aus Vietnam hinausgeworfen wurden!"

Unser Besuch in Los Baños begann in der Presseabteilung des Reis-Instituts. "Es gibt auf der ganzen Welt acht landwirtschaftliche Forschungsinstitute, die ähnlich organisiert sind wie dieses hier, zum Beispiel das 'Internationale Mais- und Weizen-Forschungsinstitut' in El Batan bei Mexico City, oder das 'Internationale Kartoffel-Zentrum' in Peru..."
Die Frau, die Klaus einen Berg Informationen unter beide Arme schob, sprach wie eine elektrische Schreibmaschine im Dauerbetrieb.
Anschließend rasten wir an Treibhäusern vorbei, wo hinter Glas der Wunder-Reis von Los Baños sproß. Techniker hatten in jeder dieser Glaskabinen die Bedingungen bestimmter Reisanbau-Gegenden anderer Länder geschaffen: Erd-Sorten, Temperatur, Regen, Sonnenauf- und Sonnenuntergang, alles künstlich nachgemacht - also hier zum Beispiel ein Stückchen Pakistan und dort ein Stückchen Indien. Das muß ein Heidengeld gekostet haben!
Schließlich landeten wir in den weichen Sesseln vor der Lichtbild-Wand, auf der mit flotter Musik die Geschichte der Reis-Forschung abrollte. Ich war ganz schön beeindruckt. Hier, so erfuhren wir, haben Wissenschaftler aus aller Welt den Hunger bezwungen - jedenfalls dort, wo Reis die Hauptmahlzeit ist.
"Pustekuchen," sagte Klaus, "wenn man sich mal mit Wissenschaftlern hier unterhält, bleibt von der 'Grünen Revolution' nicht viel übrig! Einer sagte mir, sie seien gerade dabei, weltweit zu untersuchen, weshalb die Bauern den 'Wunder-Reis' aus ihrem Laboratorium nicht weiter verwenden - obwohl er doch doppelte und dreifache Ernte bringen sollte. Die Bauern haben es ausprobiert, auch hier auf den Philippinen, aber es wurde ein Reinfall! Zuerst bekamen sie das Saatgut geschenkt, aber dann merkten sie, daß sich von der Ernte nichts für die neue Aussaat verwenden ließ. Die im Laboratorium gezüchteten neuen Reissorten konnten ihre besonderen Eigenschaften nicht weitervererben wie der alte Reis. Die Bauern mußten sich das Saatgut jedesmal neu kaufen! Und nicht bloß das - sie mußten nun auch regelmäßig chemischen Dünger kaufen, denn nur damit brachte der neue Reis die versprochene reiche Ernte. Und bald stellte sich auch heraus, daß die Pflanzen besonders anfällig waren gegen alle möglichen Schädlinge. Zur Bekämpfung brauchten die Bauern chemische Insekten-Vernichtungsmittel. Und nun ratet mal, bei wem die Reisbauern all diese chemische Stoffe kauften?"
Elsa zog einen der bunten Prospekte heraus, die die Dame in der Presseabteilung stapelweise verteilt hatte.
"Das 'Internationale Reis-Forschungsinstitut' wurde 1960 gegründet," las sie, "von der Rockefeller-Stiftung und der Ford-Stiftung. Das sind also zwei amerikanische Konzerne, die das Geld gaben..."
"...und es wieder einnehmen!" fügte Klaus hinzu. "Ende der Sechziger Jahre machte Indien die ersten Erfahrungen mit dem neuen Reis-Geschäft, und die Geschichte davon hört sich an wie ein Wirtschafts-Krimi: Indien - bekannt für seine Hungersnöte - bezog damals Getreide-Überschüsse aus den USA. Da sagte die amerikanische Regierung, es gibt jetzt neue Reis-Sorten, und wenn ihr die nicht verwendet, dann gibt's nichts mehr aus unserem Futtertopf! Also stellte Indien Teile seiner Landwirtschaft auf die neuen Reiszüchtungen um und dachte sich, eigentlich ganz prima - für die notwendige chemische Düngung können wir ja unsere umfangreichen Natur-Phosphat-Vorkommen benutzen. Aber da waren die Amerikaner beleidigt. Sie sagten, liebe Inder, ihr müßt doch einsehen, daß wir das viel besser können. Und um bei der Entscheidung behilflich zu sein, verweigerten sie ihre Unterschrift unter ein Abkommen für dringend benötigte Getreide-Lieferungen. Schließlich genehmigte die indische Regierung den Bau von neun amerikanischen Chemie-Werken zur Herstellung von Düngemitteln sowie Unkraut- und Insekten-Vernichtungsmitteln. - Den Philippinen ergeht es übrigens nicht viel besser. Einheimische Wissenschaftler wären längst in der Lage, die komplizierten chemischen Mischungen selber herzustellen. Aber die Landwirtschaft hier muß weiter die Produkte der großen Konzerne aus den Industrieländern beziehen."

Wir waren auf dem Rückweg, und ich paßte auf, daß wir diesmal am Coca-Cola-Museum anhielten.
Und tatsächlich, hinter Glas standen dort leere Cola-Flaschen aus aller Welt - mit den merkwürdigsten Schriftzeichen, arabisch, chinesisch, russisch. Sie alle bedeuteten dieselben zwei Wörter: "COCA COLA".
"In Indonesien," sagte Klaus, "ist durch die Einführung von Coca Cola der gesamte einheimische Markt kleiner Limonaden-Händler kaputt gemacht worden."
Da erinnerte sich Elsa daran, was Klaus auf der Hinfahrt über die Aufteilung der Welt gesagt hatte.
"Ich habe noch einen Vorschlag," sagte sie, "wir teilen die Welt ein in Coca-Cola-Trinker und in Coca-Cola-Verweigerer!"


EIN STAUDAMM UND SEIN NUTZEN

Einen Tag später verließen wir Manila und fuhren für zwei Wochen in den Norden der Insel Luzon. "In die Reiskammer der Philippinen," wie unser Begleiter erklärte.
Er war kein Filippino, sondern ein Mann aus Chile - das ist ein Land in Südamerika. Er arbeitete zusammen mit Fachleuten aus aller Herren Länder im "Welternährungsprogramm". Das ist eine Organisation der Vereinten Nationen, die dafür sorgen soll, daß Lebensmittel von dort, wo es zu viele gibt, dahin geschafft werden, wo es keine gibt.
"Das ist jedenfalls die Idee gewesen," meinte Klaus. "Jetzt aber werden Lebensmittel aus internationalen Spenden ausgerechnet in die 'Reis-Kammer' der Philippinen geschafft. Warum? Keiner kann hier in Manila eine Antwort geben. Wir fahren also hin. Vielleicht finden wir die Antwort am Staudamm von Pan-tabangan."

