|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
DER WEG AUS DER ENGE
In diesem Winter 1986/87 erinnert Mitteleuropa an Bilder
aus dem tiefsten Sibirien:
"Wie der Stahl gehärtet wurde"
Ostrowskis Epos über den kollektiven Bau einer
Eisenbahnlinie durch die froststarre Taiga.
Ich habe eine verschwommene Erinnerung an diesen
Entwicklungs- und Erziehungsroman aus den Dreißigern, in
den Fünfzigern Pflichtlektüre in der
Karl-Liebknecht-Schule zu Bernsdorf. Hängengeblieben ist
der Eindruck von tödlicher Kälte, wie sie jetzt in
unser Auto kriecht, durch alle Ritzen, und trotz auf
Höchstleistung laufender Heizung die Innenseiten der
Scheiben mit Frosträn- dern beschlägt.
Es geht schon seit geraumer Zeit bergauf, zwischen
meterhohen Schneewänden, vorbei an vereinzelten
Ferienhäusern und kleinen Pensionen, die unter Panzern
von Eis verborgen bleiben, ausgewuchert zu
Eiszapfen-Palästen. In engen Kurven sind Lastkraftwagen
mit schwerer Fracht liegen geblieben, schwarzer Gummi hat
sich in schartigen Eismulden abgerieben. Wir ziehen mit
75 PS und Vorderradantrieb vorbei, und schaffen es
dennoch nicht, vor Einbruch der Dunkelheit. Die
Hinweisschilder sind zugeweht, wir schlittern in eine
hohle Gasse aus Schnee und Eis, kärglich beleuchtet
durch Bogenlampen hinter Vorhängen von treibenden
Flocken.
Zinnwald,
Staatsgrenze der DDR, Übergang von der CSSR
ein Mann und eine Frau mit westdeutschen
Reisepässen, die als Wohnort Harare / Zimbabwe
ausweisen, begehren Einlass. Für den Transit
gibt es eine Laufnummer. Die DDR-Botschaft in
Harare hatte bestätigt, für die Unterbrechung
der Durchreise sei ein Visum nicht erforderlich
stimmt, aber nun ergibt sich ein anderes
Problem: Die Laufnummer soll auch das
Herkunftsland der Transitreisenden vermerken,
doch die Buchhaltung des DDR-Außenministeriums
erweist sich als unzuverlässig. Der abgegriffene
Katalog, der die Länder der Welt
durchnummeriert, registriert unter "Z"
Fehlanzeige.
Ich rege an, unter "S" nachzuschlagen:
Das Bonner Auswärtige Amt schreibe das
afrikanische Land mit "S"
"Simbabwe" (und denke an
deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten). "Ooch
nich," sagt die Dame von
"Intourist", und da steigt in mir ein
Verdacht auf. "Vielleicht versuchen Sie es
mal unter 'R' wie Rhodesien," schlage ich
vor.
"Nu ja, da hammers ja!" Erleichterung,
sächsische Bürokratie kann ihren Lauf nehmen
nummernmäßig.
|
|
|
Wir schlittern bergab
Richtung Elbe, durch heimelig erleuchtete Kurorte. Hinter
Schneewehen am Wegesrand lockt die Wärme eines Cafés.
Doch Halten ist unmöglich: Die Einfahrt ist blockiert
durch Schneemassen. Es wäre Zeit, den Tank aufzufüllen.
Am Ortsausgang Licht in einer Tankstelle, die Zufahrt
blockiert durch Schneemassen. Will hier keiner ein
Geschäft machen?
Zwei Scheinwerferstrahlen drängen uns an den Wegrand,
ein Militär-LKW donnert vorbei, die Rücklichter sind
bald vom Schneetreiben verschluckt. Vorsichtig nehmen wir
die Fahrt wieder auf.
Nach zwei Kilometern springt eine winkende Gestalt in den
angestrahlten Schneewirbel.
Dahinter rechts die dunkle Silhouette eines
liegengebliebenen PKW.
"Gönnse uns wohl een Gefalln dun? Mer sin
liechengebliem!" Eiszapfen am Bart, der Atem
gefriert sofort zur Frostwolke.
"Was ist denn das Problem?"
"Nu die Badderie is alle. Bin schon zwanzsch
Gilomeder runnergeloofen un widder hoch. Mer missen
abgeschlebbd wern."
"Aber war das nicht eben die Volksarmee, die
vorbeigefahren ist?" "Nu die helfn doch
nich! Däden Se uns wohl den Gefalln?"
Nach zwanzig Kilometern eine Tankstelle ohne
Schneeblockade. Eine Hand kommt durchs geöffnete
Fenster.