Wir fuhren sehr früh los. Die Fahrt sollte fünf Stunden dauern.
Der Mann vom "Welternährungsprogramm" hatte eine große schwarze Limousine samt Chauffeur zur Verfügung. Auf den Türen prangte in einem runden, hell-blauen Feld eine Kornähre. Hellblau - das hatte ich schon gelernt - ist die Farbe der Vereinten Nationen, und Autos aller Sorten mit dem hellblauen Zei-chen auf der Tür traf ich in ganz Südost-Asien.
"Das ist der größte Auto-Verleih der Welt," bemerkte Klaus. "Der Wagenpark der UNO-Organisationen wird nur noch vom Glanz ihrer Büro-Paläste übertroffen. Wißt ihr, nach den Vorbesprechungen für diese Reise am Europa-Sitz der Vereinten Nationen in Genf dachte ich ja, nun käme ich endlich zu den Fachleuten im Feld. Ihr seht ja, wo wir gelandet sind - erst mal wieder ein neues Verwaltungszentrum!"
Und das befand sich zwischen zwei Bank-Hochhäusern - man konnte es leicht verwechseln.
Obwohl es ziemlich warm war, trug der Mann vom "Welternährungsprogramm" einen Anzug, weißes Hemd und Krawatte - er sah gar nicht nach einem Land-Ausflügler aus. Das fand ich nur solange komisch, bis es bei geschlossenen Fenstern und laufender Klima-Anlage im Auto lausig kalt wurde. Nach fünf Stunden Fahrt wartete ein Schnupfen auf mich, das merkte ich spätestens bei der zweiten Pause - raus aus der Kälte, rein in die Wärme und umgekehrt.
"In solchen Autos trägt man eben Schlips," meinte Klaus, den es nicht weniger fröstelte. Mir ist nie richtig klargeworden, ob die Leute Anzug und Schlips anziehen, weil die Klima-Anlagen ihrer Autos so kalt sind, oder ob sie diese Klima-Anlage im Auto haben, um Anzug und Schlips tragen zu können - als Ausdruck ihrer Würde!

Wir ließen das flache Land mit den saftigen Reisfeldern zurück und kurvten in die kahlen Berge. Und dann sahen wir es plötzlich in der Mittagssonne glitzern: Wasser, der Stausee von Pantabangan!
Auf dem Berg, von dem man die beste Aussicht hatte, stand das Gästehaus der Regierung.
"Sie sind Gast des Amtes für Bewässerung," sagte der UNO-Mann. "Ich wohne immer hier, wenn ich diese Gegend besuchen muß."
"Und wo wohnen die Leute von Pantabangan," fragte Klaus, "ich meine von der im Stausee versunkenen Stadt?"
"Wir müssen über den Damm fahren. Sehen Sie dahinten die Hügel, die aus dem Wasser ragen? Dorthin wurden sie umgesiedelt - über zweitausend Familien, das sind ungefähr 13.000 Menschen aus Pantabangan und aus acht umliegenden Dörfern. Sie mußten weg aus den Tälern, bevor das Wasser ihre alten Wohnun-gen überflutete."

Wir stiegen um von der schmucken Limousine in einen robusten Geländewagen, und dann ging es holpernd über den riesigen Erd-Damm.
Staubig und steinig war der Weg. Ein Ingenieur versuchte, alle Vorteile des Staudammes zu erläutern.
"Wissen Sie, es gibt viel guten Boden auf den Philippinen, aber es gibt zu wenig Wasser. Wir könnten zwei, drei Ernten im Jahr haben, gäbe es Wasser außerhalb der Regenzeit. Jetzt bauen wir überall im Land solche Staudämme. In der Trockenzeit fließt das aufgestaute Wasser durch Kanäle auf die Felder. Vorher jagen wir es durch Turbinen und erzeugen damit Strom. Der Stausee hält genug Trinkwasser bereit, und schließlich kann man darin Fische züchten!"
Er war richtig stolz auf seinen Damm.
"Wir hatten ihn ein Jahr früher fertig als geplant!"
Und er zeigte in einer Mappe die Grußadressen zur Einweihung. Aus dem Präsidenten-Palast in Manila war auch eine Botschaft gekommen:
"Weil es nun den Staudamm von Pantabangan gibt, werden im nächsten Jahr Millionen Filippinos mehr zu essen haben, werden weniger unter Überschwemmungen zu leiden haben, werden einträgliche Beschäftigung finden. Und noch mehr: Millionen Filippinos bekommen neue Hoffnung, einen neuen Traum, den Anspruch auf eine bessere Zukunft."

Der Wagen rumpelte über einen Bergrücken, das erste Neuansiedlungsgebiet kam in Sicht.
"Das war vor einem Jahr," sagte Klaus. "Im August 1974 war der Damm fertig. Wie geht es heute den 13.000 umgesiedelten Filippinos?"
"Oh, sehen Sie - das sind ihre neuen Häuser!"
Der Ingenieur wies auf die umliegenden Berghänge.
"Sie sind sicher besser als ihre alten Holzhütten, glauben Sie nicht?"
Die kleinen Steinhäuser standen entlang schnurgeraden Straßen in der grellen Mittagssonne. Es gab keine Bäume, also auch keinen Schatten. Soweit ich blicken konnte, ich konnte keine Felder entdecken.
"Wo ist denn nun der Reis?" wollte ich wissen.
"Ja," fragte Klaus, "wo sind denn die neuen bewässerten Felder?"
"Aber doch nicht hier am Damm," antwortete der UNO-Mann. "Weit unterhalb dieses Stausees wird das Wasser auf das Reis-Land geleitet. Das ist ein uraltes Anbaugebiet. Dorthin konnten die Leute nicht umgesiedelt werden. Dann hätten ja die alten Besitzer vertrieben werden müssen!"
"Wohl kaum," erwiderte Klaus, "wäre auch gar nicht nötig gewesen, denn die Besitzer leben ja gar nicht dort, nicht wahr? Die leben schon seit jeher in der Stadt und lassen die Pächter für sich arbeiten! Und in der Stadt erfahren sie rechtzeitig, wo zum Beispiel ein solcher Dammbau geplant ist. Lange bevor der Bau beginnt, kaufen sie alles Land auf, das den Wasser-Segen bekommen soll; aus dem wird für sie dann ein Geld-Regen - und Organisationen wie das 'Welternährungsprogramm' spenden die Lebensmittel für die, die das Nachsehen haben! Ist es nicht so?"
Ich weiß nicht, ob es am weißen Hemd oder an der Krawatte des UNO-Mannes gelegen hatte, Klaus war richtig in Fahrt gekommen.
"Sehen Sie doch nicht immer bloß das Negative," versuchte unser Begleiter zu beschwichtigen. "Es wird doch eine ganze Menge getan!"