"Is'n Johannisbeerligör aus der Gechend. Nehmses
als Dangescheen!"
Ankunft im Hotel
"Newa", für die erste Nacht in Dresden
zugewiesen am Grenzkontrollpunkt durch
"Intourist".
"Haben Sie aus Zinnwald eine Reservierung für uns
erhalten?"
"Nee nich für Sie, bloss für zwee Leude aus
Zimbabwe."
"Ja, das sind wir!"
"Abber, Se sin doch geene Afriganer!"
Die Koffer haben wir selber hereingeschleppt, jetzt geht
es um eine Hotelgarage. Ein Batterietod in der Frostnacht
soll vermieden werden.
"Mer ham nischt mehr frei!"
Der Hinweis auf 170 Westmark für eine Übernachtung
hilft schließlich weiter, der Privatwagen eines
Hotelangestellten wird aus der Box der Tiefgarage in die
gähnende Leere des Untergeschosses gerollt. Endlich
betreten wir unser Zimmer im siebten Stock und
gehen rückwärts wieder raus: Wir haben eine Sauna
gemietet. Eine Etagenkraft des Hotelkaders klärt uns auf
die auf voller Pulle laufende Heizung lässt sich
leider nicht regulieren. Also strömt die zentral
angelieferte Kraftwerkwärme durch weitgeöffnete Fenster
in die Dresdener Nacht.
Die lockt zu erster Erkundung.
Nach einigem Suchen finde
ich den Bierkeller am Altmarkt, in dem ich mit Muttern
auf Ausflug vom Dorf in die Großstadt 1956 Kasseler mit
Sauerkraut gegessen hatte.
Unsere Mäntel werden an der Garderobe gegen zwei
Groschen entgegengenommen. Wir steigen die Treppe hinab
und finden uns am Ende einer Schlange wieder, die
geduldig darauf wartet, dass im Restaurant der eine oder
andere Platz geräumt wird das kann Stunden
dauern. Jedesmal, wenn ein Ungeduldiger die Schwingtür
öffnet, tönt es vollkehlig aus dem warmen Säulensaal:
"Es zieht!"
Wir nehmen unsere Mäntel wieder und erklettern nach
weiterem Irren durch menschenleere Straßen den ersten
Stock eines Etablissements, das vor dreißig Jahren erste
Adresse sozialistisch-kulinarischer Solidarität war: Ein
ungarisches Speiserestaurant.
Hier ist es zwar leer, aber der (deutsche) Kellner
schränkt sofort die Wahlfreiheit ein auf einem
Podium im hinteren Teil (nahe der Küche) möchten wir
bitte Platz nehmen.
Vier bis fünf Tischbesatzungen beobachten unseren
Widerstand, selber brav auf ihren vermutlich ebenso
angewiesenen Plätzen. Die ganze Fensterfront ist frei,
wir werden zu Dissidenten und genießen bei
Gulasch und Rotwein den Blick auf eine einsam rumpelnde
Straßenbahn.
"Laß uns morgen
früh durchfahren bis Bremen," sagt meine Frau, aber
ich will mir die Annäherung an meine Heimat nicht nehmen
lassen (und außerdem haben wir schon 180 Westmark für
die nächste Übernachtung in Weimar bei
"Intourist" hingeblättert).
Der Zwinger ist
am nächsten Morgen unser Ziel, ich will noch
einmal die "Sixtinische Madonna" sehen,
vor der ich atemlos als kleiner Junge stand.
Beinahe hätte ich sie verpasst, denn ein kleiner
dicker Sachse erwischt uns im Ersten Stock, hat
uns fix ausgemacht als Westler und verwickelt uns
in ideologieträchtige Diskussionen.
"Gorbatschow" ist sein Thema und
sein rotes Tuch. Verblüfft
nehme ich zur Kenntnis, "dass der Mann
erschossn geheerd". Ich merke bald, das
Weltbild des alten deutschen Kommunisten ist
durcheinandergeraten. "Das gehd doch bloß
uf unsre Gosdn," wettert er, "nach
außn midn Ameriganern scharwänzln un nach innen
fesde druff!"
Konsequent ist er aus der
Partei ausgetreten und bewacht nun die alten
Meister in Dresdens Zwinger-Galerie.
|
|
|
Im Eingang des
"Newa"-Hotels steht bei unserer Rückkehr
plötzlich auch eine Wache, das riesige Foyer dahinter
ist düster und menschenleer. Wo sind an diesem Tag
mitten in der Woche all die Hotelgäste?
"Nu mer machn sauber!" sagt der Wächter
und lässt mich ausnahmsweise noch mal rasch aufs Klo.