Wir stoppten vor einer großen Lagerhalle, vor der sich gerade Frauen und Männer versammelten, die sich an einem Tisch in eine Liste eintragen ließen. "Ist das die Lebensmittelausgabe?" fragte Elsa, um eine Aufbesserung der Stimmung bemüht.
"Ja, hier holen sich die Familien ihre Rationen ab - Reis, Soja-Öl und noch ein paar Sachen, die Vorräte gehen langsam zu Ende. Es muß bald etwas geschehen! Wissen Sie, die Leute bekommen ja alles umsonst. Es wird Zeit, daß sie etwas arbeiten!"
Der UNO-Mann war deutlich beleidigt. Er blieb im Wagen sitzen, als Klaus an einem der Neusiedlungshäuser halten ließ. Der Ingenieur kam als Dolmetscher mit.
Es war nur eine alte Frau zu Hause, die uns freundlich bat, einzutreten. Klaus erzählte, woher wir kamen, und dann fragte er:
"Hatten Sie früher in Ihrem alten Dorf auch schon so ein Haus?"
"Ja, wir hatten auch so eins."
"Und mußten Sie für dieses hier etwas bezahlen?"
"Neuntausend Pesos (3.000 Mark). Der Preis hängt ab von der Größe des Hauses."
"Und Sie hatten das Geld, oder mußten Sie es sich leihen?"
"Wir haben uns das Geld geliehen."
"Wie verdienen Sie das Geld?"
"Ich habe überhaupt keine Möglichkeit, zum Lebensunterhalt etwas beizutragen. Mein Mann verdient das Brot. Er arbeitet als Zimmermann beim Damm-Bau. Aber dort gibt es bald nichts mehr zu tun. Die meisten Männer hier sind schon arbeitslos."
"Haben Sie Kinder?"
"Zwei Mädchen gehen zur Hochschule in die nächste Stadt. Sie werden wohl nicht zurückkommen. Ein Junge besucht hier die Schule."
"Gibt es denn irgendeine Berufsausbildung?"
"Nein - keiner hat hier eine Berufsausbildung."
"Dann ist wohl nicht klar, was die jungen Leute später tun werden?"
"Es gibt hier keine Jobs für sie."
"Wie war das früher?"
"Vor dem Damm-Bau waren alle auf den Feldern unten im Tal beschäftigt. Wir waren Reisbauern..."
Der UNO-Mann ließ draußen ungeduldig die Auto-Hupe ertönen.
"Vielleicht noch ein Jahr," sagte Klaus nachdem wir uns verabschiedet hatten, "dann wird man viele der Leute von Pantabangan in den Bretterhütten von Manila wiederfinden. Was nützen hübsche Steinhäuser ohne Arbeit und Brot?"


"JEEPNEY"

Wer auf den Philippinen eine größere Strecke fahren will - in der Stadt oder über's Land - der steigt in ein "Jeepney". Das ist ein eigenartiges Fahrzeug, grell bunt bemalt, verchromte Metallteile an allen Ecken und Enden, die keinen anderen Zweck haben, als nur zu glänzen und zu blitzen.
Ich habe solche Autos nur auf den Philippinen gesehen, und dort werden sie gebaut - besser gesagt: zusammengestückelt aus verschiedenen Teilen alter Militär-Jeeps. Die werden aus allen Gegenden Südost-Asiens, wo die Amerikaner ihren Militärschrott loswerden wollen, zusammengetragen. Und weil die Philippinen das Land sind, wo amerikanisches Militär am längsten stationiert war, gibt's hier auch den meisten Schrott!
Aus zwei oder drei abgetakelten Jeeps bauen findige Mechaniker ein neues Auto zusammen. Das ist hinterher doppelt so lang und sieht eher aus wie ein Zirkuswagen. Links und rechts gibt es zwei lange Bänke, und hinten stehen auf seinem Trittbrett noch einmal fast soviele Leute wie drinnen Platz haben. Statt einer Auto-Versicherung haben die Fahrer meistens ein Jesus-Kreuz über ihrem Lenkrad hängen, oder die Mutter Maria, umrahmt von bunten Lämpchen. Und die Decke eines solchen "Jeepneys" ist bemalt mit frommen Sprüchen und Bildern.

So also sah das Auto aus, mit dem wir weiter nach Norden fuhren.
Eine Klima-Anlage war nicht nötig, weil so ein "Jeepney" gar keine Fenster hat, da bläst einem der Fahrtwind um die Nase, manchmal allerdings auch der Straßenstaub.
Es waren eher Feldwege, die von einem Dorf zum anderen führten, und die Schlaglöcher sorgten dafür, daß niemand einschlief.
Wir blieben die einzigen Weißen auf dieser Strecke, und es war durchaus unklar, wer wen mit größerer Neugier anstarrte. Hier sprach tatsächlich kaum noch jemand englisch, aber wir konnten uns trotzdem verständigen: Wir lachten uns einfach gegenseitig an. Manchmal faßte eine Hand verstohlen nach meinem Arm. Die Finger, die über die Haut strichen, waren kräftig und rauh - Bauernhände!
Dann reichte jemand eine Banane herüber, die hatte eine rötliche Schale, nicht so bananengelb wie in unseren Geschäften. Ich biß ein Stück ab - und spuckte es sofort wieder aus. Alles lachte, und ich entschuldigte mich.
"Es schmeckt wie - wie gekochte Kartoffeln! Überhaupt kein bißchen süß!"
"Es sind ja auch Mehlbananen," Klaus lachte mit. "Was wir in Europa essen, das ist die Obst-Banane. Die ist für viele hier schon wieder ein Luxus, denn der größte Teil der Ernte ist für das Ausland bestimmt. Und weißt du, was man noch aus den philippinischen Bananen-Pflanzen macht?"
"Manila-Hanf," sagte Elsa. "Das gibt festen Zwirn und Seile und Schnüre." "Und neuerdings werden die Fasern dieser Bananen-Art auch zu besonders hochwertigem Papier verarbeitet."

Was man nicht alles erfährt, wenn man mit einem "Jeepney" fährt - zwischen Körben mit Hühnern, Säcken mit Reis und vor allem zwischen lauter freundlichen Menschen.
Aber nicht alle Merkwürdigkeiten lassen sich aufklären. Seit Beginn der Fahrt beobachtete ich zwei alte Bäuerinnen, die fast ohne Unterbrechung selbstgedrehte Zigaretten rauchten. Dazu wickelten sie den Tabak in dünne getrocknete Blätter. Doch das war nicht das Merkwürdige, sondern ihre Art, zu rauchen: Sobald sie sich ihre Zigaretten angezündet hatten, steckten sie sich diese so zwischen die Lippen, daß sich die Glut im Mund befand - also die Asche wohl auf die Zunge fiel! Ich habe sie nie die Zigarettenasche abklopfen sehen!
"Vielleicht ist das die Art, wie man im 'Jeepney' Zigaretten raucht," ulkte Klaus, "aus Rücksicht darauf, daß uns die Asche nicht um die Ohren fliegt!"


AUF GOLD WÄCHST KEIN WALD

Zwei Stunden mit dem "Jeepney" bis an die Hauptstraße, drei Stunden mit dem Überland-Bus bis nach Baguio. Das ist die Sommerhauptstadt der Philippinen, weit oben in den Bergen, wo die Landschaft so aussieht wie bei uns der Schwarzwald.
Weil es hier kühler ist als in Manila, hat sich der Präsident für die heisseste Jahreszeit in Baguio einen zweiten Palast bauen lassen. Das ist die Gegend, die auch allen Fremden auf den Philippinen immer am besten gefallen hat. Hier hatten sie es fast wie zu Hause.
"Die voraussichtlich letzten, die sich hier breitmachen, sind die Amerikaner," sagte Klaus, als wir mit dem Taxi mal wieder an einer Straßensperre anhalten mußten.
Das war am Tor des Erholungszentrums für amerikanische Soldaten, der Basis "John Haye".
"Dort drüben ging für die Japaner der Krieg auf den Philippinen zu Ende. Im Landhaus des amerikanischen Botschafters unterzeichnete General Yamashita 1945 die Urkunde, mit der er sich ergab. Kaum zehn Jahre später erholten sich auf diesem Riesengelände amerikanische Soldaten von einem neuen Krieg in Südostasien: Sie wurden aus Korea jeweils für einen Kurzurlaub hierhergeflogen. Und noch mal zehn Jahre später kamen sie vom Schlachtfeld in Vietnam, um in diesem milden Klima wieder zu Kräften zu kommen."