Der gesamte Geschäftsbetrieb ist für vierundzwanzig
Stunden eingestellt, die Planwirtschaft holt Atem
koste es, was es wolle.
43 Kilometer hinter
Dresden radelt ein Bauer am gelben Hinweisschild vorbei.
"Bernsdorf" der Name hat sich nicht
geändert, obwohl der Ort inzwischen Stadtrechte erhielt.
"Zuerst kommt der Bahnhof, dann ein Wäldchen,"
will ich erklären, aber da sind wir schon an ihm vorbei
und das Wäldchen noch immer vorhanden
ist auch schon vorüber. Die Welt ist kleiner
geworden, seit ich als Junge, mit dem Milchtopf in der
Hand, die Strecke zu bewältigen hatte.
Ich bremse, das Haus
meiner Kindheit steht in winterlicher Nachmittagssonne,
gealtert, aber in erinnerter Kontur zur Linken. Große
Mörtelflächen sind abgefallen es ist mit mir
älter geworden, denke ich. Mein Blick schweift über die
Nachbarschaft mein Gott, die Zeit ist
stillgestanden. Verfall ja, aber wenn Altern Entwicklung
meint, dann haben wir beide das Haus und ich
sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Als ich
aus dem Wagen steige, trete ich in ein altes, vergilbtes
Bild.
Der Hof: Die Tür zu
unserem alten Schuppen steht offen, dort hinten ist unser
Feuerholzplatz, ein "Scheitlahaufen" wie damals
der Garten, unverändert. Nein, die
Kaninchenställe von Opa Hayden fehlen, der mir seine
Karl May-Bände lieh und in dessen selbstgebasteltem
Radio wir Kinder Westfunk hörten illegal
"Der Onkel Tobias vom RIAS ist da". Opa Hayden
hatte mir die erste schmerzliche Erfahrung im Umgang mit
Geld vermittelt: Eine geschenkte Banknote mit unzähligen
Nullen, in der Hand des Sechsjährigen schon eingeplant
für die Anschaffung eines Motorrades, erwies sich als
wertloser Inflationsschein.
Namensschilder an Briefkästen im Treppenhaus. Ist da
noch jemand, den ich kenne? Der Schneider Panitzek in der
Wohnung über uns! Ich ziehe meinen Handschuh aus, klappe
die Ohrenschützer der etwas zu kleinen Fellmütze
zurück diese Mütze, eine
"Russen"-Mütze, erst jetzt fällt es mir ein,
schenkten mir die Eltern zu einem Weihnachtsfest in
diesem Haus! Der Mantel, ihn trug mein Vater hier! Beides
wurde zur Ausrüstung des Afrika-Heimkehrers im deutschen
Winter, unbedacht in Bremen zusammengeklaubt aus
Kellerbeständen, weil Winterkleidung nurmehr für
Urlaubswochen nötig wird.
Es schellt irgendwo hinten in der Wohnung.
"Ja, bitte?" Die ältere Frau, die geöffnet
hat, schaut fragend auf die Fremden.
"Mein Name ist Klaus Jürgen Schmidt ..."
"Die Schmidts wohnen schon lange nicht mehr
hier!"
Aber noch bevor ich die nötige Erläuterung geben kann,
schallt es aus einem der hinteren Räume: "Der
Klausi!"
Das war's! Nun hatte mich die Vergangenheit ganz
eingeholt, nicht nur als Bild, sondern auch akustisch.
"Klausi" wie ein Echo meiner Kindheit
hallt es durchs Treppenhaus.
Ich kann es kaum kapieren.
Als wäre ich nur mal eben von einem längeren
Ferienaufenthalt zurückgekommen damals etwa aus
Kühlungsborn an der Ostsee sitzt der alte
Panitzek gegenüber vom Kachelofen und fragt mich aus.
"Wo lebt ihr jetzt? In Zimbabwe? Lass mal
sehen das ist doch dieser südliche Teil der
ehemaligen Rhodesischen Föderation!" Wom!
"Wohnt ihr in Salisbury? Nein nein, das
heißt doch jetzt Harare!" Womm!
"Ja, ja euer Premierminister Robert Mugabe
ist bei uns häufig auf dem Bildschirm!" Wommm!
Also, aus der "Lausitzer Rundschau" kann der
alte Panitzek sein Wissen nicht ausschließlich bezogen
haben, und ich versuche mir vorzustellen, was wohl ein
BRD-Rentner mit dem Begriff "Zimbabwe"
anzufangen wüsste.
"Ihr mögt ja materiell einen weiten Vorsprung
haben," sagt der alte Panitzek, "aber unser
Bildungswesen, gerade all das, was die
Entwicklungsländer angeht, da sind wir nicht schlecht
versorgt."
Unglücklicherweise hapert es in diesem Winter in der
Dresdener Straße 62 zu Bernsdorf mit der
Wasserversorgung, vor allem im sanitären Bereich. Wie
sehr mich das an die Kindheit erinnert: Wie in den
fünfziger Jahren hat das Eis die Wasserrohre in den
Außenwänden gepackt. Die Etagen-Plumpsklos sind zwar
durch Wasserspül-Klosetts ersetzt, aber da die
Zuleitungen eingefroren sind und nichts mehr plumpst,
wird das Spülwasser in Eimern auf die Etagen geschleppt.
"Fortschritt, mein Freund, wird bei uns unter
anderem an der Zahl von Wasserklosetts gemessen, die seit
Gründung der DDR installiert wurden," sagt mir
später ein Bekannter mit Zugang zu Planungs- und
Statistikdaten.
"Wir bauen zum Beispiel auch Waschmaschinen nach
Plan. Dennoch wirst du kaum eine in den Läden finden.
Wie kommt das? Die sozialistische Planerfüllung
funktioniert real so: Der Betrieb schafft nur 80 Prozent
des vorgegebenen Plans das ist von Anfang an klar.
Die nächst höhere Ebene, politisch verantwortlich für
die Erfüllung des Solls, meldet dennoch 100 Prozent
Planerfüllung nach Berlin. Auf dem Weg durch die
zentralen Büros verwandelt sich das Produktionsergebnis
auf wundersame Weise schließlich in eine Übererfüllung
des Solls sagen wir 120 Prozent. Mit
Waschmaschinen lassen sich dringend benötigte Devisen
erwirtschaften die tauchen dann im Versandhandel
bei euch im Westen auf. Also wird ganz oben entschieden:
80 Prozent in den Export, 40 Prozent für den eigenen
Markt. Es sind immer diese 40 Prozent, von denen wir
leben!"
Draußen sinkt die Sonne.
Drüben an den Holzbauwerken zieht eine Diesellok
Güterloren vorbei. Im Winter der Fünfziger pflegte der
Mann auf der Dampflok nachts langsamer zu fahren, damit
wir Kinder hinten auf die Waggons aufspringen und unseren
wartenden Freunden Braunkohlebriketts zuwerfen konnten
bis einer vom Schäferhund der Vopo-Wache gebissen
wurde.
Unsere
Bande nannte sich "TIMUR" nach
Arkadi Gaidars Jungen-Roman "Timur und sein
Trupp". Wir trugen die blauen Halstücher
der Jungen Pioniere mit Stolz in jener
Zeit von gemeinsamem Aufbau. Wir sammelten
Altpapier, Lumpen, Eisen, Glas, Knochen und
Eicheln in immer neuen Wettbewerben; der kleine
Klaus hatte auch Opa Haydens Mark Twain-Buch
gelesen, kaufte Mitschülern als verkappter Tom
Sawyer gegen Pfennigbeträge den Trödel ab und
erschlich sich den begehrten Platz im Bus zur
Rundfahrt durch den Thüringer Wald. Wir organisierten mit Begeisterung die
Kolonnen für den Aushub der Gräben entlang der
Straßenzüge im Dorf, das Netzwerk erster
Wasserleitungen. Das war Klausis erster Zugang
zum Mediengeschäft: Ein Artikel im Zentralorgan
der "Jungen Pioniere" und zehn
Abo-Werbungen, die als
"Selbstverpflichtung" vom
Arbeitseinsatz freistellten. Der Schneider
Panitzek fand damals eine andere Lösung: Er
hatte Sorge um seine nur Nadel und Faden
gewohnten Finger und kümmerte sich lieber um den
Nachschub voller Bierkrüge von
"Baldermann", den Radeberger Bierstuben
zwei Häuser weiter, als selbsternannter
Zeremonienmeister der freiwilligen Aufbauschicht.
|
|
|
Sonntagvormittags die
Botschaften von "Onkel Tobias vom RIAS" bei Opa
Hayden im Radio, nachmittags am einzigen
Schwarz-Weiß-Fernseher des Ortes im Clubraum der
Zinkweißhütte die patriotischen Botschaften
sowjetischer Jugendfilme.
In einem Winter wie diesem lauern fünf Jungen und zwei
Mädchen hinter der Gartenmauer bei Oma Lehmann. Endlich
meldet der Ausguck: "Die Luft ist rein!"