Wir waren auf dem Weg zur deutsch-philippinischen Forstschule in Baguio, und dieser Weg führte normalerweise am Parkgelände von "John Haye" entlang. Der Monsun-Regen aber hatte Teile der Straße weggespült, das passiert jedes Jahr. Und jedes Jahr müssen die Einwohner Baguios einen großen Umweg in Kauf nehmen, denn die Amerikaner geben die Teer-Straße durch ihr Gelände auch in diesem Notfall nicht frei. Uns ließ der Torposten nach eingehender Prüfung die Abkürzung benutzen.
Ich hatte schon gelernt: "Weiße Haut ist der 'beste Ausweis'!"

In der Forstschule von Baguio lernen philippinische Förster unter anderem auch, wie sie Militärschrott nützlich verwenden können: Aus den kräftigen Metallstreifen von ausgedienten Wagenfederungen entstehen Erdhacken mit einem hölzernen Stiel. Damit läßt sich bequem die Erde auflockern, bevor an den oft kahlen Berghängen neue Bäume angepflanzt werden.
Vorher aber muß verhindert werden, daß die Erde jedes Jahr auf's Neue weggespült wird, wie die Straße bei "John Haye".
Ein deutscher Förster hat ihnen dafür eine einfache Methode beigebracht: Rasch wachsende Sonnenblumen werden ausgesät, ihre Stengel werden mit Draht gebündelt, und diese Bündel werden dann dort - wo an den Hängen in der Regenzeit das Wasser herunterstürzt - wie Stufen mit einem Drahtnetz am Fels festgenagelt. An ihnen sammelt sich die Erde, die sonst auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Und aus den Trieben der Sonnenblumenstengel entwikckeln sich Wurzeln, die Grundlage für einen neuen Wald entsteht.
Wo aber sind die alten Wälder geblieben?

Der Förster aus Deutschland erzählte.
"Der Kahlschlag hat schon vor Jahrhunderten begonnen, zur Zeit als die Spanier diese Insel beherrschten. Vor den Philippinen hatten sie ja Mexico erobert. Von Mexico kamen sie dann über den Stillen Ozean hierher. Und so wurden später die philippinischen Inseln auch verwaltet - von Mexico aus, nicht von Spanien! Von Acapulco an der mexikanischen Westküste bis nach Manila brauchte ein spanisches Schiff damals etwa drei Monate. Um diese Reise unbeschädigt zu überstehen, wurden besondere Holzsorten für den Schiffbau verwendet. Und dieses Holz wurde hier geschlagen. Die Spanier vernichteten dabei ganze Wälder, zurück ließen sie kahle Berge!"

Auf einigen grünt es jetzt wieder.
Wir kamen zurück von einem Ausflug zu den neuen Wald-Anpflanzungen, da schwebte plötzlich frisch geschlagenes Holz durch die Luft. Die Ladung glitt an einem Drahtseil talwärts.
"Da wird vom Berg geholt, was wir an anderer Stelle mühsam aufforsten!"
Die nächste Ladung kam in Sicht.
"Das ist eine Seilbahn ohne Motor," erklärte der Förster, "sie schafft nur Holz hinunter und bringt nichts herauf!"
"Wo schafft sie es hin?"
"Zum Gold-Bergwerk unten im Tal. Dort wird Holz in großen Mengen zum Abstützen des Schachtes gebraucht. Der Berg frißt Holz und spuckt Gold aus - zusammen mit riesigen Mengen Steingeröll, und auf dem wächst kein Wald mehr. So funktioniert der Kahlschlag in unserer Zeit!"
Verbittert setzte sich der Förster wieder an's Steuer.
"Was meint er damit - Berg frißt Holz und spuckt Gold?" fragte ich, als wir wieder hinten im Wagen saßen.
"Die Philippinen stehen in ganz Asien an erster Stelle bei der Gewinnung von Gold. Das wird aus der Erde geholt - wie bei uns die Kohle. Und dort unten im Tal arbeitet die größte Gold-Mine des Landes. Die steht auf unserer Besichtigungsliste."

Am Tag der Besichtigung goß es in Strömen. Zuerst gab es viele Zahlen zu hören - ein Mann von der Geschäftsleitung berichtete:
"Dieses Gold-Bergwerk gibt es hier seit 1903. Heute kommt von hier die Hälfte allen Goldes, das auf den Philippinen geschürft wird. Im Jahr 1973 holten wir zum Beispiel mehr als 5.000 Kilogramm Gold aus dem Berg, das sind ungefähr 100 Zentner."
Elsa hatte schon wieder ihren Elektro-Rechner in der Hand.
"Nehmen wir mal den niedrigsten Goldpreis, wie er heute auf der Wirtschaftsseite des 'Daily Express' stand - das waren 142 US-Dollar für eine Unze (28,35 Gramm). Das wären also umgerechnet - 64 Millionen Mark!" "Herrjeh - wer besitzt denn die Grube?"
"Bisher gibt es nur einen sehr geringen philippinischen Anteil," war die Antwort, "gerade 2 Prozent. 97 Prozent gehören Amerikanern und anderen Fremden. Aber das wird sich in den kommenden Jahren ändern. Es soll auf den Philippinen Ausländern nicht mehr erlaubt sein, mehr als die Hälfte eines Bergwerks, einer Fabrik oder überhaupt eines Unternehmens zu besitzen. Wenigstens 60 Prozent sollen philippinisches Eigentum sein, verstehen Sie?" "Wieviele Bergarbeiter beschäftigen Sie?"
"Ungefähr 5.500, und wir geben ihnen auch Wohnungen in unseren Camps, wissen Sie?"
"Und der Lohn?"
Die Antwort blieb aus.
"Es gibt vier Wohnsiedlungen, und in jeder haben wir eine Grundschule. Dazu kommen noch zwei weiterführende Schulen. Die Leute können alles, was sie brauchen, hier in Läden kaufen - auch ohne Geld, das verrechnen wir mit ihrem Lohn, wissen Sie. Natürlich haben wir auch eine eigene Werkspolizei - das ist schon nötig, Alkoholprobleme und so."

Wir hatten inzwischen den Eingang zum Schacht erreicht.
Der Regen ließ die Schienen glänzen, auf denen jetzt die kleinen Kipp-Loren stillstanden. Die letzte Schicht vor dem Wochenende kam gerade aus dem Berg - eine lange Reihe von Männern mit Helmen auf dem Kopf stand in dem dunklen Tunnel, einige hatten noch die schwachen Lampen vorn am Helm eingeschaltet. Nur wenige warfen einen Blick zu uns herüber. Erst als Georg zu fotografieren begann, wurden fast alle wieder munter.
"Worauf warten die Männer?"
Der Mann von der Geschäftsleitung zuckte die Achseln.
"Wissen Sie, das ist unser Problem. Sie arbeiten sechs Stunden unten im Berg, dazwischen haben sie eine Stunde Pause, und dann stehen sie hier nochmal eine Stunde, weil wir ihnen nicht trauen können. Manchmal findet einer von ihnen mehr als das, was wir mit unseren Steinmühlen und in den Spülanlagen herauswaschen. Bei uns macht es ja das systematische Durchwaschen des gesamten Gesteins, das die Burschen da unten losschlagen. Die winzigen Goldanteile sind da selten mit dem bloßen Auge zu erkennen. Aber manchmal findet einer ein Stück, so groß wie eine Nuß, und das versucht er dann herauszuschmuggeln. Und die Jungs sind einfallsreich. Sie verschlucken es, oder sie fetten es ein und schieben es sich in den Hintern. Sie glauben gar nicht, auf was für Tricks die kommen!"
"Und da gucken Sie nach?"
Klaus schaute auf die lange Reihe der Männer, die sich im Dunkel des Tunnels verlor.
"Wir machen Stichproben, aber ihre Sachen werden regelmäßig durchsucht."

Der Nachmittag auf dem Markt von Baguio brachte uns eine Begegnung, die direkt an diese Erfahrung anschloß.
Ich war bei einer Gruppe von Jungen stehen geblieben, die ein seltsames Spiel spielten: Aus Streichholzschachteln holten sie gefangene Spinnen hervor - "spider-fighter", "Kampf-Spinnen".
Ein Junge, der "Unparteiische", hielt ein Stäbchen bereit, vielleicht 20 Zentimeter lang. Auf die beiden Enden wurde je eine Spinne gesetzt, und beide rasten sofort aufeinander zu. Sie verbissen sich ineinander, schlugen mit ihren langen Beinen aufeinander. Der Kampf dauerte höchstens zwei Minuten, dann erlahmten die Kräfte der einen Spinne - und dann geschah etwas Unheimliches: Die Sieger-Spinne begann in rasender Geschwindigkeit, mit klebrigen Fäden den Gegner einzuwickeln. Zum Schluß hing dieser zum Knäuel verschnürt am Stab, der Sieger wanderte wieder in die Streichholzschachtel.

Während wir diesem eigenartigen Spiel zuschauten, war Klaus weitergebummelt. Jetzt kam er eilig zurück.
"Wißt ihr, was mir eben passiert ist? Eine Ecke weiter hat mich ein junger Mann angesprochen - ganz heimlich. Er hat mir Gold angeboten - zu einem lächerlichen Preis: Für eine Unze will er 30 Pesos, das sind zehn Mark!" "Damit ist nicht mal sein Risiko bezahlt," meinte Elsa.
"Aber es ist mehr als das Doppelte, was er für einen ganzen Tag in der Mine verdient. Er bekommt 12 Pesos, also 4 Mark, ich habe ihn gefragt. Der niedrigste Tageslohn liegt bei 9 Pesos. Da ist das wie ein Hauptgewinn beim Lottospiel, wenn einer mal ein Goldkorn rausschmuggeln kann."
"Ich habe eine bessere Idee als ihm das geklaute Gold abzukaufen," Elsa holte 30 Pesos aus der Tasche.
"Wir geben ihm das Geld, und er nimmt uns dafür mit in seine Wohnsiedlung. Wartet er noch?"
Er wartete noch, und als er unseren Vorschlag hörte, war er zunächst überrascht. Dann aber willigte er deutlich erleichtert ein.
Wir nahmen ein Taxi zum Camp, und auf der Fahrt erfuhren wir Dinge, von denen bei der offiziellen Bergwerksführung nicht die Rede gewesen war, zum Beispiel, daß die Arbeiter im Berginneren Temparaturen bis zu 70 Grad Celsius aushalten müssen.
Klaus notierte sich den Namen der Krankheit, die sich mit Geröllstaub in die Lungen der Minen-Arbeiter schleicht. Es ist das längste Wort, das ich je gesehen habe:
"Pneumoniultramicroscopicsilicovolcanoconoisis".

Zu dem Wohncamp gelangte man nur durch das bewachte Werktor. Die Wächter hatten uns am Vormittag mit dem Mann von der Geschäftsleitung gesehen, so hatten wir keine Schwierigkeiten.
In engen Reihen standen an einem steilen Felshang Holzbaracken. Eine Holzstiege führte zu einem langen überdachten Gang, von dem gingen die Wohnungstüren ab.
Jetzt am Wochenende waren auch die Männer daheim. Es wimmelte von Menschen. Kleine Kinder krabbelten über die Bretter, alte Männer lehnten an der Hauswand.
Der junge Goldschmuggler machte uns mit einigen bekannt. Einer zeigte uns seine Hände, die Haut war zerfressen.
"Bei manchen greift der Staub nicht bloß die Lunge an," erklärte unser Begleiter.
"Er muß nicht mehr arbeiten?" fragte Klaus, "Er ist sicher schon über sechzig?"
"Oh nein - vierzig! Im Berg wird man schnell alt!"
Dann durften wir durch eine Tür treten. Nur ein Raum lag dahinter.
"Vier mal vier Meter," schätzte Klaus die Wohnfläche. An den Wänden stapelten sich Holzverschläge - die Etagenbetten.
"Gewöhnlich wohnen zwei Familien in solch einem Raum, und jede Familie hat fünf oder sechs Kinder. In den vier Wohncamps leben so rund 30.000 Menschen!"
"Aber was passiert denn mit dem ganzen Gold?"
Mir wollte nicht in den Kopf, daß die Männer ungeheuren Reichtum aus der Erde holten und hier in dieser gräßlichen Armut lebten.
"Du wirst es nicht glauben," antwortete Klaus, "aber das meiste landet wieder unter der Erde, nämlich in den Tresoren der großen Banken! Und wenn du dort hinüber blickst, siehst du da einen neuen Berg wachsen. Das ist das ausgewaschene Geröll. Es ist nutzlos, und es ist giftig, denn das Gold wird ja mit chemischen Mitteln herausgeholt."
"Ja," sagte der Goldschmuggler, "dort wächst nie wieder Wald!"