Oma Lehmann zieht mit dem Schlitten zum KONSUM. Sieben
Kinder mit blauen Halstüchern stürzen auf ihren Hof.
Eine Stunde später ist der vormittags angelieferte Berg
Braunkohle durch das Kellerfenster geschaufelt, mit dem
letzten Stück malt Klausi fünf Buchstaben an die Mauer:
TIMUR, und dann wartet die Bande im Versteck auf die
Rückkehr von Oma Lehmann. Die kriegt fast einen
Herzschlag, als sie den leeren Hof betritt.
Sieben Kinder mit glühenden Wangen schultern ihre
Schaufeln und schleichen von dannen.
Im Abfall der
Holzbauwerke, sorgfältig für Küchenherd und Kachelofen
das Jahr über auf dem Holzhackplatz gestapelt, findet
Klausi in einem Sommer ein Stück, das sich mit Hilfe
eines Schnitzmessers bald in die Form eines Gewehres
verwandelt. Zwischen Bohnen- und Tomatenranken wird mal
"Old Shatterhand", mal "Rotgardist"
gespielt bis sich im Zweiten Stock ein Fenster
öffnet.
"Ihr Lausejungen! Haben euch eure Eltern
nichts besseres beigebracht?"
Die sonst so stille Nachbarin, die sich an Hausfesten nie
beteiligt, an der sich im Treppenflur die anderen
Bewohner scheu vorbeidrücken sie schreit sich
jetzt die Lunge aus dem Leib.
"Die Hand soll euch verdorren, wenn ihr noch mal ein
Gewehr anfasst!"
Aber es ist doch nur ein Stück Holz, denkt der kleine
Junge und beschwert sich abends bei Vatern.
"Die Zeilern soll sich bei ihren Kommunistenfreunden
beschweren, d i e laufen doch schon wieder mit der Knarre
'rum," bekommt der Junge zu hören.
"Aber sie war doch im Lager," beschwichtigt
Muttern.
Im Lager?
Aus Siegfried Körners Bernsdorf-Chronik:Den Räumungsbefehl für die
Bernsdorfer Einwohner gaben am 19. April 1945 der
Ortsgruppenleiter der NSDAP, Otto Hoffmann, und
die Ortspolizeibehörde. Die Alarmierung erfolgte
um 19.30 Uhr durch die Sirene. ... Der Abmarsch
erfolgte gegen 22.00 Uhr. Als Evakuierungsorte
waren Radeburg und Dippoldiswalde vorgegeben. Die
Mehrzahl der Bernsdorfer Einwohner, die der
faschistischen Propaganda "Bolschewismus
bedeutet Tod" vertrauten, floh in Richtung
Dresden, Kamenz und in die umliegenden Wälder.
...
Meine Mutter, meine Schwester
und ich im Kinderwagen,
waren dabei.
|
|
eigener Postkartenfund: "Adolf-Hitler-Straße"
in Bernsdorf, Ansicht 1936
|
Einige Monate später
gehen alle Klassen der Karl-Liebknecht-Schule geschlossen
zu einer Nachmittagsvorstellung ins Dorfkino. Danach kann
Klausi nächtelang nicht schlafen. Die Eltern beschweren
sich beim Schulleiter eine Zumutung für die
Kinder! Der kleine Junge hat Berge von Leichen zu sehen
bekommen, Verbrennungsöfen, ausgemergelte Überlebende
des Konzentrationslagers von Auschwitz. Zu Hause wird
darüber nicht gesprochen. Aber Klausi sieht nun die
Zeilern mit anderen Augen, und irgendwann hat er ihr
heimlich einen Schuhkarton mit Tomaten und Bohnen vor die
Tür gestellt.
Wenig später fehlt eines Montagmorgens der Schulleiter
beim Fahnenappell. "Seid bereit immer
bereit!" grüßen die Schüler, nur wenige tragen
keine blauen Halstücher. Dann geht das Gerücht um:
"Der ist weggemacht! Nach'm Westen!"
Es wird schick, keine blauen Halstücher mehr zu tragen.
Bald gibt es zwei Gruppen in der Dorfjugend die
eine, die weiter zum Konfirmandenunterricht geht, die
andere, die sich auf die Jugendweihe vorbereitet. Im
Winter tragen beide Gruppen heftige Schneeballschlachten
aus, der Widerborst wird schließlich in den
Schulunterricht getragen.
Künanz weigert sich eines
Tages, ein Gedicht von Heinrich Heine vorzutragen, das er
"gottlos" nennt. Es gibt Tränen und einen
Kinderaufstand. Eine Delegation rennt aus dem
Schulgebäude, es soll Beschwerde geführt werden beim
Dorfpastor. Klausi ist dabei Künanz ist sein
Freund, und seit geraumer Zeit gehört er auch zu den
Konfirmanden.
Der Pastor macht nicht auf. Durchs Fenster informieren
ihn die aufgeregten Jungen und Mädchen über den
"Gottesfrevel", der Geistliche wird blass und
schließt das Fenster. Am nächsten Sonntagmorgen ist die
Kanzel leer am Nachmittag weiß es jeder im Dorf:
Der Pastor ist weggemacht.
Eines Tages sind die
wilden Tiere im Dorf, ein Löwe, ein Elefant, ein
Dromedar. Im Luna-Park wächst das Viermastzelt des
Zirkus MOCK, und Klausi schwänzt den Unterricht. Mit
einer vom Vater geklauten alten Hose schmeichelt er sich
bei den Stalljungen ein und darf die Tiere füttern. Die
Meldung über das tagelange Schwänzen bei den Eltern
durch den Klassenlehrer verhindert den Aufbruch in die
große, weite Welt. Der erfolgt zwei Jahre später, als
die Familie dem Vater folgend wegmacht,
nach Bremen.
Klausi kannte die Hafenstadt von alten Postkarten, lieber
wäre er nach Hamburg weggemacht, dem "Tor zur
Welt". Aber so lernte er in späteren Jahren
von den Bremern "Die Hamburger haben bloß
das Tor im Wappen, wir haben den Schlüssel dazu!"
Es brauchte seine Zeit, bis der große Klaus den Sinn
begriff, in Stein gehauen über dem Eingang des Bremer
Schütting: "Buten un binnen wagen un
winnen!" das Verständnis von Krämern mit
einem Hang zum finanziellen Risiko und der Erwartung,
dabei schon einen Reibach zu machen. Egal, wie weit
entfernt von der Heimat, egal auch, ob per Brieftaube
oder Satellit.
Es war zehn Uhr morgens in
Weimar als das Foto entstand: Das Ehepaar Schmidt aus
Zimbabwe im Schnee vor Goethe und Schiller auf hohem
Sockel, die Morgensonne kaum sichtbar hinter einem
Dunstschleier ich rieche diese Wintermorgenluft
von Weimar, Braunkohlenrauch aus den Kaminen. Der
vertraute Geruch der Kindheit. Klausi beginnt zu
träumen. ...
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Beim Weihnachtsfest im
Betrieb des Vaters hat er zwei Bücher geschenkt bekommen
mit Fotos von einer Afrika-Safari des Dresdener
Zoo-Direktors: Giraffen, Löwen, Elefanten und mit
Bildern von fremden Menschen, Massai in Kenia.
Die Reste von "TIMUR" bauen am Waldsee ein
Floß, Unterstände aus Reisig und Laub werden zu
afrikanischen Hütten. Klausi trifft Künanz im Busch.
"Dr. Livingstone I presume?" sehr
falsch ausgesprochen, Englisch steht nicht auf dem
Lehrplan der Karl-Liebknecht-Schule, dafür Russisch. Am
Dorfrand gibt es das "Russenlager", eine
abgeschirmte Baracken-Kaserne für Soldaten der
"Roten Armee". Von denen dürfen nur Offiziere
raus. Mit einem machte ich ungute Bekanntschaft.
Vom Erkerfenster unserer
Wohnung gegenüber den Holzbauwerken an der Dresdener
Straße hatte ich in einem der Allee-Bäume ein von Ast
zu Ast hüpfendes Eichhörnchen beobachtet. Dann
passierte alles auf einmal ich hörte einen lauten
Knall und sah das Eichhörnchen auf die Straße stürzen.
Als ich atemlos unten ankam, hielt es ein Mann am Schwanz
mit einer Hand in die Höhe, während er mit der anderen
eine Pistole in sein Gürtel-Holster schob.
Ein russischer Offizier erklärte dem sprachlosen
Schüler: "Gut für die Suppe, ja?"
Wenn wir mit einem
Pionier-Wimpel vorweg das Russenlager besuchen mussten,
gab es dort selten etwas zu Essen, aber in verschwiegenen
Ecken für mutige Pioniere schon mal einen Wodka oder ein
Tütchen "Machorka". Als mein Vater das einmal
mitbekam, nannte er den Tabak verächtlich
"Stalinhäcksel". Nicht mit bekam er, dass ich
mir dafür gelegentlich seine Ulmer-Pfeife auslieh. ...