EIN "KNÜLLA" IN MANILA

Zwei Wochen lang hatten wir meistens Reisgerichte gegessen, "native food", das Essen der Einheimischen. Am ersten Tag nach unserer Rückkehr nach Manila hatten wir alle wieder Appetit auf 'was Europäisches, und Klaus hatte von einem italienischen Restaurant gehört - "Die Grotte", das war bei den Europäern, die wir kennengelernt hatten, sehr beliebt.
Und nicht nur bei den Europäern, wie wir rasch merkten: An den weißgedeckten Tischen saßen bei Kerzen-Schummer-Licht auch viele Einheimische. Die Männer trugen Anzüge nach dem letzten modischen Schrei, und ihre Frauen glänzten in ähnlicher Weise.
"Die sind betucht," meinte Klaus, und er meinte damit weniger ihre Kleidung, sondern mehr ihren Geldbeutel.
Wir schlemmten: Pizza mit allem drum und dran, Elsa und Klaus leisteten sich sogar eine Flasche italienischen Rotwein. Und dann kam die Rechnung: 260 Pesos! Das sind knapp 87 Mark.
"Na, da hätten wir in Bremen doch bestimmt - na vielleicht 100 Mark bezahlt," beruhigte Klaus sein Gewissen, "oder?"
Elsa stellte den Mocca mit dem Weinbrand beiseite und - holte den Rechner heraus. Sie tippte eine Weile darauf herum, während Klaus sich eine Pfeife ansteckte und ich genüßlich mein Vanille-Eis mit heißer Himbeer-Soße zu Ende löffelte.
"Gehen wir mal davon aus, daß in Deutschland der monatliche Niedrigstlohn, sagen wir von einem Kumpel bei 1.500 Mark netto liegt - richtig?"
"Eher höher," sagte Klaus.
"Gut. Ein Arbeiter in der Goldgrube von Baguio verdient im Monat - wenn wir die Sonntage abziehen und den Tagesmindestlohn von 9 Pesos nehmen: 243 Pesos."
Klaus nahm seine Pfeife erschrocken aus den Zähnen.
"Dann haben wir gerade mehr als den gesamten Monatslohn eines Goldminen-Arbeiters ver...!"
"Die Rechnung stimmt natürlich nicht, wenn wir immer mit dem Geld rechnen, das uns zur Verfügung steht," gab Elsa zu bedenken.
"Du hast ja recht, zu Hause hätten wir für dieses Essen in so einem Restaurant wahrscheinlich viel mehr bezahlen müssen. Aber interessant ist es doch, daß unsere Mit-Esser hier, die Damen und Herren aus Manila, für ihre Speise-Rechnungen keine D-Mark oder US-Dollar zum Umtauschen haben! Bei ihren Einkünften handelt es sich ja um dieselbe Währung, die der Arbeiter in der Goldmine erhält!"
"Sie verdienen mit ihren Geschäften bloß ein paar Pesos mehr!"
Klaus begann wieder seine Pfeife zu paffen.
"Wieviel mehr? Zum Vergleich nehme ich noch mal den Kumpel im deutschen Steinkohle-Bergbau mit seinem 1.500 Mark Monats-Mindestlohn. Drei Filippinos, die hier eine Rechnung über 260 Pesos zu bezahlen haben, hätten jeder den dritten Teil des Monatslohns eines philippinischen Grubenarbeiters ver-speist - klar?"
"Klar!"
"Das wären - auf deutsche Verhältnisse übertragen - also: Fünfhundert Mark, die jeder von uns dreien hier und heute verjubelt hat - zusammen 1.500 Mark!"
Jetzt ging Klaus die Pfeife aus.

Für Leute, die es sich leisten konnten, solche Preise zu bezahlen, war offenbar auch das Spektakel gedacht, das Zeitungen und Fernsehen seit Wochen angekündigt hatten: "A Thrilla in Manila".
"Thriller ist so etwas wie ein Knüller," erklärte Klaus und reimte den deutschen Titel "Ein Knülla in Manila".
Die Zeitungen schrieben: "Dies wird die zweite große Schlacht auf den Philippinen seit der Belagerung und Zerstörung Manilas im Zweiten Weltkrieg!"

Es war von einem Boxkampf die Rede, vom Kampf um die Weltmeisterschaft zwischen Mohammed Ali und seinem Herausforderer Joe Frazier.
Bevor wir Manila in Richtung Norden verlassen hatten, waren wir den beiden zum ersten Mal begegnet. Klaus hatte mich zu einer Presse-Konferenz mitgenommen. Auf der ging es zu wie in einem Zirkus.
Joe Frazier sang ein Lied. Darin beschrieb er, wie schnell er seinen Gegner k.o. schlagen wollte. Abends telefonierte Klaus mit seiner Redaktion in Deutschland, um einen Bericht durchzugeben.
"Die große Klappe gehört zum Geschäft," schrie er ins Telefon, denn die Verbindung war über diese Strecke mal wieder miserabel.
"Die größte hat nach wie vor Mohammed Ali. Ich bin zu schnell für Joe Fr-zier, sagt er. Ich bin so schnell, das muß ich euch erzählen: Gestern abend habe ich in meinem Hotelzimmer das Licht ausgeschaltet, dann bin ich ins Bett gesprungen, und dort war ich, bevor es im Zimmer dunkel wurde!"

Nun ist Klaus ja kein Sportreporter, er war noch kein einziges Mal beim Boxen, und deshalb berichtete er über etwas, das am nächsten Tag in keiner Zeitung stand.
"Ein Reporter hat gefragt, weshalb Mohammed Ali seinen Glauben gewechselt hat, vom Christentum zum Islam. Und da macht der Weltmeister, der von seinem alten Namen Cassius Clay nichts mehr wissen will, klar, daß er noch etwas anderes im Kopf hat als bloß Boxen und das Schaugeschäft. Mohammed Ali spricht vor der versammelten Presse aus aller Welt plötzlich von den sozialen Mißständen in den USA, von der Mißachtung seiner Rasse! Er spricht davon, daß die Schwarzen in seinem Land das Christentum nur als eine Religion der Reichen kennengelernt haben. Die Schwarzen hatten keinen eigenen Namen; sie trugen den Namen ihres weißen Besitzers. Schwarz - so sagt Mohammed Ali - das war immer das Schlechte. Weiß, das war der Jesus der Weißen, weiß, das waren seine Apostel! Euer Jesus in Manila - auch er ist weiß. Warum gibt es keine philippinischen Engel, warum keine japanischen, keine afrikanischen? Das Christentum ist eine gute Religion, wenn die Menschen wirklich so leben, wie sie es sagen; es ist eine gute Religion, wenn sie das tun, was sie predigen!"

Die teuersten Plätze im Colosseum der Hauptstadt kosteten am Abend des Weltmeister-Kampfes pro Sitz umgerechnet 875 Mark. Der Verkauf der Eintrittskarten allein brachte fünf Millionen Mark.
Wir waren rechtzeitig zum Kampf aus dem Norden wieder nach Manila zurückgekehrt. Das Fernsehen übertrug die Schau direkt in 68 Länder der Welt.
Wir guckten im Hotel auf die Mattscheibe. Da sah ich vierzehn Runden lang die beiden aufeinander eindreschen, und in den dreizehn Pausen dazwischen rollten schnittige Autos über den Bildschirm - eine japanische Autofirma hatte vom philippinischen Fernsehen die gesamte Sendezeit der Box-Übertragung gekauft. Auf diese Weise bekamen wir zum Schluß leider nicht mit, wie Ali zum Sieger erklärt wurde - die Auto-Werbung war zu spät ausgeblendet worden!
In den Zeitungen stand hinterher, 700 Millionen Menschen hätten bei der weltweiten Fernseh-Übertragung zugeschaut.
"Haben die auch die Auto-Werbung gesehen?" wollte ich wissen.
"Die war nur im philippinischen Fernsehen," wußte Klaus. Er hatte noch einmal mit Deutschland telefoniert, wo man den Kampf in der Nacht auch direkt hatte verfolgen können.
"Aber vorher gab es einen Film über die Philippinen. Der war überall in der Welt zu sehen, und das war's, was mit der Schau erreicht werden sollte: Eine weltweite Werbung für ein Land, in dem Ruhe und Ordnung herrscht, in dem genügsame, aber arbeitsame Menschen leben, das dem Unternehmergeist Tür und Tore öffnet - mit anderen Worten: in dem man noch ordentlich was verdienen kann! Beim 'Knülla in Manila' war das Boxen eigentlich Nebensache."


DIE MORO-REBELLEN

Wir kamen noch einmal auf Mohammed Ali zu sprechen, als wir in den Süden flogen - zu den Moslems auf Mindanao.
"Das ist nicht bloß ein Tick von diesem Boxer," sagte Klaus. "Er ist tatsächlich so etwas wie ein Botschafter seiner Religion, und er ist ein sehr überzeugter Moslem. Er hat es abgelehnt, im Krieg der Amerikaner gegen das vietnamesische Volk zu kämpfen - er hat den Wehrdienst verweigert, trotz Gefängnisdrohung und Aberkennung seines Weltmeister-Titels. Es wundert mich, daß er hier gar nichts zum Schicksal seiner Glaubensbrüder auf Mindanao gesagt hat."
"Die Spanier waren hier," begann ich aufzuzählen, "die Amerikaner und die Japaner. Wo kommen denn jetzt auch noch die Moslems her? Sind das denn nicht Araber?"
"Das ist frühe Kolonialgeschichte. Die beginnt noch vor den spanischen Eroberungszügen rund um die Welt."
Klaus nahm ein rotes Kärtchen vom Tablett, das gerade die Stewardess vor ihm absetzte. Auf der einen Seite war das Bild eines Schweines durchgekreuzt. Auf der anderen Seite war in fünf Sprachen aufgedruckt:
"Dieses Gericht enthält kein Schweinefleisch."
"Solche Hinweise werden uns in Südost-Asien noch häufiger begegnen," sagte Klaus und steckte das Kärtchen in seine Brieftasche, "und auch arabische Schriftzeichen, obwohl die Moslems, die heute in vielen Ländern Südost-Asiens großen Einfluß haben, längst keine Araber mehr sind. Es ist die Schrift des Koran - wenn du so willst, die Bibel der Moslems, oder der Mohammedaner, oder der Moros - wie sie in der Gegend heißen, in die wir jetzt fliegen."
"Moros?" Elsa kramte in ihren spanischen Sprachkenntnissen. "In der Nähe der spanischen Stadt Granada gibt es in den Bergen einen Felsvorsprung, der heißt 'El Ultimo Sospiro del Moro', das bedeutet 'Der letzte Seufzer des Mauren'. Und die Mauren - das waren Araber aus Nordafrika, und der da geseufzt hatte, das war der letzte maurische Fürst, der Ende des Fünfzehnten Jahrhunderts Granada an die spanischen Herrscher zurückgeben mußte, womit fast 800 Jahre arabische Herrschaft über einen Teil Spaniens zu Ende ging."
Klaus fuhr fort: "Das war genau die Zeit, als arabische Händler hierher nach Südost-Asien kamen und den östlichsten Vorposten des Islam bildeten. Und nun müßt ihr euch die Überraschung der Spanier vorstellen, als sie nach einer Reise um die halbe Welt und ein halbes Jahrhundert später im Süden dieser Inselgruppe wieder auf Moros trafen, die ihnen ihre Eroberung streitig machten! Der Kampf zwischen Christen und Moslems entbrannte erneut, aber - wie wir in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts sehen: Die Spanier haben alle Eingeborenen kleingekriegt und sie zu ihrem Glauben bekehrt - bloß die Moros nicht! Die kämpfen noch heute!"
Klaus langte die Mappe aus seiner Tasche, in der er Zeitungsausschnitte sammelte.
"Fast täglich stehen sogar in den Zeitungen von Manila Berichte über Aktionen der 'Moro National Liberation Front' - das ist die Befreiungsorganisation der Moros. Von Zeit zu Zeit dürfen Fremde gar nicht nach Mindanao - dann wird dort geschossen, oder die Rebellen haben gerade wieder einmal einen Ausländer gefangen genommen, um die Regierung in Manila unter Druck zu setzen."
Na, das waren ja schöne Aussichten!

Das erste, was wir nach unserer Ankunft im Süden der Insel Mindanao hörten, das waren dann aber doch nicht Schüsse, sondern die langgezogenen Gebetsrufe eines Muezzin.
Der ersetzt bei den Moslems die Kirchenglocken. Jedesmal, wenn ihre Stunde des Gebetes naht - und das ist fünfmal am Tag - ruft die Stimme vom Minarett, dem schmalen Turm. Und dann eilen die Gläubigen zur Moschee, ihrer Kirche. Die hat meistens eine halbrunde Kuppel, auf der ganz oben die Form einer Mondsichel steckt. Innen ist es angenehm kühl, aber hinein darf man nur barfuß oder auf Socken, die Schuhe bleiben draußen. So war das jedenfalls in den meisten Moscheen, die wir später besuchten.

Als wir aber diesen ersten Muezzin-Rufen folgten, war alles ganz anders. In einem Prospekt für Touristen hatten Elsa und Klaus den Namen einer Moslem-Siedlung in der Nähe von Davao, unserer ersten Station auf Mindanao, gefunden: Die Moslem-Siedlung des Dorfes Ilang.
"Wir müssen unbedingt heute noch hin," hatte Klaus schon kurz nach unserer Ankunft gedrängt. "Heute ist 'HARI-RAYA', ein hohes Moslem-Fest: Der erste Tag nach dem Fastenmonat 'Ramadan' - heute können alle Moslems zum ersten Mal wieder nach vierwöchigem Fasten zulangen und essen, soviel sie wollen." "Auch Schweinefleisch?" Ich erinnerte mich an das Kärtchen mit dem durchgestrichenen Schwein im Flugzeug.
"Nie! Das hat ihnen ihr Prophet Mohammed verboten - genau wie den Alkohol." "Aber warum denn?"
"Für die meisten Mohammedaner ist das wohl ein Verbot, das gehört eben zur Religion, und darüber wird nicht diskutiert: Mohammed hat es so gesagt!" antwortete Klaus. "Aber vielleicht war der Prophet nicht bloß religiös, sondern auch praktisch veranlagt. Da gibt es zum Beispiel eine schwere Krankheit, die durch Würmer im Schweinefleisch entstehen kann. Diese winzigen Schmarotzer sind mit bloßen Augen kaum zu erkennen. Sie heißen Trichinen, und wenn man sie mit dem Schweinefleisch abbekommt, dann kann das den Tod bedeuten! Durchfall, Fieber, die Muskeln werden starr, man kann nicht mehr atmen - Schluß!"
"Aber wir essen doch dauernd Schweinefleisch!" Der Schreck fuhr mir durch die Glieder, denn im Flugzeug hatte ich von einem Tablett gegessen, das nicht mit einer roten Karte als schweinfleischlos gekennzeichnet war.
"Heute ist das auch kein Problem mehr. Bei uns zum Beispiel gibt es die amtliche Fleischbeschau," beruhigte Klaus, "und wenn das Fleisch durchgebraten oder gekocht ist, gibt es darin auch keine Trichinen mehr. Aber woher sollte Mohammed das vor über tausenddreihundert Jahren wissen, als vielleicht die Trichinen-Plage mal besonders groß war, und man immerhin feststellen konnte, daß die tödliche Krankheit vom Schweinefleisch-Essen kam? Na ja, und daß der Alkohol nicht gerade segensreich wirkt, das sieht man ja bei uns zu Hause, wo die Krankenkassen neuerdings auch die Behandlung von immer mehr Alkoholsüchtigen bezahlen müssen. Übrigens findet man solche Vorschriften in anderen Formen auch im Christentum: Denk nur an überzeugte Katholiken bei uns zu Hause, die essen noch heute freitags kein Fleisch - bloß Fisch!"