Aber Klausi musste lernen,
dass es bald keine Friedenspfeifen mehr waren, die wir
heimlich rauchten, dass mehr und mehr verloren ging von
dem, was er bei gemeinsamen TIMUR-Aktionen meinte,
verstanden zu haben: sich um Bedürftige zu kümmern,
egal woher sie kommen.
Dieses Foto stammt aus einem Buch, das mir ein fleißiger
Bernsdorfer Geschichtsforscher vor ein paar Jahren
zuschickte, als Dank für eines meiner Fotos, das bei der
Winterreise 1986/87 entstanden war. Es zeigt den an ein
Hotel angelehnten "Gerichtskretscham". Das Wort
"Kretscham", ist entlehnt aus dem
(rekonstruierten) altsorbischen Wort
"*krcma" = "Schenke, Kneipe,
Krug" und aus der Oberlausitzer Mundart
"Kraatschn". Bezeichnet wurde damit ein
Dorfgasthaus bzw. eine Schänke, die häufig Sitz des mit
der Schankgerechtigkeit bedachten Schultheißen und Ort
des Dorfgerichts war. Sorbisch war zu meiner Schulzeit in
Bernsdorf eine angesehene Kultursprache. In der
Karl-Liebknecht-Schule war das Klassenbuch jedes
Schülers zweisprachig, und auf dem Dorfschild
oben nicht gut zu erkennen war
unter Bernsdorf amtlich dessen sorbischer Name
"Njedzichow" vermerkt.
Es war kein Sorbe, der mir
in dem morschen Fachwerkbau den Horizont weitete
über das hinaus, was ich mir bis dahin
von Karl May, von B. Traven und von Jack London angelesen
hatte. Er kam aus der "Rumänen-Siedlung"
Geflüchteter hinter den Bahngleisen, und er hatte einen
Klumpfuß, der in einem prachtvoll geformten Lederschuh
steckte. Außerdem hatte er ein ziemlich dunkles Gesicht
und viele schwarze Locken.
Ich glaube, ihm waren gerade Stapel alter Zeitungen aus
den Armen gefallen. Ich half ihm, sie über eine
Holzstiege hinauf in den ersten Stock zu tragen. Dort, so
begriff ich rasch, war er dabei, sich eine Werkstatt
einzurichten, eine Schusterwerkstatt. Es gab keinen Strom
und keine Heizung. Ich lernte von ihm, wie zwischen
einfachen Holzgittern festgestopfte Zeitungsknäuel beste
Wärmeisolierung schafften. Ich lernte von ihm, wie toll
eingemachte grüne Tomaten schmeckten. Ich lernte von
ihm, wie sich Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft
prächtig verstehen können. ...
Eines Nachmittags hörten wir von unten das hässliche
Gejohle von jenen Jungs, die noch nie an TIMUR-Aktionen
oder an Friedenspfeifen geglaubt hatten. Sie schafften
es, uns Angst zu machen.
In der mir zugesandten
"Geschichte der Industriegemeinde/-stadt Bernsdorf
(Oberlausitz) von 1945 bis 1990" erfuhr ich, dass
dieser alte Gerichtskretscham aus dem Jahr 1794 in
dem ich als kleiner Junge erstmals eine andere Kultur als
die militärisch-russische kennengelernt hatte
auf Beschluss der Gemeindevertretung
abgerissen worden war, "um das kulturelle Leben
in der Gemeinde Bernsdorf zu verbessern".
Im kalten Wohnhaus Goethes
steht an prominenter Stelle eine Vitrine mit
Handschriften des Dichters. Eine kundige Hand hat ins
Zentrum dieser Vitrine eine Botschaft des
Napoleon-Bewunderers und Italien-Reisenden gerückt, die
zu überprüfen ist:
"... Und wie wir auch in ferne Lande ziehn / da
kommt es her, da kehrt es wieder hin. / Wir wenden uns,
wie auch die Welt entzücke / der Enge zu, die uns allein
beglücke..."
Die Zeiten haben sich
geändert, Herr Geheimrat!
"Der Kellner des
Gasthofes 'Zum Elephanten' in Weimar, Mager, ein
gebildeter Mann, hatte an einem sommerlichen Tage
ziemlich tief im September des Jahres 1816 ein
bewegendes, freudig verwirrendes Erlebnis."
So beginnt Thomas Mann
seinen Roman "Lotte in Weimar".
Der Gasthof ist heute ein superteures Inter-Hotel, und
das Erlebnis zweier Reisender aus Zimbabwe im Winter
1986/87, die zu später Stunde nach stressiger Fahrt
über spiegelglatte Straßen im "Elephanten"
eintreffen ist eher frustrierend: Obwohl das
Keller-Restaurant noch geöffnet und die Küchenbesatzung
noch anwesend ist, wird den Hungrigen ein Mahl
verweigert. Der Kellner versucht verlegen zu erklären,
dass nach Auffassung des Küchen-Kaders die Zubereitung
einer warmen Mahlzeit das Ende der Dienstzeit
überschreiten würde: Es gibt Bockwurst mit Senf und
einigen Scheiben trockenen Brotes. Danach schleppen die
Reisenden ihre Koffer eigenhändig vom Auto ins Hotel.
Der Türsteher, gebeten, behilflich zu sein, hatte
korrekt festgestellt:
"Viel zu gald!"
Ach, lieber Thomas Mann:
"Die Damen standen noch, dem Hause abgekehrt,
bei dem Postwagen, die Niederholung ihres übrigens
bescheidenen Gepäcks zu überwachen, und Mager wartete
den Augenblick ab, wo sie, beruhigt über ihr Eigentum,
sich gegen den Eingang wandten, um ihnen sodann, ganz
Diplomat ... auf dem Bürgersteig entgegenzukommen."
In der winterkalten
Hotelhalle am nächsten Morgen kommt Johann Wolfgang von
Goethes Postulat ins Wanken: Die Enge beglückt nicht
mehr.
Der Freund, der uns abholt, hört sich die sentimentale
Schilderung von der Annäherung an die Heimat an, denkt
nach und sagt:
"Das ist der Charme, den wir zu bieten haben:
Stillstand! Unsere Dörfer, unsere Städte
Stillstand! Ihr kommt her und findet ein verwittertes
Museum, aber die Menschen, die darin leben müssen,
wollen raus!"
Später lernen wir s e i n e DDR-Nische kennen: Ein
umgebautes Bauernhaus mit Apfelbaum-Garten, Kamin innen
und außen, ein Swimmingpool, ein Maler-Atelier. Dorthin
zieht der Facharzt sich zurück, wenn er von der Arbeit
kommt. An diesem Nachmittag kommt seine Frau zum letzten
Mal von ihrer Arbeit heim, vom Lehramt an der
Universität sie ist suspendiert. Beide haben
einen Antrag zur Ausreise aus der DDR gestellt, wollen
ganz von vorne anfangen warum?
"Will ich mit meiner Forschung weiterkommen, brauche
ich internationale Kontakte mit Kollegen, auch bei
Fachkonferenzen im Westen. Ich darf nicht reisen
ich bin nicht in der Partei."
Der Freund zeigt auf die Wände voller Bilder. "Ich
will nach Paris fahren können, den Louvre sehen, nach
Florenz ich verkümmere hier. Mein Gott, ich will
noch etwas sehen von der Welt!"
Es ist schon Nacht als wir
Richtung Magdeburg fahren. Der Vollmond schiebt sich
über den Horizont und beleuchtet eine bizarre Schnee-
und Eislandschaft, nur Kerzenlicht hinter den Fenstern in
den Dörfern Stromsperre in weiten Teilen der DDR.
In drei Jahrzehnten haben es die sozialistischen
Staatsplaner nicht vermocht, die Abhängigkeit von dem
einen Energieträger zu verringern.
Im Autoradio hören wir Berichte von der
Braunkohlenfront, Soldaten der Volksarmee sind im
Einsatz, um die gefrorene Kohle von den Halden auf
Eisenbahnwaggons zu laden.
Kurz vor Mitternacht
treffen wir in Helmstedt ein, erste Anlaufstelle für
Bürger der DDR, die knapp drei Jahrzehnte nach
dem Aufbruch der Schmidts aus Bernsdorf noch immer
wegmachen.
Zwei Jahre später werden
wir zusammen mit unserer Tochter Verwandte besuchen, die
aus der Bundesrepublik wegmachten als Auswanderer
nach Australien, auf der Flucht vor politischer und
militärischer Unsicherheit in Mitteleuropa!
In der Sylvesternacht 1988/89 hören die Schmidts und
ihre Verwandten bei einer Live-Fernsehübertragung vor
dem Rathaus zu Brisbane als erstes Lied im neuen Jahr
John Lennons' "Imagine".
In diesem Jahr 1989
verändert sich die Welt in Europa unvorstellbar. In der
Nacht vom 9. zum 10. November erlebt die Tochter in
Berlin die Öffnung der Mauer. Ihren Eltern schickt sie
in einem Brief nach Harare ein selbst herausgehauenes,
kleines Mauerstück. Am Anfang ihres Architekturstudiums
stand der Abbruch einer Mauer und die Lektion: Um
etwas neues zu bauen, müssen oft alte Mauern eingerissen
werden.
|