Die Moslems im Dorf Ilang sind Fischer. Ihre Hauptmahlzeit ist Fisch. Das fanden wir heraus, als wir den Muezzin-Rufen folgten. Die klangen sehr schrill. Sie dröhnten aus einem verbeulten Lautsprecher am Eingang eines Gebäudes, dessen Wände keinen Putz hatten und dessen Dach aus rostigem Wellblech bestand.
Das war die Moschee der Moslems von Ilang, und sie waren traurig, daß sie keine bessere hatten.
Nach ihrem Gebet saßen wir draußen unter dem Vordach. Der Steinbau stand so ziemlich als einziges Gebäude auf festem Land, alle Hütten waren auf Pfählen ins Meer gebaut und untereinander mit Holzstegen verbunden.
"Wir haben kein Land, auf dem wir etwas anbauen könnten," sagten sie, "Sogar der Boden, auf dem unsere Hütten halb im Wasser stehen, ist privates Land."

Die Moslem-Siedlung lag in einer Gegend, in der die philippinischen Christen das Sagen haben.
"Oh, wir kommen viel besser miteinander aus, als früher," beeilte sich der Siedlungschef, zu versichern.
Klaus hatte wieder sein kleines Tonbandgerät herausgeholt.
"Ist das ein Religionskrieg zwischen Moslems und Christen hier auf Mindanao?"
"Die Lehren des Koran," so antwortete der alte Moslem, "bringen uns manchmal Probleme, weil die Gesetze für die Philippinen von Christen gemacht sind. Nach dem Koran zum Beispiel kann jeder Mann bis zu vier Frauen heiraten, das macht nach unserer Vorstellung einen besseren Sinn, als daß man - wie es die katholische Kirche verlangt - auf ewig aneinandergekettet bleibt, auch wenn sich Mann und Frau nicht mehr verstehen. Aber die philippinischen Gesetze erlauben uns nicht dieses Recht, das der Koran uns gibt. Unsere Priester tun ihren Dienst seit jeher freiwillig und ohne Lohn. Neuerdings brauchen sie aber eine Erlaubnis vom Staat. Das sind ein paar der Schwierigkeiten, die wir haben."

Klaus hatte sich ein Empfehlungsschreiben für den Mann besorgt, der sich im Auftrag des Präsidenten um die Entwicklung der Moslem-Gebiete zu kümmern hatte.
"Sie können sich selber davon überzeugen, wie gut es der Präsident mit den Moros meint," sagte der hohe Beamte. "Kommen Sie heute nachmittag mit. Ich treffe mich mit den Führern von drei Moslem-Siedlungen, die wir jetzt völlig erneuern können. Der Präsident hat dafür gerade dreieinhalb Millionen Pesos bewilligt!" (Knapp 1,2 Millionen Mark)
Und als am Nachmittag die Dorfführer zusammensaßen, holte der Beamte den Scheck aus der Brieftasche und ließ ihn gönnerhaft von Hand zu Hand gehen. Aber da erhob sich ein alter Mann.
"Ich spreche englisch, damit auch unsere Gäste verstehen, worum es uns geht: Keiner von uns allen hier ist zu dem Plan gehört worden. Ich habe nichts davon erfahren, selbst als Maschinen kamen und die ersten Häuser einrissen, wußte ich nicht, worum es ging!"
Es ging um die Umsiedlung der Moslems in eintausendvierhundert neue Häuser. Auf den Plänen waren lange Straßenreihen zu sehen, ganz anders als es die Art der alten Moslem-Dörfer ist. Dafür war ein uraltes, verwinkeltes Wohngebiet auf der Karte schon wegradiert. An seiner Stelle konnte man die Skizze eines großen Parks erkennen.
"Das ist die typische Planung am 'grünen Tisch'," meinte Klaus. "Wenn Planer aus der Großstadt Manila sich Dorfleben vorstellen, wird daraus rasch ein Klein-Manila!"
Ein Offizier stand auf, der bis dahin schweigend zugehört hatte.
"Der Präsident," so sagte er, "hat angeordnet, daß nur das geschehen soll, was die Leute wirklich wollen! Und das wird geschehen - und wenn der ganze Plan in die Binsen geht!"
Es wurde beschlossen, jetzt eine Befragung zu organisieren. Die betroffenen Familien sollten erklären, ob sie ein neues Dorf nach ihren Vorstellungen haben wollten, oder ob sie bloß Verbesserungen in ihren alten Siedlungen brauchten.
"Aufruf zum Ungehorsam!" Klaus war verblüfft. "Und das vom Militär!"
Später traf er sich mit dem Offizier. Der hatte in seinem Büro Bilder vom Krieg in Vietnam hängen, an dem auf Seiten der Amerikaner auch philippinische Soldaten teilgenommen hatten. Darunter war zu lesen: "LESSON - LEARNED IN VIETNAM" ("Lektion - gelernt in Vietnam") Und weiter: "Eine Armee wird niemals durch Gewalt Frieden und Ordnung erreichen, wenn den Bedrängten nicht geholfen wird!"

Klaus flog ein paar Tage später zusammen mit Georg auf die Insel Jolo noch weiter im Süden. Dorthin darf man nur mit einer Sonder-Erlaubnis des philippinischen Militärs, weil die Moro-Rebellen keine Ruhe geben.
Beide wurden vom Gouverneur eingeladen, mit einem Hubschrauber über die Insel zu fliegen. Klaus erzählte hinterher, er hätte nicht genau feststellen können, wer mehr geschwitzt habe vor Angst, er und Georg, oder die beiden Soldaten, die links und rechts ihre Maschinen-Gewehre schußbereit gehalten hätten.
An einer abgelegenen Ecke des Hafens von Zamboanga - das ist eine Stadt am westlichen Zipfel von Mindanao - traf sich Klaus später mit einem Führer der Moro-Rebellen. Der war sogar einmal in Hamburg gewesen und hatte dort gearbeitet. Klaus machte ein Interview mit ihm - das letzte auf den Philippinen:
"Die Philippinen haben drei Kolonialherren erlebt," erklärte der junge Mann, mit einem Tuch um den Kopf wie ein Turban. "Die Spanier, die Amerikaner und die Japaner. Darüberhinaus haben fremde Volksgruppen bei uns immer großen Einfluß gehabt, zum Beispiel die Chinesen, die Inder, die Araber. Wir sind nie in der Lage gewesen, unsere Kultur ungestört durch fremde Einflüsse zu entwickeln. Sehen Sie, wenn Sie mich fragen - was ist ein Filippino, oder was ist philippinische Kultur? - ich kann es Ihnen nicht sagen. Es müßte erst wiederentdeckt werden, was vor der Ankunft der Spanier vor vielen hundert Jahren existierte. Und es muß daran erinnert werden, daß die Moslems jene Gruppe waren, die sich ihre Gesellschaftsform am besten erhalten hat. Manila war ja einmal Moslem-Stadt! So ist auch unser Problem hier zu verstehen: Wir Moslems haben uns einen unabhängigen Geist erhalten. Wir glauben bis heute, daß es keiner fremden Macht gelingen wird, uns zu unterwerfen! Das kann nicht jeder Filippino sagen. Die Moslems sind das einzige Volk auf den Philippinen, das nie kolonisiert wurde - warum sollte es heute?"
Klaus hat später gesagt: "Er weiß noch nicht, daß ausländische Öl-Gesellschaften da draußen im Meer gefunden haben, wonach sie suchten!"

 
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